Theologie der Caritas

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Systematisch-theologische Grundlagen und Perspektiven

Die Liebe als Freundschaft des Menschen mit Gott

Eberhard Schockenhoff

Der Traktat über die Liebe, mit dem Thomas in der Summa theologiae die Vollendung seines ganzen Tugendkanons erreicht, setzt ein mit dem Grundthema, das der ganzen thomanischen caritas-Lehre ihr eigentümliches Gepräge und ihre kühne Originalität gibt. Thomas fragt danach, ob die Liebe des Menschen zu Gott, die dritte und höchste der theologischen Tugenden, im strikten Sinne des Wortes eine amicitia, Freundschaft des geschaffenen Menschen mit dem unendlichen Gott ist. Kein mittelalterlicher Theologe vor ihm hat es gewagt, den Freundschaftsgedanken aus der aristotelischen Ethik in solcher Unmittelbarkeit und gedanklicher Konsequenz zur spekulativen Analyse der Gottesliebe heranzuziehen, wie Thomas es versucht hat, seit er als junger Magister Sententiarum zum ersten Mal eigenständig das Herzstück der ganzen Tugendlehre bearbeitet.1 Weder der Lombarde noch einer seiner Kommentatoren hat dies getan; noch Thomas’ Lehrer Albert der Große folgt ihrem Beispiel und redet von der caritas, ohne sie als Freundschaft mit Gott in den Blick zu nehmen.

Thomas selbst verrät die Scheu des Denkens, den Menschen in eine so enge und vertraut-intime Verbindung mit dem alle natürlichen Grenzen radikal übersteigenden unendlichen Gott zu bringen. Die auffallend häufige Beifügung von Wendungen wie aliqua und quaedam zu den seinen ganzen Gedankengang tragenden Haupttermini, die sich auch in dessen Endfassung (II-II 23, 1) noch findet und sprachliche Holprigkeiten bewusst in Kauf nimmt, zeigt, dass Thomas sich der Grenze bewusst bleibt, die jedem theologischen Verstehen gezogen ist. Hinter den unscheinbaren, oftmals rein technisch im Sinne einer Einschränkung gebrauchten Partikeln verbirgt sich der sprachliche Widerhall einer tiefgreifenden Umformung des aristotelischen Konzeptes, deren Notwendigkeit Thomas immer deutlicher zum Bewusstsein kommt, je länger er mit seiner Hilfe das Geheimnis der Berufung des Menschen zur Gemeinsamkeit des göttlichen Lebens zu erfassen versucht. Die Texte aus den einzelnen Schaffensperioden geben die geistige Wachstumsgeschichte einer Idee wieder, die Thomas von Anfang an vor Augen steht, die er aber – und das macht die Besonderheit der Rezeption des aristotelischen Freundschaftsbegriffes im Rahmen der caritas-Theorie aus – in dem Maß immer schärfer in ihrer Unvergleichbarkeit und Einzigartigkeit erkennt, in dem sie sich in den Vordergrund seiner theologischen Analyse der Gottesliebe drängt. Der erste Artikel der quaestio 23 in der Secunda Secundae ist der Text im ganzen thomanischen Werk, der im kürzesten gedanklichen Anlauf mit der Freundschaftsvorstellung einsetzt und zugleich die jede Analogie zu menschlichen Freundschaftsbeziehungen durchkreuzende Besonderheit der Gottesfreundschaft in der schärfsten begrifflichen Präzision in den Blick nimmt.

1. Caritas und amicitia

Am deutlichsten wird dies in einem Vergleich des Anfangs- und des Endpunktes der thomanischen caritas-Reflexion, wie sie uns in den beiden Stellen 3 Sent. d. 27 q. 2 a. 1 und II-II 23, 1 entgegentritt. Im Sentenzenkommentar entwickelt Thomas den Freundschaftsgedanken aus einer breit angelegten Auffächerung aller Formen der Liebe. Die amicitia erscheint ihm in diesem Zusammenhang als die vollkommenste Verwirklichungsgestalt des amor, die all dessen Vollzugsweisen in sich birgt. Sie umfasst sowohl die Sehnsucht nach dem Freund als auch das ihm entgegengebrachte Wohlwollen und die Bereitschaft, ihm Gutes zu tun; vor allem aber äußert sie sich im gemeinsamen Leben des wechselseitigen Austausches der Freunde und im Bewusstsein ihrer Freundschaft. Dadurch, dass sie auf einer freien Entscheidung der Freunde füreinander beruht, unterscheidet sich die amicitia von der leidenschaftlichen Liebe; als spezifische Elemente der Freundschaft, die das zugrunde liegende Konzept des amor näher qualifizieren, zählt Thomas in lockerem Anschluss an Aristoteles so erstens die Gegenseitigkeit der freundschaftlichen Liebesbeziehung, zweites das gemeinsame Wissen um sie und drittens die von beiden Freunden eingebrachte freie Wahl des anderen auf.2 Unter den so definierten Begriff der Freundschaft fällt für ihn auch die Gottesliebe, durch die sich Gott und Mensch gegenseitig lieben und dem societatem habemus ad invicem von Joh 1,7 gemäß eine wechselseitige Lebensgemeinschaft bilden.3 Worauf eine solche Gemeinsamkeit des Lebens zwischen Gott und Mensch sich gründet und wie sie, von Aristoteles allenfalls der mythischen Redeweise zugestanden, aber nicht in strenger philosophischer Denkbarkeit erreicht,4 überhaupt möglich ist, dem widmet Thomas im Sentenzenkommentar zwar einen kurzen Einwand und eine ebenso knappe Antwort,5 aber als eigenständige gedankliche Problematik, die aus der Verwendung des Freundschaftsgedankens in der caritas-Lehre erwächst, ist die Frage noch nicht erkannt. Die Gottesliebe ist einfachhin Freundschaft des Menschen mit Gott in der Weise, wie jede Freundschaft als eine ausgezeichnete Möglichkeit der Liebe erscheint. Was sie zur besonderen, vor allen anderen Freundschaften des Menschen unterschiedenen amicitia ad Deum macht, ist nur die einzigartige Bestimmung des göttlichen Freundes, der dem Menschen über alles kostbar und teuer ist und deshalb – Thomas verwendet nochmals das Wortspiel um die lateinischen Begriffe carus und caritas – in besonders teurer Freundschaft, eben der caritas geliebt wird.6

Der entsprechende Artikel der Summa theologiae, der dem ganzen Lehrstück über die Gottesliebe voransteht, setzt sofort mit der Frage utrum caritas sit amicitia ein und überspringt die im Sentenzenkommentar unter dem Titel quid sit caritas vorgenommene Überprüfung der einzelnen Definitionselemente, die auf der Grundlage des amor den spezifischen Freundschaftsbegriff bilden. Von den zur ratio amicitiae erforderlichen Voraussetzungen des Sentenzen- wie des Ethikkommentars werden nur mehr die benevolentia und eine gewisse mutua amatio genannt;7 nur die wohlwollende Freundschaftsliebe, die das Gute um des Freundes willen bejaht und von diesem in gleicher Unbestechlichkeit erwidert wird, kann der theologischen Deutung der caritas als Anknüpfungspunkt dienen. Als dritte und gegenüber der zitierten Stelle aus dem Sentenzenkommentar neu aufgeführte Bedingung nennt Thomas nun aber einen Gedanken, der sich zuvor schon in einem Quodlibetum und in einem Pauluskommentar findet,8 in der Secunda Secundae aber erstmals zu den Wesensbestimmungen der Gottesfreundschaft gezählt wird. Das gegenseitige Wohlwollen zwischen Gott und Mensch, das Ausdruck der caritas ist, erfordert seinerseits einen ermöglichenden und tragenden Grund, auf dem sich der Austausch des gemeinsamen Lebens erst vollziehen kann. Thomas entdeckt das gesuchte und konstitutiv geforderte Fundament der Gottesliebe, das die von allen menschlichen Freundschaftsbeziehungen radikal unterschiedene Eigenart der Freundschaft mit Gott hervortreten lässt, in dem, was er eine aliqua communicatio hominis ad Deum nennt, in einer Mitteilung und Gemeinsamkeit, deren Wesen darin besteht, dass Gott uns eine eigene Seligkeit schenkt und uns zur Teilnahme an seinem göttlichen Leben beruft.9

2. „Aliqua communicatio hominis ad Deum”

Der Begriff der communicatio, der nun ins Zentrum des ganzen Analyse rückt und die theologische Deutung der caritas als Freundschaft mit Gott trägt, ist Thomas sowohl von Paulus als auch von seinem philosophischen Gewährsmann Aristoteles her vorgezeichnet. In der II-II 23, 1 angeführten paulinischen Belegstelle 1 Kor 1,9 bezeichnet koinonía, verbunden mit einem Genitiv der Person, das Anteilhaben der Gläubigen an Christus und den „Lebenszusammenschluss“ der Christen mit dem Sohn. In einem Lebenszusammenschluss eigener Art – doch stets der Menschen untereinander – sieht auch Aristoteles das Wesen der verschiedenen Freundschaften begründet; die gemeinsame Ausübung der Schifffahrt oder des Kriegshandwerkes, aber auch der natürliche Lebenszusammenschluss einer Familie oder der Polis, schaffen eine philía unter den Menschen, die sich nach der Weise ihrer koinonía untereinander richtet.10 Thomas verbindet den paulinischen Gedanken der Berufung aller Gläubigen zur Lebensgemeinschaft mit dem Sohn mit dem aristotelischen Unterscheidungsmerkmal, das die Freundschaft der Seeleute, Soldaten, Handwerker und Zeltbewohner in einer jeweils verschiedenen Art des politischen MiteinanderSeins der Einzelnen angelegt sieht, und lässt so die auf die Mitteilung und Gemeinsamkeit von Gottes ewiger Seligkeit gegründete Freundschaft des Menschen zu Gott in ihrer von allen anderen sozialen Freundschaftsverhältnissen unterschiedenen Sonderstellung hervortreten. Die Gottesliebe erwächst einer mit keinem menschlichen Zusammenschluss vergleichbaren und auch aus den höchsten Aspirationen des kreatürlichen Lebens nicht ableitbaren communicatio, in der sich der unendliche Gott in der Fülle seines seligen Lebens dem Menschen erschließt und ihn zur Freundschaft beruft. Sie ist deshalb im vollen und wahren Sinne des Wortes und in der strengen Präzision des aristotelischen Begriffes eine Freundschaft; doch ist sie zugleich eine solche ganz eigener Art, die auf einem von Gott selbst geschaffenen Fundament das Wesen und die Bestimmung der Freundschaft verwirklicht.

3. Freundschaft zwischen Göttern und Menschen?

Die ganze Tragweite, die Thomas der die Freundschaft des Menschen mit Gott ermöglichenden communicatio zuspricht, lässt sich deshalb nur ermessen, wenn man seine Theorie der caritas auf dem Hintergrund der aristotelischen Freundschaftsanalyse sieht und danach fragt, in welchem Sinn die von Gott ausgehende Mitteilung seines göttlichen Lebens die Funktion eben der koinonía übernimmt, die Aristoteles zum Wesen jeder Freundschaft zählt. In den Augen des Philosophen ist es ja keineswegs selbstverständlich, von einer Freundschaft zwischen Göttern und Menschen zu sprechen, besteht doch die wahre und vollendete Freundschaft zunächst nur unter Gleichrangigen, die an Würde, Tugend und sozialer Stellung einander entsprechen.11 Zwar kennt Aristoteles auch Freundschaften, die auf der Überlegenheit eines der beiden Partner beruhen, wie sie zwischen Eltern und ihren Kindern, den Herrschern und ihren Untergebenen und überhaupt zwischen Älteren und Jüngeren bestehen, aber auch in ihnen erfüllt sich das Postulat der Gleichheit wenigstens in der Weise einer angemessenen Proportion zwischen den Liebenden, so dass der Bessere seinem Rang gemäß auch mehr geliebt wird.12 Wo aber eine solche Verhältnismäßigkeit nicht mehr gegeben ist und jede Proportion zerbricht, da ist auch keine Freundschaft mehr möglich; wird der Anstand zu groß, dann stirbt auf beiden Seiten auch der Wille zum freundschaftlichen Beisammensein und zur vertrauten Intimität. Zu spüren ist dies schon im Verhalten gegenüber den Königen, überdeutlich sichtbar wird es für Aristoteles aber im Verhältnis zu den Göttern. Ihnen gegenüber gibt es nur Verehrung und Dankbarkeit, aber nicht das Gefühl der Freundschaft und Liebe; ihre Überlegenheit entrückt sie in eine Ferne, aus der weder sie auf den Menschen zutreten, noch die Menschen sich ihnen zuwenden können.13 Zwar haben die Götter ihrerseits Gefallen an den Menschen, vorzüglich an den Weisen und Tugendhaften, aber was sie an ihnen lieben, das ist allein der Nachvollzug des Denkens im menschlichen Geist, das sich selbst denkende Denken der Gottheit schaut im nous der Menschen wie in einem Spiegel sich selbst und findet Freude darin. Doch Freundschaft, die den Kreis des eigenen Lebens durchbricht und den anderen um seiner selbst willen erreicht, um ihm Gutes zu wünschen, ist dies nicht. Wenn schon menschliche Freunde einander vor allem darin dienen, dass sie sich zur Übung der Tugend anhalten und im Beispiel der sittlich guten Tat einander zur Hilfe auf dem Weg der Selbstvervollkommnung werden, wie kann dann die in ihrer Autarkie uneingeschränkt vollkommene Gottheit dem Menschen ein Freund sein?14 Das aristotelische Freundschaftsideal ist nicht die den Niederen beschenkende Hilfe und nicht das verlangende Streben nach der Vollkommenheit des Höheren; sie ist, wenn man die so aussagekräftigen und zugleich missverständlichen Begriffe zulassen möchte, weder eros noch agape, sondern ein Drittes und unverwechselbares Eigenes; eben philía, Liebe des Gleichen zum Gleichen und Austausch unter einander Ebenbürtigen.

 

Es ist wahrhaftig kein geringes Unterfangen, wenn Thomas innerhalb der Begriffskoordination dieser Freundschaftskonzeption, die er in seinem Ethikkommentar mit fast skrupulöser Treue zum philosophischen Original nachzeichnet, die theologische Tugend der Gottesliebe bedenken möchte. Die wenigen „lyrischen“ Hinweise des Aristoteles auf die Liebe zwischen Göttern und Menschen lassen sich unter äußerster Dehnung als Analogie zur caritas verstehen,15 aber wo der Theologe bei dem Stagiriten in die harte Schule der philosophischen Analyse geht und nur mehr die unerbittliche Strenge des an der Beobachtung gewonnenen Begriffs kennt, da kann er als Fazit der Überlegungen zu einer möglichen Freundschaft zwischen Göttern und Menschen nur notieren: non adhuc remanet talis amicitia, de qua loquimur, wo die Entfernung zwischen den Partnern der Liebe zu groß wird, da zerbricht der Freundschaftsbegriff, von dem bei Aristoteles die Rede ist.16

4. Ein Seitenblick auf Nietzsche und Kant

Wie aber soll die Freundschaft zwischen Gott und Mensch gedacht werden, wenn dies innerhalb des aristotelischen Modells unmöglich ist? Die gedankliche Tragweite der thomanischen Deutung der Liebe als Freundschaft mit dem unendlichen Gott erschließt sich am besten aus einem Vergleich mit den beiden wirkmächtigsten Kritikern der christlichen Ethik, mit Nietzsches radikaler Destruktion der europäischen Moraltradition und mit Kants Vorwurf der Lohnmoral.17 Die theologische Rezeption des aristotelischen Freundschaftsbegriffs durch Thomas verändert den Charakter der Moral von Grund auf: Sie ist nicht mehr zuerst Forderung an den Menschen, sondern dessen Antwort auf Gottes zuvorkommende Liebe, nicht Gehorsam gegenüber einem unpersönlichen Vernunftgesetz, sondern Freundschaft des Menschen mit Gott. Zur Abgrenzung gegenüber der modernen Wertphilosophie lässt sich auch sagen: Die christliche Moral lehrt nicht die Liebe zur Idee des Guten, sondern die Liebe zu Gott und den Menschen.18

Diese Unterscheidung lässt Nietzsches Einspruch gegen die unpersönlich-abstrakte Denkform ins Leere gehen, die er in den verschiedenen Ausprägungen der europäischen Moralphilosophie von Plato bis Kant ausmachen will: „Die ‚Tugend’, die ,Pflicht’, das ‚Gute an sich’, das ‚Gute mit dem Charakter der Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit’ – Hirngespinste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftigung des Lebens, das Königsberger Chinesentum ausdrückt.“19 Nietzsche selbst versteht den Spott auf Kants Vernunftmoral zwar zugleich als Fluch auf das Christentum und seine Ethik, wie er im Untertitel seines Werkes „Der Antichrist“ zu erkennen gibt. Dabei bleibt ihm jedoch verborgen, in welche Nähe er zur christlichen Ethik und ihrer Vorstellung vom höchsten Glück des Menschen wider Willen tatsächlich gerät. Die Kühnheit seines Traums vom Übermenschen, der die Grenzen der menschlichen Lebensform sprengt, weist bei aller unübersehbaren Distanz zu den moralischen Lehren des Christentums eine überraschende Affinität zur Konzeption der Freundschaft des sterblichen Menschen mit dem lebendigen Gott auf, in dem Thomas die Grundaussage der christlichen Ethik zusammenfasst.

5. Gottes Selbstmitteilung als Grundlage der Freundschaft

Als Freundschaft mit Gott kann das moralische Leben nämlich nur gedacht werden, wenn der Mensch darin über sein natürliches Dasein hinaus zu einem neuen Sein erhoben wird, das seine eigenen Kräfte übersteigt. Eine theologische Konzeption, die das ethische Handeln des Menschen in personalen Kategorien als Freundschaft mit Gott denkt, setzt ein reales Mehr-Sein und Höher-Werden des Menschen, ein Über-Sich-Hinausgeführt-Werden voraus, das nur in Gott selbst zur Ruhe kommt. Thomas hat das letzte Ins-Ziel-Gelangen des Menschen und die höchste Erfüllung seiner Sehnsucht in der endgültigen Gemeinschaft mit Gott mit einer unerbittlichen Konsequenz zu Ende gedacht, die dem Traum vom Übermenschen in nichts nachsteht. Deshalb schreckt er auch nicht vor dem Satz zurück: „Die Liebe ist eine Tugend des Menschen, nicht sofern dieser Mensch ist, sondern sofern er durch die Teilhabe an Gottes Gnade selbst Gott und ein Sohn Gottes wird.“20

Der unendliche Gott selbst, nach dessen Bild der Mensch geschaffen ist, ist zugleich das letzte Ziel seines Handelns. Durch den Glauben wird sich der Mensch dieser Hinordnung auf Gott bewusst. Indem er ihn als sein letztes Ziel erkennt, trägt er schon jetzt inchoativ das ewige Leben in sich, zu dem er in Gottes Gemeinschaft berufen ist.21 In der Hoffnung richtet er sich unmittelbar auf die alles bestimmende Macht Gottes. In diesem Ausgriff auf die Erfüllung erlangt er die Kraft, sich den Widerständen auf seinem irdischen Lebensweg entgegenzustellen.22 In seiner theologisch-ethischen Theorie der Liebe geht Thomas noch einen Schritt weiter, indem er die Verbindung des Menschen mit dem Gott seines Glaubens und seiner Hoffnung als Freundschaft denkt. Gibt sich Gott dem Menschen im Glauben und in der Hoffnung jeweils unter einer bestimmten Rücksicht (als erste Wahrheit oder als machtvolle Hilfe) zu erkennen, so richtet sich die Liebe ohne jede Einschränkung auf ihn: „Die Liebe erreicht Gott, wie er in sich selbst ist.“23 In der Liebe wird Gott des Menschen Freund und der durch einen unendlichen Abstand von ihm getrennte Mensch zum Freund Gottes. Durch die Liebe wird der Mensch schon jetzt über sich hinaus in „eine gewisse Gemeinschaft des Menschen zu Gott“ (aliqua communicatio hominis ad Deum) geführt, die dadurch entsteht, dass der dreieinige Gott den Menschen zur Teilnahme an seinem göttlichen Leben beruft.24

Der Ausdruck communicatio lässt sich in seinem transitiv-dynamischen Aspekt mit einem der theologischen Gegenwartssprache vertrauten Begriff am besten als Selbstmitteilung Gottes übersetzen. Die denkerische Leistung des Thomas besteht darin, dass er den Begriff der communicatio, der für das griechische Wort koinonia steht, auf dem Hintergrund des biblischen Gottesbildes so interpretiert, dass er mit seiner Hilfe jene Gleichheit zu denken vermag, deren Fehlen für Aristoteles eine Freundschaft zwischen Göttern und Menschen ausschließt.25 Der biblische Gott ist nicht der unbewegte Beweger und nicht das höchste Denken, das im endlichen Geist nur sein eigenes Wesen anschaut. Er ist der Gott der Liebe, der sich nach der Gemeinschaft mit den Menschen sehnt und das Zusammenleben und den Austausch mit ihnen sucht; Thomas scheut sich nicht, Gottes Sehnsucht nach dem Menschen mit den Vokabeln societas, convivere und conversatio zu bezeichnen, die dem Bereich vertrauter menschlicher Kommunikation entnommen sind.26

Der dreieinige Gott legt selbst das Fundament, auf dem die Freundschaft des Menschen zu ihm entstehen kann, indem er sich in der Menschwerdung des Sohnes zu ihm hinabbeugt und sich im Abstieg der Liebe dem Menschen gleich macht. Indem aber Gott dem Menschen gleich wird, ist der Mensch zur Gleichheit mit Gott erhoben; durch die Abstiegsbewegung der göttlichen Liebe wird dem menschlichen Leben im Geheimnis der Inkarnation eine neue Würde geschenkt, die es der Liebe und Freundschaft Gottes wert machen. Thomas erkauft die Möglichkeit, die Gottesund Nächstenliebe des Menschen als Freundschaft mit Gott zu denken, nicht dadurch, dass er an der von Aristoteles geforderten Gleichheit unter den Freunden Abstriche vornimmt, so dass der Begriff der Freundschaft nur in metaphorischem Sinne auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch anwendbar wäre. Vielmehr denkt er das in Schöpfung, Menschwerdung und Erwählung am Menschen wirksame Handeln Gottes so, dass Gott die zur Freundschaft mit dem Menschen notwendige

Gleichheit durch seine Initiative hervorbringt. Gottes schöpferische Liebe zieht den Menschen zu sich empor in die Gemeinschaft seines unzerstörbaren Lebens und verleiht ihm jene Auszeichnung und Würde, die eine Freundschaft mit ihm überhaupt erst ermöglicht.

6. Aktive Teilnahme an Gottes Handeln in der Welt

Wie soll man es sich vorstellen, dass das letzte Ziel des moralischen Handelns in der Freundschaft mit Gott besteht? Am besten nicht anders, als wir es uns von der Freundschaft unter Menschen wünschen. Wir werden einander zu Freunden, indem wir den anderen Gutes wünschen, unser Leben mit ihnen teilen und uns ihre Ziele und Anliegen zueigen machen. Nichts anderes geschieht in der Freundschaft des Menschen mit Gott: Wir machen uns seine Sache zueigen und stellen uns ihm für sein Wirken in der Welt zur Verfügung – nicht aus eigenen Kräften, sondern weil wir durch seine Berufung und Gnade dazu befähigt werden. Der Gedanke der Selbstmitteilung Gottes ermöglicht es der christlichen Ethik, das moralische Handeln des Menschen als aktive Teilnahme an Gottes Handeln in der Welt zu denken: Gott handelt nicht anders in der Welt als durch unser Handeln, das er in seiner schöpferischen Liebe trägt und hervorbringt.

Weil Gottes ewige Liebe schöpferische Selbstmitteilung an den Menschen ist, wird dieser durch sie zu einem neuen Sein-Können erhoben, das ihn über sich selbst hinausführt. Insofern der Mensch in der Freundschaft mit dem lebendigen Gott die Grenzen seines natürlichen Daseins übersteigt, liegt auch der christlichen Ethik die Vorstellung einer letzten Lebenssteigerung zugrunde – jedoch nicht als Steigerung eines triebhaft-dionysischen Lebensrausches, sondern als Vollendung dessen, was den Menschen in seinem Menschsein auszeichnet: seiner Fähigkeit, Gott und den Nächsten zu lieben und in seinem Denken, Fühlen und Handeln dem Licht der Vernunft zu folgen. Der neue Mensch, der zur Freundschaft mit Gott berufen ist, transzendiert sich selbst – jedoch nicht durch die Projektion des eigenen Ichs ins Übergroße, sondern indem er das ewige Kreisen um die eigenen Wünsche durchbricht und sich Gott für sein Handeln in der Welt zur Verfügung stellt. Es gehört zu dem paradoxen Ineinander von Lebensverlust und Lebensgewinn, das nach der Logik des Evangeliums den Weg der Liebe bestimmt (vgl. Mk 8,35: „Wer sein Leben retten will, wird alles verlieren, wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangelium willens verliert, wird es retten.“), dass der Mensch eine letzte Erfüllung nur im spontanen, selbstvergessenen Einsatz für die Sache Gottes findet. Das biblische Bild des neuen Menschen stellt uns ein Ziel vor Augen, zu dem wir das ganze Leben hindurch unterwegs bleiben. Aber es ist dem Traum vom Übermenschen dadurch überlegen, dass es die Vergänglichkeit des irdischen Daseins mit seinen schmerzlichen Entbehrungen und Mängeln nicht leugnen muss, sondern auch seinen dunklen Seiten illusionslos ins Auge blicken kann.

 

7. Der Verdacht der Lohnmoral

Die Theorie des anfanghaften Glücks, zu dem der Mensch auf dem als Freundschaft mit Gott gedachten Weg der Liebe findet, widerlegt den Verdacht, die christliche Ethik beruhe auf einem Ressentiment gegen das Leben und einer Geringschätzung des zerbrechlichen Glücks, das dieses dem endlichen Menschen bieten kann. Doch beschwört die christliche Ethik, indem sie dieses Missverständnis nach der einen Seite hin zurückweist, nicht den entgegengesetzten Verdacht einer jenseitsorientierten Lohnmoral herauf? Kann der eudämonistische Charakter der christlichen Moral in einem Sinn verstanden werden, der die Verwechslung mit einer heilsegoistischen Strategie der Lohnerwartung ausschließt?

Indem der Weg der Liebe den Menschen bereits in diesem Leben mit dem dreieinigen Gott als seinem letzten Ziel verbindet, empfängt dieser in der Liebe tatsächlich einen „Lohn“: die Gegenwart Gottes als des summum bonum (= höchsten Guts), durch die schon jetzt das ewige Leben inchoativ ergriffen wird. Dennoch lehrt der Weg der Liebe keine Lohnmoral im Sinne einer äußeren, der Liebe fremden Kompensation für ihren Einsatz. Indem der Mensch Gott als sein letztes Ziel und höchstes Gut erkennt, das würdig ist, um seiner selbst geliebt zu werden, erlangt er durch die Hingabe an dieses objektiv erfüllende Gut die höchste Vollendung seines Menschseins. Die Hingabe an Gott und die Erfüllung des Liebenden sind keine Gegensätze, sondern zwei Aspekte ein und derselben Wirklichkeit, die in einer als vollkommen gedachten Liebe zusammenfallen. Deshalb darf auch die Beziehung, in der das Glück zum Tun der Liebe und zu den Tugenden steht, in denen diese wirksam wird, nicht nach Art einer Zweck-Mittel-Relation verstanden werden. Das Tun der Liebe ist kein Mittel zu anderen Zwecken und keine Strategie zur Planung des eigenen Glücks. Gleiches gilt für den Zusammenhang zwischen Tugend und Glück, der nicht als instrumentelles Verhältnis, sondern richtigerweise nur modal aufgefasst werden darf: Wir handeln nicht tugendhaft, um glücklich zu werden, sondern wir sind glücklich, indem wir ein gutes Leben zu führen versuchen. Der Weg einer vernunftgemäßen Lebensführung, auf dem sich der Mensch von Gottes Liebe zum Guten geleiten lässt, ist nach dieser inklusiven Bestimmung eine notwendige Voraussetzung oder besser: selbst ein Weg und eine Weise des zerbrechlichen Glücks, das sich der Mensch in seinem irdischen Dasein in mühsamen Schritten erwirken kann.

Zudem ist daran zu erinnern, dass die christliche Ethik verlässliches Glück nicht als immanentes Ziel menschlichen Strebens, sondern nur als Ausdruck der Treue Gottes zu seiner Verheißung in Aussicht stellt. Während in der philosophischen Ethik der Gedanke des gelingenden Lebens das letzte umgreifende Lebensziel eines Menschen umschreibt, von dem her sich seine einzelnen Handlungen als mehr oder weniger geglückte Teilmomente eines einheitlichen Lebensplanes verstehen lassen, ist der Begriff der beatitudo innerhalb der christlichen Ethik weniger ein moralischer, denn ein theologischer Begriff. Menschliche Praxis findet ihren letzten Einheitspunkt nicht in einem immanenten Ziel, sondern sie vollendet sich in der Gemeinschaft mit Gott als dem einzig erfüllenden Gut. Wegen des transzendenten Charakters der beatitudo, die gleichwohl bereits in diesem Leben in der Freundschaft mit Gott antizipiert wird, kann die christliche Ethik auch der Zerbrechlichkeit des irdischen Glücks und der Erfahrung menschlichen Scheiterns ins Auge blicken, ohne einer tragischen Weltauffassung das Wort reden zu müssen.

Dennoch ist der Weg des Menschen zu Gott nicht als Vorbereitung auf den postmortalen Empfang einer künftigen Glückseligkeit gedacht, wie es der Vorwurf einer jenseitsorientierten Lohnmoral unterstellt. Vielmehr erlangt der Mensch in der Freundschaft mit Gott bereits auf Erden ein anfanghaftes Glück, das aus seiner unvollkommenen Jetzt-Gestalt zur eschatologischen Vollendung führen wird. Da das irdische Glück durch Übel aller Art und unvorhersehbare Schicksalsschläge bedroht ist, bleibt dem Menschen, sofern zum vollkommenen Glück auch die „Gewissheit der Unverlierbarkeit“ gehört, in seinem irdischen Dasein die Erfahrung vollkommenen Glücks versagt.27 Dennoch steht ihm diese im Modus der anfanghaften Vorwegnahme schon jetzt offen, indem er sich in Glaube, Hoffnung und Liebe auf sein letztes Ziel bezieht und sein Handeln daran ausrichtet.

Der Lohnmoral-Verdacht verkennt dagegen, dass die in personalen Kategorien vorgestellte Gegenwart des höchsten Guts keinen fremden, dem Weg der Liebe äußerlich bleibenden Lohn in Aussicht stellt. Vielmehr ist das Gegenwärtig-Sein Gottes als des höchsten Guts so zu denken, dass die Liebe ihr eigenes Ziel erreicht und die wesensgemäße Vollendung des Menschen in nichts anderem als in diesem endgültigen Ins-Ziel-Gelangen der Liebe besteht. In die Kategorien der thomanischen Handlungsanalyse übersetzt bedeutet dies: Das Gegenwärtigsein des Zieles löst Freude aus und bewirkt Glück, aber diese Freude und dieses Glück sind nicht das Motiv, warum das Ziel erstrebt wird. Nur das höchste Gut, das sein Streben restlos erfüllt, kann dem Menschen als letztes Ziel dienen.28 Doch ist nicht das Zur-Ruhe-Kommen des Verlangens das erhoffte Gut, sondern umgekehrt treten Ruhe und Freude ein, weil das vollkommene Gut gegenwärtig ist. Wer von der Liebe reden will, muss von dem Glück reden, das sie bewirkt, anders geht es nicht. Das heißt aber nicht, dass die Liebe nur um des Glückes willen liebt, das ihr verheißen ist.

Weil der an die Adresse der christlichen Ethik gerichtete Eudämonismus-Vorwurf den zweckfreien Charakter der visio beatifica missversteht, wird der biblische Gedanke, dass Gott das „Erbe“ und der ewige „Lohn“ der Gerechten ist (vgl. Ps 16,5; Weish 5,15; Lk 12,32), zwangsläufig als Ausdruck einer egoistischen Lohnmoral missverstanden. Wie wenig dies dem biblischen Ethos gerecht wird, ist schon daraus ersichtlich, dass sich der Unsterblichkeitsglaube auf dem Boden des Alten Testamentes erst sekundär und sehr spät entwickelt hat. Ihm liegt nicht die Erwartung eines zukünftigen Lohnes zugrunde; er ist vielmehr ein Ausdruck der Hoffnung, dass die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott über den Tod hinaus erhalten bleibt.29 Der biblische Mensch hofft nicht darauf, mit Gottes Hilfe etwas zu erhalten, sondern er hofft auf Gott selbst. Er will sich nicht durch ein tugendhaftes Leben der zukünftigen Hilfe seines Gottes vergewissern, sondern er vertraut darauf, dass er auch durch den Tod nicht von dem Gott getrennt wird, der schon jetzt das höchste Gut seines Lebens ist. Daher heißt es in dem bekannten Kirchenlied von Angelus Silesius „Ich will dich lieben, meine Stärke“ in dessen letzter Strophe:

„Ich will dich lieben, meine Krone,

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