Urbanität und Öffentlichkeit

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Aus der Reihe: Theologische Studien NF #5
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II Urbanität und Religiosität

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Wie relevant ist Kirche in meinem Leben?

Gisa Klönne

Wie relevant ist Kirche in meinem Leben? Ein spannendes Thema, ein Thema mit vielen Facetten.

Zunächst einmal gilt es ja zu klären, was genau eigentlich mit Kirche gemeint ist. Das klassische Gemeindeleben? Die evangelische Kirche? Der Glaube per se? Und überhaupt – Glauben: Wie genau hängen Kirche, Glauben und Gott zusammen? Kann man ohne Kirche an Gott glauben? Oder umgekehrt: Führt der Glaube an Gott direkt in die Kirche? Nicht unbedingt, jedenfalls nicht mehr heutzutage. Das Angebot in einer weltoffenen, multikulturellen Gesellschaft ist gross, die christliche Kirche ist längst nicht mehr der alleinige Hort einer Spiritualität. Oft bastelt man sich einen Glauben nach persönlichem Belieben: Ein bisschen Jesus, ein bisschen Buddha, Tarot, Meditation und Schamanismus … Jeder nach seiner Fasson. Oder, um das mit einem viel zitierten Bonmot auszudrücken: All das ist ein ziemlich weites Feld.

Und eines, das eigentlich nur im je eigenen Leben und Denken abgeschritten werden kann. Also gebe ich keine allgemeinen Antworten, sondern möglichst persönliche. Das fällt mir insofern leicht, als Kirche in meinem Leben qua Geburt eine wichtige Rolle spielt. Schliesslich bin ich die Enkelin eines evangelischen Pfarrers aus Mecklenburg. Auch mehrere Onkel, Grossonkel und ein Cousin aus meiner weitläufigen Grossfamilie sind Pfarrer. Keines unserer Familientreffen, zu dem wir regelmässig aus allen Teilen Deutschlands nach Mecklenburg reisen, vergeht ohne den abschliessenden gemeinsamen Gottesdienst in einer der Kirchen, in denen mein Grossvater einst predigte. Das war und ist so, so lange ich denken kann. Auch Rituale gehören dazu. Musik zum Beispiel. Ein Familientag, an dem wir nicht zusammen ein paar Kirchenlied-Klassiker wie «Geh aus mein Herz und suche Freud» singen, ist für mich schlicht nicht denkbar.

Kirche und Familie sind in meinem Leben also beinahe untrennbar miteinander verbunden, und insofern ist Kirche (wohlgemerkt: die evangelische) für mich durchaus sehr relevant und immer ein Stück Zuhause. Niemals habe ich auch nur eine Sekunde lang ernsthaft überlegt, aus meiner Kirche auszutreten. (Ich vermute jedoch, wenn ich katholisch wäre, wäre dies anders, denn als Frau würde ich mich dort recht unwohl fühlen.)

Die Kirche, zu deren Gemeinde ich heute gehöre, heisst Lutherkirche und befindet sich am Ende der Strasse in Köln, in der ich seit einigen Jahren lebe. Das ist jedoch reiner Zufall. Als wir dort hinzogen, haben wir bei der Beurteilung von Lage und Viertel ehrlich gesagt nicht auf die Kirche geachtet. Doch als ich sie dann entdeckte, habe ich mich gefreut. Hohe Kastanien flankieren sie und mit |36| ihrer roten Backsteinfassade erinnert sie mich an die mecklenburgischen Kirchen meiner Kindheit. Ausserdem ist es in Köln durchaus erwähnenswert, wenn man neben einer Lutherkirche lebt, denn die meisten Kirchen im Schatten des Doms sind nun einmal katholisch.

Der Sonntagsgottesdienst in meiner Kirche beginnt erst um 11 Uhr. Das ist ein Tribut an die Innenstadtlage mit den von ihren anstrengenden Alltagen und Samstagnacht-Aktivitäten erholungsbedürftigen und also lange ausschlafenden Gemeindemitgliedern. Es ist ein anheimelndes, fast dörfliches Gefühl, wenn die Kirchenglocken am Sonntag zum Gottesdienst rufen. Ich freue mich immer, wenn ich sie höre. Während ich mit meinem Mann noch beim Frühstück im Garten sitze, zum Beispiel. Oder wenn ich schon wieder am Schreibtisch bin, weil ein Buch unbedingt fertiggeschrieben werden muss und also auch Sonntagsarbeit erfordert. Oder wenn ich auf dem Weg zu einer Verabredung mit Familie oder Freunden bin. Oder wenn ich sonst irgendetwas erledige, für das unter der Woche nie Zeit bleibt.

Ich bin keine Gottesdienstgängerin. Nein, man kann das ruhig drastischer ausdrücken: Was das Gemeindeleben angeht, bin ich eine ziemliche Niete. Es sei denn, man rechnet mir meinen alljährlichen Christbaumkauf auf dem Weihnachtsmarkt neben meiner Kirche als Pluspunkt an. Oder den spätabendlichen Heiligabend-Christmettenbesuch.

Die Kirche, jaja. Schön dass es sie gibt, aber hingehen? Es ist sicher keine Überraschung, wenn ich gestehe, dass ich nicht das einzige Mitglied meiner Gemeinde bin, das abgesehen von Weihnachten und eventuell Ostern dem Gottesdienst fern bleibt, wenn dort nicht gerade eine Taufe, Konfirmation, Hochzeit oder Beerdigung stattfindet, von der man selbst ganz persönlich betroffen ist. Nein, stimmt nicht ganz, da ich in einem Stadtteil von Köln lebe, in dem seit einigen Jahren eine Autofrei-Wohnen-Siedlung und ein angrenzendes Neubaugebiet entstanden sind, die als Wohnlage für viele junge Familien attraktiv sind, verzeichnet auch meine Lutherkirche eine stetig wachsende Zahl von Gemeindemitgliedern und aktiven Kirchgängern: Eben jene junge Familien nämlich, die ihren Kindern eine Orientierung geben wollen, einen Rahmen, zu dem Gott und die christlichen Werte und Feste ganz selbstverständlich gehören.

Die Gemeinde, zu der ich gehöre, wächst also. Der Gottesdienst ist lebendig, an der jungen Klientel orientiert. Dass es dennoch einen nicht unbeträchtlichen Anteil von Mitgliedern wie mich gibt, die zwar glauben, aber sonntagmorgens nicht in die Kirche streben, hat viele, oft ganz individuelle Gründe. Hätte ich zum Beispiel Kinder, würde sich meine Kirchgangfrequenz vermutlich deutlich erhöhen.

Es ist wohl auch einfach so, dass ein regelmässiger sonntäglicher Kirchgang nicht zu den mannigfaltigen, teils realen, teils virtuellen Anforderungen und Beziehungen |37| einer global vernetzten, immer schnelllebigeren Gesellschaft passt. Einer Gesellschaft, in der es einen festen Feierabend kaum noch gibt, weil man immer erreichbar sein, immer so vieles auf einmal erledigen muss. Am Sonntag braucht man dann um Himmels Willen nicht noch mehr Input oder Kommunikation (was ja früher durchaus auch eine Funktion des Kirchgangs war) sondern schlicht und einfach endlich Ruhe.

Weil das nun einmal so ist, hat sich meine Kirche noch einen Zweitnamen gegeben. Kulturkirche lautet der und das bedeutet konkret: Abends gibt es auf einer Bühne vor dem Altar öfter mal ein Rock- oder Jazzkonzert. Oder eine Literaturlesung. Oder Kabarett – Kölsch-Ausschank jeweils inklusive. In den schön bemalten und mit Bibelsprüchen geschmückten Gewölben hängt deshalb eine Reihe imposanter Scheinwerfer, Lautsprecherboxen und Projektoren. Wenn Kultur geboten wird, erwachen diese zum Leben und dann sind die nicht eben bequemen Kirchenbänke oft bis zum letzten Platz besetzt. Als wäre es Weihnachten. Nur dass die Besucher für Kulturdarbietungen in der Kirche sogar ohne zu murren Eintritt bezahlen (der die durchschnittliche Spende in den Klingelbeutel während einer Kollekte – so vermute ich – meist recht deutlich übersteigt).

Mit Glauben hat das zunächst einmal wenig zu tun. Auch nicht mit Bekehrung. Zu den Kulturveranstaltungen in der Lutherkirche kommen auch Besucher, die nicht evangelisch sind und die mit Kirche überhaupt nichts zu tun haben wollen. Doch mit den Eintrittsgeldern finanziert meine Gemeinde nicht nur die Künstlergagen, sondern zum Teil auch ihre sonst herzlich unlukrative Senioren- und Jugend- und Seelsorgearbeit, womöglich sogar die blosse Existenz der Pfarrstellen und die Instandhaltung von Kirche und Gemeinderäumen. Das ist ziemlich clever. Andere evangelische Kirchen in Köln mussten bereits schliessen oder wurden umgewidmet. Eine ist heute ein Hotel, eine andere verkleinert sich gerade und verkauft Teile ihres Geländes als Baugrund …

Würde mir etwas fehlen, gäbe es keine Kultur in meiner Kirche mehr, und sonntags kein Glockengeläut und keine Gottesdienste? Erst einmal nicht. Womöglich würde ich das nicht einmal sofort bemerken. Genauso wenig wie viele andere Gemeindemitglieder. Bis auf einmal etwas geschieht, das den Alltag durcheinander rüttelt und erschüttert, so dass Kirche plötzlich sehr, sehr wichtig wird – oder, präzise gesagt, das, was in einer Kirche eben auch stattfindet: Glauben. Beistand. Sinnsuche. Also genau jener herzlich unlukrative Seelsorgepart.

In meinen Kriminalromanen lote ich qua Beruf genau diese seelischen Untiefen und Erschütterungen aus. Mord und Tod – die in meinem Genre nun einmal im Zentrum stehen – konfrontieren meine Figuren immer auch mit der eigenen Sterblichkeit (die sie zuvor, so wie wir alle, so gut es geht, verdrängt haben). Von da aus sind die ganz grossen Fragen dann nicht mehr weit, auch wenn sie natürlich |38| auf ganz unterschiedliche Weise und nicht immer christlich beantwortet werden: Was ist der Sinn des Lebens? Was kommt nach dem Tod? Gibt es einen Gott – und wenn ja, warum lässt er das Böse zu?

Insofern könnte man sogar sagen, dass die Kirche – also vielmehr das, wofür sie steht – in meinen Kriminalromanen immer eine gewisse Rolle spielt. In meinem vierten Roman, Farben der Schuld, geht es sogar ganz explizit um einen Mord im (katholischen) Kirchenmilieu. Und meine Hauptfigur, Kommissarin Judith Krieger, die mit Kirche eigentlich gar nichts zu tun haben will, ist in diesem Roman von einem Einsatz so traumatisiert, dass sie sich an einen Polizeiseelsorger wendet. Eine Situation, die absolut realistisch ist. Wenn man gar nicht mehr weiter weiss, wird Kirche relevant.

Manchmal, nein oft, denke ich, dass das ziemlich unfair ist. Die Kirche als eine Art Servicestation, auf Abruf bereit, wenn man sie gerade nötig hat. Sie fordert nichts dafür, sondern ist einfach da. Wie die Kirche am Ende meiner Strasse eben. Ich kann hingehen, muss das aber nicht. So wie man als Kind im Idealfall zu Mutter und Vater flüchten kann, wenn etwas schief gegangen ist. Die Relevanz von Kirche bestünde so gesehen heutzutage also in ihrem blossen Vorhandensein. Eine Convenience-Kirche. Mit einem Standby-Pfarrer darin und einem Standby-Gott, die irgendwie immer auf mich zu warten scheinen.

 

Ich weiss keine Alternative dazu. Ich könnte nicht einmal sagen, was sich verändern müsste, damit aus mir eine aktive Kirchgängerin würde. Einen Aspekt der Bedeutung von Kirche in meinem Leben möchte ich aber unbedingt noch erwähnen:

Kirche ist nicht nur da. Sie hat auch den Mut auf dem zu beharren, was sie ausmacht: Auf christlichen Werten nämlich. Und zwar (im Idealfall) gerade auch dann, wenn es schwierig wird – egal ob politisch oder persönlich. Ich habe das zu DDR-Zeiten selbst einige Male miterlebt. Widerstand von der Kanzel aus. Ähnlich muss es im Nationalsozialismus gewesen sein, wenn sich Angehörige der Bekennenden Kirche nicht einschüchtern liessen. Wie schwer und gefährlich das war, habe ich in meinem Roman Das Lied der Stare nach dem Frost ausgelotet, in dem es um die Geschichte einer mecklenburgischen Pfarrersfamilie im Dritten Reich geht – um das Ringen um eine Haltung zwischen Anpassung und Widerstand. Es war mir ein grosses Bedürfnis, diesen Roman zu schreiben und dabei auch ein Stück meiner eigenen Familiengeschichte und der deutschen Vergangenheit zu erforschen. Ich habe bei der Auseinandersetzung mit der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen sehr viel über christliche Werte im besten Sinne erfahren. Und auch darüber, dass die evangelische Kirche nach 1945 durchaus viel Grund zur Reue hatte – und sich seitdem von einer den Staat und seine Herrscher eher hofierenden hin zu einer diese eher kritisierenden, unabhängigen Instanz entwickelt hat. |39|

Hier stehe ich und kann nicht anders, ich beharre auf meinen Werten und meinem Gott und nehme mir deshalb auch das Recht heraus, auszusprechen, wenn etwas falsch läuft. Diese Haltung im lutherschen Sinne ist, finde ich, was Kirche relevant macht. Und das ist weit mehr als Convenience im Standby-Betrieb. |40|

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Zu Urbanität und Religiosität

Irene Gysel

Vom Dorf in die Stadt

Es ist ein magischer Moment, wenn man aus einem kleineren Dorf kommend in einer grossen Stadt eine Wohnung beziehen kann.

Im Dorf wussten viele Menschen sehr genau, wer man war, und sollte man es selber für einmal vergessen haben, wurde es einem sofort wieder klar gemacht. Die Nachbarn, die SchulkollegInnen, die Mitglieder der Kirchgemeinde oder irgendeines Vereins, zu dem man gehörte, wussten es genau und sie spiegelten es immer wieder zurück. Das gab Sicherheit und Identität und setzte gleichzeitig Grenzen.

Und dann taucht man ein in die grosse Anonymität einer Stadt. Niemand kennt einen. Man bestimmt ganz allein, was man mit seiner Freizeit anfängt. Wohin gehe ich? Wo esse ich? Wen treffe ich an? Es gibt tausend Möglichkeiten. Alles ist da. Ich kann wählen. Niemand wird mich dabei beobachten und kontrollieren.

Ein ungeheures Freiheitsgefühl kann entstehen. Ich bestimme, wer ich bin. Ich erfinde mich neu, kann mich aber auch verlieren, denn da gibt es auch die Slums, die Unterwelten, die Banden. Wer findet mich dann in diesem Dschungel wieder, sagt mir wohin ich gehöre und wer ich bin?

Gewisse Indianerstämme schickten ihre jungen Männer in der Adoleszenz allein hinaus in die Wildnis, damit sie dort ihre Identität finden konnten. Wenn sie überlebten, kehrten sie als gefestigte Persönlichkeiten zurück. Wir schicken unsere jungen Leute in die Wildnis der Städte. Vielleicht nur in eine grössere Schweizer Stadt, vielleicht aber auch für eine Firma nach New York, Shanghai, Hongkong, Tokio.

Medien

In der Stadt ist alles da. Die ganze Vielfalt, die eine Gesellschaft zu bieten hat, die Güter, das Wissen. Man kann sich frei bewegen und hat alles zur Verfügung. Man kann anonym bleiben oder sich irgendwo anschliessen und etwas von sich preisgeben, aber nur so viel, wie man will.

Dazu gibt es heute eine Parallele. Ein Ort, der ein ungeheures Wissen zur Verfügung stellt, der sowohl Anonymität als auch Möglichkeiten für Kontakte anbietet. Es ist Bildung zu haben, aber auch Unterhaltung und Ablenkung: Das Internet, das World Wide Web. Wenn wir heute von Urbanität reden, gehört diese neue Welt dazu. Neu ist, dass sich diese Urbanität nicht auf Städte beschränkt, |42| sondern überall zu haben ist, auch im hintersten Winkel auf dem Land, Urbanität für jedermann. Hier trifft sich heute die Gesellschaft. Schon wenn ich eine eigene Homepage eröffne, mische ich mich unter die grosse Masse. Und ich muss dann überlegen, wie ich mich präsentiere, wer ich sein will. Vielleicht gebe ich etwas preis von mir, aber nur gerade so viel, wie ich will.

Noch deutlicher wird die totale Urbanität bei den Social Media. Man sucht sich Freunde mittels Facebook und verabredet sich dort mit ihnen. Junge Menschen schaffen sich eine eigene Welt im Second Life, erfinden sich neu als Avatar. Sie treten mit einer Wunsch-Persönlichkeit unter einem neuen Namen auf als Held, Superman, dunkler Gangster, als Karrierefrau oder Prinzessin. Und dann leben sie ein Stück weit in dieser Welt. Im Netlog, wie man kürzlich anlässlich eines Mordfalles im Tessin lesen konnte, treffen sich gemäss Presse 68 Millionen junge Menschen aus aller Welt und kommunizieren miteinander. Sie können sich dort ebenfalls verlieren. Verlieren in ihren Träumen, oder aber, weil sie zu viel von sich preisgeben, oder noch schlimmer, weil sie dort gemobbt und verunglimpft werden und weil dort das uralte Recht des Stärkeren gilt.

Es gab die Wildnis der Indianer und es gibt die Wildnis unserer Städte. Heute gibt es zusätzlich die Wildnis des Internet.

Grundfrage

Wer bin ich, wer möchte ich sein, wo bin ich stark, wo habe ich Angst? Das sind die alten, immer gleichen existenziellen Grundfragen. Heute sieht es beinahe so aus, als könnten wir sie ein Stück weit neu beantworten. Wir können uns neu erfinden. Wir können uns eine Welt erschaffen und uns darin frei bewegen, mit anderen Menschen oder besser mit anderen Wunschpersonen kommunizieren. Und wir können dort auch Gewalt ausüben. Wir können uns frei fühlen, kreativ werden, oder wir können in Fallen geraten und erleben, dass wir auch hier oder gerade hier nicht bestehen können.

Zu wem gehöre ich? Wer hat ein Interesse an mir? Kann ich mein Leben selber gestalten? Wer sonst gestaltet mit? Ist da ein Gott? Oder eine andere Dimension?

Vielleicht gab es nie eine Zeit, in der die existenziellen Sehnsüchte, Hoffnungen, Ängste der Menschen so ungefiltert und so radikal schonungslos offen zutage traten und sichtbar wurden wie heute. Privates wird öffentlich. Vom Fernsehen heisst es, es sei wie eine Lupe, die alles zeige, was sonst nicht so genau gesehen werde. Dann ist das Internet wie ein Mikroskop. |43|

Ein reformiertes Thema

Das Suchen nach der eigenen Identität ist auch ein grosses reformiertes Thema. Selbsterkenntnis war ein Schlagwort. Ich bin ihm bei Zwingli begegnet. Und dort immer zusammen mit der Gotteserkenntnis. Ist Selbsterkenntnis im evangelischen Verständnis untrennbar mit Gotteserkenntnis verbunden? Ich glaube, dass das sich-selber-Sehen eine der grössten Herausforderungen der heutigen Zeit ist. Eigentlich ist es uns Menschen ja nicht von Natur aus gegeben, uns selbst zuschauen zu können. Das ist erst durch das Filmen möglich geworden und kann jemanden, der sich zum ersten Mal zuschauen kann, wenn er oder sie sich unbeobachtet fühlt, sehr verunsichern. Sich sehen, wie man ist, kann ein erster Schritt sein zum sich-Erkennen. Es wird dann wichtig, sich mit gnädigen Augen anzuschauen und sich so zu akzeptieren, wie man eben ist. Mit gnädigen Augen, oder mit den Augen eines gnädigen Gottes, eines Gottes, der die Wahrheit kennt und Barmherzigkeit übt. Diesen Gott gilt es aber erst einmal zu finden. Oder mindestens eine Ahnung von ihm/ihr zu bekommen. Diese Ahnung allein kann Kraft und Mut, verleihen, sich selber zu erkennen. Jedenfalls ermöglicht Gotteserkenntnis Selbsterkenntnis und nicht umgekehrt.

Wie und wo aber finden wir Gotteserkenntnis? Wäre das nicht der usp, das Alleinstellungsmerkmal der Kirche? Finden wir sie, wie neu postuliert wird, eher in der urbanen Kirche, wo man unbeobachtet suchen kann, wo erste Schritte möglich sind, wo man Fehler machen darf, ohne gleich an den Pranger gestellt zu werden?

Stadt und Identität

Jede Stadt hat selbst eine eigene Identität. Da sind zuerst einmal die Gebäude, die Strassen und Gassen, die Plätze, die ihr ein Gesicht geben. Dann das, was man darin findet: Geschäfte und Restaurants. In jeder Stadt isst man anders, jede hat ihre Bars, Kinos, ihr Nachtleben, ihre Sportstadien, Ausstellungen, Museen und nicht zuletzt ihre Kirchen. Zur Urbanität gehört, dass man seine Orte auswählen kann und die Zeitpunkte, da man sie aufsucht und damit an der Identität der Stadt teilhat.

Die Stadt ist ein riesengrosser Treffpunkt. In der Stadt treffen sich Menschen immer noch oder heute gerade erst recht wieder real. Die elektronischen Medien lösen nämlich die reale Welt nicht einfach ab. Das Bedürfnis nach lebendigen anderen besteht nach wie vor, aber vielleicht anders. Die elektronischen Medien bieten den Einstieg dafür.

Man schaut die Stadt zuerst im Internet an. Das ersetzt aber das Hingehen eben nicht.

Man sucht sich einen Partner mit »Parship«, treffen muss man sich dann aber real. |44|

Man trifft sich zum Besäufnis real. Wo es stattfindet, erfährt man aber auf Facebook, oder über SMS. Man schaut das Fussballspiel nicht allein an, zu Hause vor dem Bildschirm, sondern im Public Viewing.

Wer keinen Facebook-Account besitzt, hat zu vielen Gruppen keinen Zugang. Das gilt vor allem für Jugendliche, die ein grosses Bedürfnis haben, real dazuzugehören. Auch unerwartete Erstkontakte laufen heute über das Internet. Das österreichische Zisterzienserkloster Heiligenkreuz vermeldete als eines der wenigen einen Boom von Anmeldungen. Ausnahmslos alle Kandidaten hatten den Erstkontakt über die Homepage des Klosters gefunden.

Die realen Orte und das reale Sich-Treffen sind nicht zu ersetzen. Aber man findet sie und sich anders.

Eine Vielfalt realer Orte gehören zur Urbanität. Aber die Wahl trifft man oft im Internet. Die irreale und die reale Urbanität ergänzen sich. Die realen Orte werden daher in Zukunft nicht aufgegeben, wie man glaubte, im Gegenteil, sie werden wichtiger. Es braucht sie, da die virtuelle Kommunikation nach realem Sich-Treffen ruft. Nach sinnlichem Wahrnehmen, Sehen, Hören, Anfassen. Auch Orte wollen sinnlich wahrgenommen werden. Die anfassbaren Kirchen aus Stein und Holz, die erfahrbaren Räume mit ihren Klängen und Gerüchen, mit ihrer Atmosphäre sind Orte der Identität. Aber sie werden oft über die elektronische Urbanität gefunden. Dass dann eine Kirche auf ihrer Homepage nur gerade touristisch dargestellt wird, müsste Kirchenvertretern nicht genügen. Hier muss kommuniziert werden, dass es um mehr geht.

Die Verantwortlichen im Kloster Heiligenkreuz berichten, dass manche der neu Eingetretenen erzählt hätten, wie sie mehrmals die Website des Klosters besucht hatten, bis sie den Mut fanden, real hinzugehen.

In nächster Zeit wird darüber diskutiert werden, was mit den nicht mehr benötigten Kirchen in den Städten geschehen soll. Geben wir acht, dass wir sie nicht leichtsinnig preisgeben, sie sind Schätze, deren Wert wir noch nicht bis in alle Konsequenzen hinein wahrgenommen haben. Orte können Identität haben und Identität vermitteln.

Wo es um Identität geht, wo es um Selbsterkenntnis geht, um die tiefsten Seins-Sehnsüchte der Menschen, hat die Kirche vom Evangelium her eine Aufgabe und darf nicht durch Abwesenheit glänzen. Sie muss wissen, was im Gange ist. Das heisst nun eben nicht, dass sie selber einsteigen soll in alle Trends. Gerade durch meine Arbeit als Fernsehredaktorin bin ich allen Events gegenüber skeptisch geworden, allem was Showcharakter hat, allem was anbiedernd wirkt, bei dem die Kirche mithalten will, auch dabei sein will. Man merkt dann, dass es ihr um sich selbst geht und ist verstimmt.

Es soll ihr um die Menschen gehen und um das Evangelium oder umgekehrt, um das Evangelium und um die Menschen. Um deren Wohl. Wenn die Kirche |45| den Menschen bei ihrer Selbstfindung helfen will, wenn sie ihnen Selbsterkenntnis ermöglichen will, muss sie ihnen einen Weg zur Gotteserkenntnis anbieten.

 

Städte waren immer wichtig für das Christentum. Paulus predigte in den Städten. Er ging von Stadt zu Stadt. Die Reformation breitete sich über die Städte aus. Hier hatten die Menschen die Möglichkeit, zu neuer Identität zu finden.

In diesen Sommerferien hatte ich Gelegenheit, einige grosse Städte in China zu besuchen und einen Einblick zu bekommen, wie dort Christentum neu erwachen kann. Ich konnte zum Beispiel in Nanjing einen evangelischen Gottesdienst besuchen. In einer Kirche, die bei 37 Grad nur durch Ventilatoren etwas gekühlt wurde, sassen 1000 Menschen, eng nebeneinander, wissbegierig und konzentriert bis zum Schluss. Die Predigt allein dauerte 70 Minuten. Da in jener Kirche regelmässig nicht alle Platz finden, hat man im Nebenhaus Räume zu Kapellen umgebaut, mit klapprigen Stühlen und uralten Bänken und überträgt die Predigt per Video dorthin. In diesem Nebenhaus nahmen weitere 500 Personen am Gottesdienst teil, dies jede Woche dreimal am Samstag, dreimal Sonntag und an zwei Abenden während der Woche.

Man mag nun rätseln über die Gründe dieses plötzlichen Aufbruchs. Was ich erlebt habe war eine Stimmung der Erwartung und der Freude. Die Menschen in China haben in den letzten 100 Jahren mehrmals ihre Identität verloren wie kein anderes Volk und sie suchen eine neue. Wenn wir über urbane Religiosität reden, sehe ich dort heute einen Brennpunkt. Etwas Neues könnte entstehen. Urbanität kann helfen, dass Menschen sich freier fühlen, Neues lernen und erfahren können.

Menschen wollen wissen wer sie sind. Orte können Identität geben. Kirchen könnten auch bei uns neu solche Orte werden. |46|