Theologie der Caritas

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IV.

Ist Arm und Reich die dominante gesellschaftlich gewachsene Ungleichheit, dann Mann und Frau die dominante durch Natur gegebene. Die Ungleichheit des Geschlechts ist es, die den Menschen unrevidierbar, die geringen Ausnahmen bestätigen es, die eine und die andere Natur sein lässt. Doch diese natürliche Zweiheit läßt sich nicht isoliert festhalten. Bereits prähistorisch ist die Ungleichheit von Mann und Frau immer auch eine gesellschaftlich gewachsene. Wieder geht es um Herrschaft: um die Ungleichheit von Herrschenden und Beherrschten. Sind im Verhältnis von Arm und Reich die Reichen in der Regel die politisch und gesellschaftlich Herrschenden, dann im Verhältnis von Mann und Frau die Männer, sei es in familiärer Gemeinschaft, sei es in der Gesellschaft. Hat im gesellschaftlichen Leben der Reiche, wie er sich selbst versteht, das bessere Leben, so im gemeinschaftlich geteilten der Mann, wie er sich selbst versteht, die höhere Verantwortung. Arme, die sich nicht ideologisch um ihren bon sens bringen lassen, halten ihr Leben für schlecht, Frauen, wie sie die kulturelle Entwicklung der Gemeinschaft prägt, halten sich für subaltern. Bereits die Genesis nimmt sich der gesellschaftlich gewachsenen Ungleichheit von Mann und Frau an und bestimmt die Frau als Hilfe (boêthos) für den Mann.

Paulus geht einen entscheidenden Schritt weiter, wenn er von der kulturellen Entwicklung der Gemeinschaft absieht, und den von Natur gegebenen Unterschied theologisch überhöht: „Der Mann ist Abbild und Abglanz Gottes, die Frau aber ist der Abglanz des Mannes. Denn der Mann stammt nicht von der Frau ab, sondern die Frau vom Mann. Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, sondern die Frau für den Mann.“31 Wäre Paulus der anderen Version der Schaffung des Menschen in der Genesis gefolgt, hätte er feststellen müssen, dass beide gleicherweise Menschen sind: „und er schuf den Menschen (auton), und er schuf sie (autous) männlich und weiblich.“32 Doch er geht noch einen Schritt weiter in die falsche Richtung, wenn er den Mann mehr teilhaben lässt am Göttlichen als die Frau. Entsprechendes findet sich noch bei Kant, wenn er dem Mann Erhabenheit zuspricht, der Frau nur Schönheit, die nicht zureicht, um das Sittengesetz praktizieren zu können.

Die gesellschaftlich gewachsene Ungleichheit von Mann und Frau setzt die Frau, mit oder ohne ideologische Unterstützung, ins Unrecht. Gendertheoretiker nutzen diese Ungleichheit, um eine natürliche für nicht gegeben zu erklären. Der biologische Unterschied würde sich nicht auf Kognition, Fühlen und Verstehen auswirken, so dass die Ungleichheit der Geschlechter eine rein künstliche sei. Doch Einebnung des Unterschieds ist nach Jahrtausenden der praktischen und theoretischen Erniedrigung der Frau durch den Mann genau die falsche Antwort. Für die auf Lebensteilung gerichtete Anthropologie ist der Mensch nicht die Zweiheit von Vernunft und Trieb, Kopf und Geschlecht, sondern die Zweiheit von Mann und Frau. Beider gelingendes Verhältnis ist das erste Humanum.

V.

Denken wir über menschliches Gelingen nach, dann zeigt sich, dass fürsorgende Liebe (agapê) und geschlechtliche Liebe (erôs) zusammengehören: Sie bedingen einander. Das der Zeit nach Erste für einen Menschen ist die erfahrene fürsorgende Liebe. Der Neugeborene, soll er leben, braucht die natürliche Güte der Eltern. Das der Sache nach Erste ist die geschlechtliche Liebe: Ihr verdankt sich das Leben, wie es Menschen hervorbringen, wobei ich bewusst außer Acht lasse, dass längst Wege beschritten sind, menschliches Leben ohne Intimität zu reproduzieren. Philosophie, die dem Humanum eine Chance in künstlerisch erhöhter Wirklichkeit gibt, hat einen anderen Weg gewählt als den, der zu einem Menschenglück führen soll, das sich aus wirklichen und vermeinten Erleichterungen der Lebensbewältigung addiert.

Die natürliche Ungleichheit von Mann und Frau lässt ihr Verhältnis nicht in Balance sein. Damit zeigt es ein grundständiges, allem Normativem vorausliegendes Unrecht. Dieses in Recht überzuführen, indem sich das männliche und weibliche Geschlecht als gleicherweise im Recht erfahren, ist einzigartig die Mann und Frau vereinende Liebe. Im höchsten Wirken der Ungleichheit ist die volle Balance erreicht.

Ist auslösendes Moment caritativer Liebe die Hilfsbedürftigkeit des Anderen, dann das der erotischen Liebe die Schönheit des Anderen, die der liebende Blick ihm verleiht. Im Hohelied der Liebe und Gegenliebe, nicht von ungefähr das „Lied der Lieder“ genannt, beginnt der Mann:

Siehe, du bist schön, meine Geliebte,

siehe, du bist schön.

Und die Frau antwortet ihm:

Siehe, du bist schön, mein Geliebter,

so lieblich …33

In der reinen Gegenseitigkeit gibt es keine Vorbehalte, hat kein Abwägen statt. Das einander Preisen ist ein vollkommenes:

Du bist ganz und gar schön, meine Freundin, ein Makel ist nicht an dir.34

Der schaffende Blick der Liebe ist nicht idealisierend. Er sieht Realität – es versteht sich: in erhöhter Wirklichkeit. Die Freundin ist holê kalê, ist ganz und gar schön. Auch der Geliebte zeigt sich der Liebenden ganzheitlich:

… und ganz Begehren (kai holos epithymia). Das ist mein Geliebter.35

Das lebenskünstlerisch gesteigerte Verhältnis beider ist ganz uti et frui geworden: Sie brauchen einander, sie erfreuen einander:

Ich gehöre meinem Geliebten und er ist mir zugewandt.36

So ist erotische Liebe Ursprung und Urbild menschlichen Gelingens. Jetzt ist der Leib mit im Spiel, von dem anfangs als Bedingung menschlicher Selbstwerdung die Rede war. Der Leib, wie er von Lebens- und Liebeskünstlern geschaut und gefühlt wird, ist von höherer Wirklichkeit. Die Rede philosophischer Vernunftoptimisten, dass geschlechtliche Liebe eine Tierheit im Menschen hervorkehre, entlarvt das Unvermögen introvertiert-solipsistischer Anthropologie, dem Menschen gerecht zu werden.

Fürsorgende Liebe in der Gestalt christlicher Caritas, die in religiöser Bewegtheit im Hilfsbedürftigen den Geist Christi wahrnimmt, ist auch Lebenskunst, ist auch schöpferisch, hebt auch das Verhältnis von Helfenden und Hilfsbedürftigen auf eine höhere Ebene, der Banalität des Lebens entrückt. In ihr tritt etwas zutage, das die unübertreffliche Nähe zum Anderen, wie sie den in Liebe Vereinten eigen ist, spiegelt. In der fürsorgenden Liebe, die den Anderen mit Selbsthaftigkeit belehnt, findet die in äußerster Selbsthaftigkeit ausgetragene Liebe von Mann und Frau ihren schönsten Widerschein. Fragen wir nach menschlichem Gelingen, fragen wir nach dem Humanum, dann müssen wir Eros und Agape nachgehen als den Vorbildern alles lebensteiligen Gelingens in überhöhter Wirklichkeit.

Bibliographie

Benn, Gottfried, Gesammelte Gedichte, Wiesbaden 1956.

Gilgameschepos frz. (trad./introd. Jean Bottéro), Paris 1992.

Kant, Immanuel, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Akademie-Textausgabe Bd. IV., Berlin 1968.

A Kempis, Thomas, Nachfolge Christi (trad. Bischof J.M. Sailer), Kempen 1947. Marten, Rainer, Lebenskunst, München 1993.

Smith, Adam, Der Wohlstand der Nationen (trad./intro, Recktenwald, Host Claus), München 71996.

1 Aristoteles, Politik I 4, 1254a14 f.

2 Röm 14,8.

3 Gal 2,20.

4 1 Kor 15,45-47.

5 Mt 6,26.

6 Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7, 1178a2.

7 Aristoteles, De anima B 4, 415a25 ff.

8 Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7, 1178a7.

9 Immanuel Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Akademie-Textausgabe Bd. IV., Berlin 1968, 457; vgl. 458; 461.

10 Gen 2,24: 1 Kor 6,16

11 Gal 5,17.

12 Gal 5,24.

13 Gilgameschepos frz. (trad./introd. Jean Bottéro), Paris 1992, 258: „Se réservant l’immortalité/ à eux seuls!“

14 Röm 13,9.

15 1 Joh 4,19.

16 1 Joh 4,8.

17 Spr 14,13.

18 Dafür steht der Ausdruck „mit ganzem Herzen“: Dtn 6,5; 30,10; 1 Sam 13,14; Mt 22,37; Apg 8,37 et al.

19 1 Kor 13,13.

20 Thomas a Kempis, Nachfolge Christi (trad. Bischof J.M. Sailer), Kempen 1947.

21 Aristoteles, Große Ethik II 15, 1213a21.

22 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik IX.

23 Hos 11,9.

24 Aristoteles, Eudemische Ethik 1244b25; 1245b22.

25 1723-1790. An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776.

26 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen (trad./intro, Host Claus Recktenwald), München 71996, S.371: „… strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Und er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.“

27 Mt 26,11.

28 Das hoi euporoi sphodra und hoi aporoi sphrodra (Aristoteles, Politik IV 11, 1295b2) wird, wie es üblich ist, mit sehr reich und sehr arm, very rich und very poor falsch übersetzt. Es geht eindeutig um das Zu-sehr.

29 Gottfried Benn, Gesammelte Gedichte, Wiesbaden 1956, 337.

30 Ps 103, 10-14; 1 Joh 4,9; Mt 5,45; Lk 6,35.

 

31 1 Kor 11,7-9.

32 Gen 1,27.

33 Hld 1,15f.

34 Hld 4,7.

35 Hld 5,16.

36 Hld 7,11. Vgl. 2,16: „Der Geliebte ist mein und ich bin sein.“ 6,5: „Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir.“

Die Struktur-Analogie zwischen göttlicher und menschlicher Caritas

Zur philosophischen Grundlegung der Caritastheologie Heinrich Pompeÿs in seiner strukturanalogen Verhältnisbestimmung zwischen Schöpfungs- und Erlösungsordnung

Markus Enders

1. Einleitung

Der Jubilar Heinrich Pompeÿ hat sich von mir einen Beitrag aus der Perspektive meines Fachs zu einem Thema gewünscht, das eine Grundlegungsfunktion für die von dem Jubilar ausgearbeitete Theologie der Caritas besitzt, und zwar zum Thema einer sogenannten „strukturanalogen Verhältnisbestimmung zwischen Schöpfungsund Erlösungsordnung“. Diese später näher zu erläuternde Verhältnisbestimmung zwischen der christlich geglaubten Schöpfungs- und der christlich geglaubten Erlösungsordnung besitzt für die von Heinrich Pompeÿ in zahlreichen wegweisenden Publikationen entwickelte Theologie der Caritas einen geradezu programmatischen Charakter. Denn Heinrich Pompeÿs eigener caritastheologischer Ansatz geht von einem grundlegend strukturanalogen, korrelativen und kompatiblen Verhältnis zwischen den beiden genannten Ordnungen als einer notwendigen Bedingung dafür aus, dass nicht nur das christliche Lebenswissen bzw. die christliche Lebensweisheit, sondern auch und vor allem die ihr entsprechende caritative Praxis des christlichen Glaubens eine echte, heilvolle Lebenshilfe für die Menschen sein kann. Heinrich Pompeÿs caritastheologischer Ansatz geht also von einem elementaren Zueinander von Natur und Gnade bzw., in christlicher Terminologie, von Schöpfungsund Erlösungsordnung aus. Damit bewegt er sich durchaus in den Bahnen traditioneller theologischer und lehramtlicher Festlegungen, die nicht nur von einer inhaltlichen Widerspruchsfreiheit, sondern darüber hinaus sogar von einer Komplementarität, d.h. einer wechselseitigen Ergänzung, beider Ordnungen in ihrem Verhältnis zueinander sprechen. Und dennoch möchte Heinrich Pompeÿ diese Analogie zwischen Schöpfung und Erlösung abgegrenzt und unterschieden wissen von der traditionell theologischen und kirchlichen Verhältnisbestimmung zwischen der geschaffenen Wirklichkeit und ihrem göttlichen Schöpfer, die ganz überwiegend, etwa bei Thomas von Aquin, seinsanalog gedeutet wird.1 Ihr zufolge verhält sich das Sein der geschaffenen, endlichen individuellen Wesenheiten bzw. Substanzen zu dem durch sich subsistierenden Sein ihres Schöpfers sowohl attributions- als auch und mehr noch proportionalitätsanalog. Das aber bedeutet, dass das geschöpfliche Sein im Hinblick auf seine Aktualität und seine Eigenschaften sowohl partiell identisch als auch zugleich partiell verschieden ist vom ungeschaffenen Sein Gottes; und zwar insofern als die Aktualität des geschaffenen Seins bedingt ist und seine Eigenschaften nur eingeschränkt gut sind, während die Seinsaktualität Gottes unbedingt und damit uneingeschränkt ist und seine Eigenschaften vollkommen sind. Doch, wie gesagt, von dieser primär proportionalitätsanalogen Verhältnisbestimmung zwischen endlichem und unendlichem Sein möchte Heinrich Pompeÿ seine Verhältnisbestimmung zwischen Schöpfungs- und Erlösungsordnung, zwischen Natur und Offenbarung, unterschieden wissen, insofern es sich bei beiden Größen um geschichtliche Ereignisse handele; für das Verhältnis zwischen geschichtlichen Ereignissen zueinander aber müsse eine andere Analogik gelten als die der seinsontologischen Analogie, weil geschichtliche Ereignisse nicht substantiell bestimmt seien, sondern geschehen bzw. sich ereignen.2 Eine analogische Verhältnisbestimmung zwischen Geschehnissen bzw. Ereignissen zueinander aber hat Heinrich Pompeÿ bei seinem philosophischen Lehrer und ehemaligen Würzburger Kollegen Heinrich Rombach gefunden, und zwar in dessen Theorem einer strukturanalogen Verhältnisbestimmung.

Was ist damit gemeint? Einer Antwort auf diese Frage möchte ich mich in drei Schritten nähern, indem ich zuerst auf dieses Theorem einer funktions- bzw. strukturontologischen Analogie in der funktionalistischen Ontologie Heinrich Rombachs eingehe und dann in einem zweiten Schritt dessen Anwendung auf das allgemeine Verhältnis zwischen Schöpfungs- und Erlösungsordnung und in einem dritten Schritt dessen Anwendung auf das Verhältnis zwischen der gleichsam natürlichen und der christlichen Hilfebeziehung caritativer Praxis im Denken Heinrich Pompeÿs aufzuzeigen versuche. Dabei soll zugleich nach der Reichweite und den Grenzen des Erklärungswerts einer solchen strukturanalogen Verhältnisbestimmung zwischen Schöpfungs- und Erlösungsordnung gefragt werden. Deshalb sollen in diesem Zusammenhang auch die von Heinrich Pompeÿ für das Verhältnis zwischen Schöpfungs- und Erlösungsordnung gebrauchten Bestimmungen der Korrelation und der Kompatibilität in unsere Überlegungen einbezogen werden. Abschließend sollen die Grundzüge einer beziehungstheologischen Hermeneutik menschlichen Lebens, Leidens und Helfens sowie strukturanalog auch des Heilshandelns Gottes, die Heinrich Pompeÿ entwickelt hat, in der gebotenen Kürze vorgestellt und kommentiert werden.

2. Zum Theorem einer funktions- bzw. strukturontologischen Analogie in der funktionalistischen Ontologie Heinrich Rombachs

Heinrich Rombach hat in mehreren Schriften die Grundzüge einer Ontologie der Funktion und der Struktur in Abhebung von der klassisch-antiken und hochmittelalterlichen Substanz-Ontologie philosophiegeschichtlich identifiziert und systematisch profiliert bzw. konturiert, auf die hier leider nicht mit der eigentlich erforderlichen Genauigkeit und Ausführlichkeit, sondern nur im Hinblick auf unsere spezifische Fragestellung nach der Bedeutung einer strukturontologischen Analogie zwischen zwei Ereignissen bzw. Geschehnissen eingegangen werden kann.3 Soviel aber sei hierzu zumindest andeutend gesagt: Rombach sah die Entstehung einer funktionalen Ontologie philosophiegeschichtlich im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und hier vor allem bei dem spätmittelalterlichen Nominalismus insbesondere eines Nikolaus von Autrecourt sowie bei den frühneuzeitlichen Geistesgrößen Cusanus, Descartes, teilweise auch Spinoza, Pascal und Leibniz. Dabei verbindet Rombach mit der Idee der Funktion grundsätzlich die der Idee der Substanz entgegengesetzten Bestimmungen der Unselbständigkeit, der Angelegtheit auf anderes und des Seins im anderen:

„Gemäß der Funktion ist etwas das, was es zu bewirken imstande ist. Es bewirkt, zu was es aus anderem erwirkt wird. Funktion ist immer Durchlaß, nie Selbstand. Sie ist nicht ‚abtrennbar‘. Sie ergibt sich aus anderem, aus dem Ganzen des anderen. Weder ist zunächst die Funktion da, und dann bewirkt sie anderes, noch ist zunächst das andere da, und dann erwirkt es die Funktion. Schließlich ist auch nicht zunächst das Ganze da, und dann ergibt sich einzelnes in seinem Funktionieren. Das Ganze ‚ist‘ nur in der Artikulation des Einzelnen, das Einzelne hat seine Wirklichkeit im artikulierten Ganzen. Beides ist in seiner Realität nicht zu trennen, auch nicht in seinem Begriffe; es sei denn, die Unterscheidung wird nachträglich negiert“4.

In mechanistischer Engführung des Funktions-Begriffs könnte man daher die Funktion als die Eigenschaft von Teilen im Hinblick auf ein Ganzes definieren.5 Unter Voraussetzung dieses Funktionsbegriffs bestimmt Rombach eine „Struktur“ als ein System bzw. als eine Ordnung von Funktionen,6 die den Charakter einer Ganzheit besitzt. Diese Ganzheit „gliedert einzelnes in sich aus, bleibt aber beherrschend über allem als das eigentliche Seiende bestehen.“7 Die Ganzheitsverfassung einer Struktur ergibt sich daher nicht aus der Summe ihrer Teile, sondern sie ist gleichsam das Organisationsprinzip ihrer Teile, das diese in eine wechselseitige funktionale Abhängigkeit voneinander versetzt. Insofern ist sie gleichsam „vor“ ihren Teilen als jene Macht, welche ihre einzelnen Momente gleichsam entelechial zueinander in Beziehung setzt. Man kann daher die Struktur als „die funktionelle Wechselbezogenheit einzelner Elemente unter dem Einfluß eines übergeordneten Prinzips“8 definieren, „wobei dieses Prinzip die essentielle und existenzielle Priorität gegenüber den Elementen besitzt. Das Prinzip (oder die Ganzheit) bleibt bestehen, auch wenn die Elemente in Veränderungen hineingezogen werden. Ihre Beziehungen können sich unbeschränkt wandeln, die Ganzheit bleibt darin doch bestehen. Die Teile sind sich wechselseitig Bedingung, aber sie sind nicht Bedingung des Ganzen.“9 – Auf diese Ausführungen soll die gleichwohl inhaltsreichere Definition des Strukturbegriffs bei Heinrich Rombach in diesem Zusammenhang beschränkt bleiben.

Einen solchen Struktur-Begriff hat nun der Sache nach bereits Wilhelm Dilthey auf den Ordnungs-Zusammenhang psychischer Phänomene und sogar auf den geschichtlichen Lebenslauf eines Menschen als ganzen bezogen, wie Heinrich Rombach zeigt:

„Der ganze Lebenslauf ist ein Strukturzusammenhang zeitlich beliebig weit abstehender Erlebnisse, von innen gegliedert und zur Einheit verbunden.“10

Damit hat Dilthey den Struktur-Begriff auch auf den Ereignis- bzw. Geschehenszusammenhang geschichtlicher Wirklichkeit angewendet. An genau diese funktionsontologische Verwendung des Struktur-Begriffs knüpft nun Heinrich Pompeÿ an, um aus ihr sein Verständnis einer strukturontologischen oder einfacher strukturellen Analogie ableiten zu können.

3. Zu Heinrich Pompeÿs Verständnis einer strukturontologischen Analogie zwischen der Hilfebeziehung Jesu zu den Hilfsbedürftigen und der Hilfebeziehung des/der christlichen Helfers/Helferin zu seinen/ihren Klienten

Heinrich Pompeÿ übernimmt den erläuterten Struktur-Begriff der funktionalistischen Ontologie Heinrich Rombachs, wonach „Struktur“ die elementare Wesensform geschichtlicher Ereignisse darstellt, die eine Ganzheit und zugleich das Organisationsprinzip von Einzelmomenten darstellt, das diese in eine wechselseitige funktionale Abhängigkeit voneinander bringt und auf ein übergeordnetes Ziel hin gleichsam entelechial ausrichtet:

„Die Funktionslogik einer Struktur ist einer anderen Struktur-logik ähnlich, sie entsprechen sich. In der Art und Weise ihres Geschehens gibt es eine funktionsontologische bzw. struktur-analogische Ähnlichkeit, so dass eine Analogie zwischen den beiden Geschehensstrukturen besteht. Dabei ereignet sich das Funktionieren nicht mechanistisch wie in einem maschinellen System – ohne Freiheit –, sondern organismisch, d.h. spontan, geschichtlich, dynamisch.“11

Demnach besagt ein strukturanaloges Verhältnis zwischen zwei Geschehnissen oder Ereignissen nichts anderes als eine funktionsontologische Ähnlichkeit zwischen ihren Geschehensstrukturen. Dabei ist zu beachten, dass sich das Funktionieren „nicht mechanistisch wie in einem maschinellen System – ohne Freiheit –, sondern organismisch, d.h. spontan, geschichtlich, dynamisch“12 vollzieht.

Dieses abstrakte Modell einer Strukturanalogie überträgt nun Heinrich Pompeÿ auf das Verhältnis zwischen der Hilfebeziehung Jesu Christi zu den Hilfsbedürftigen und der Hilfebeziehung des christlichen Helfers zu seinem Klientel:

„Die erlösende Inkarnation Jesu (mit Ausnahme der Sünde) und die Empathie des Therapeuten und Helfers (mit Ausnahme der Identifizierung) besitzen eine StrukturAnalogik, aber keine substanzontologische Entsprechung. Jesus inkarnierte in die menschliche Leidens- und Lebens-Existenz, um die Menschen zu erlösen und zu befreien. Analog [scil. im Sinne von strukturanalog, M.E.] versucht der Therapeut oder Sozialarbeiter seinen Klienten von innen her zu verstehen, d.h. empathisch zu sein. Er kann dem Leidenden nicht helfen, wenn er sich voll mit ihm identifiziert, z.B. mit einem Depressiven depressiv wird und Nähe und Distanz nicht wahrt. Struktur-analog hätte Jesus die Menschen nicht erlösen und befreien können, wenn er in der Wurzel von Leid und Krankheit, d.h. in der Sünde, mit den Menschen identisch geworden wäre. So wurde er Mensch und Erlöser mit Ausnahme der Sünde. Radikale Solidarität ja, aber volle Identifikation nein – so lautet theologisch wie psychologisch ana-log die Antwort. Wendet sich ein haupt- oder ehrenamtlicher Mitarbeiter der Seelsorge, der Caritas oder Diakonie als praktisch und reflektiert glaubender Christ einem leidenden und suchenden Menschen zu, wird er diese fundamentale Struktur-Analogik einer helfenden Beziehung entdecken können.“13

 

Die rein menschliche Hilfe-Beziehung zum Hilfsbedürftigen soll im Falle christlich motivierter Helferinnen und Helfer demnach strukturanalog sein zur gottmenschlichen Hilfe-Beziehung Jesu Christi zu den Hilfsbedürftigen. Diese strukturelle Analogie erscheint mir insofern plausibel und überzeugend, als dass die christlich motivierten Helferinnen und Helfer ihre Hilfe-Arbeit der Hilfebeziehung Jesu qualitativ ähnlich gestalten sollen, indem sie die hilfsbedürftigen Menschen von ihren Leiden zu befreien, dadurch zufriedener und glücklicher und vor allem gottempfänglicher zu machen versuchen (sollen).

Aber ist auch die Verneinung der substanzontologischen Entsprechung zwischen den beiden Seiten beider Hilfebeziehungen überzeugend? Der menschliche Therapeut soll sich nicht voll und ganz und deshalb auch nicht substanziell mit seinem Klienten identifizieren – das ist zweifellos richtig und vernünftig. Allerdings müsste man hier wohl präzisieren, dass eine Identifizierung im Hinblick auf die individuelle Substanz beider, des Helfers und seines Klienten, nicht nur nicht wünschenswert, sondern seinsmäßig auch gar nicht möglich ist. Gleichwohl gibt es und bleibt notwendigerweise auch eine substanzontologische Entsprechung, ja Identität, zwischen beiden, dem menschlichen Helfer und seinem ebenfalls menschlichen Klienten, bestehen, und zwar im Hinblick auf ihre allgemein menschliche Substantialität, d.h. ihre gemeinsame Teilhabe an der allgemein menschlichen Natur. Die Hilfebeziehung ist hier also nur zwischen zwei Seiten möglich, zwischen denen auch ein Verhältnis seinsmäßiger bzw. substanzieller Analogie besteht. Diesem eigentlich selbstverständlichen Sachverhalt würde Heinrich Pompeÿ sicher nicht widersprechen.

Wie steht es nun mit dem substanzontologischen Entsprechungsverhältnis in der gottmenschlichen Hilfebeziehung zwischen Jesus Christus und seinen „Klienten“? Auch hier ist es eindeutig, dass zwischen Jesus und seinen „Klienten“ gemäß christlichem Glauben auch ein substanzontologisches Entsprechungsverhältnis, wenn auch keine Identität, besteht, sofern nämlich die gott-menschliche Natur Jesu Christi zu der rein menschlichen Natur seiner Klienten in einem ontologischen Verhältnis seinsmäßiger Analogie steht. Davon bleibt natürlich die strukturontologische Analogie zwischen beiden genannten Hilfe-Beziehungen unberührt. Man darf diese nur nicht gegen das seinsanaloge Verhältnis zwischen den Beziehungsgliedern als solchen ausspielen. Diese beiden Analogien – die Struktur-Analogie der HilfeBeziehung und die Seinsanalogie der Helfer-Klienten-Beziehung – liegen ontologisch gesehen auf zwei verschiedenen Ebenen, wobei allerdings die Strukturanalogie der Hilfe-Beziehung die Seinsanalogie der Helfer-Klienten-Beziehung als eine ontologisch notwendige Bedingung ihrer Möglichkeit voraussetzt, nicht aber umgekehrt. Diesem ebenso sehr selbstverständlichen Sachverhalt dürfte Heinrich Pompeÿ sicher ebenfalls zustimmen.

Für Heinrich Pompeÿs strukturanaloges Verständnis der Hilfebeziehung Jesu zu den Hilfsbedürftigen und der Hilfebeziehung des/der christlichen Helfers/Helferin zu seinen/ihren Klienten erscheinen mir noch zwei ergänzende Vorschläge sachlich geboten, die ich im Folgenden kurz erläutern will.

3.1 Erster Ergänzungsvorschlag zu Heinrich Pompeÿs Verständnis des strukturanalogen Verhältnisses zwischen der Hilfebeziehung Jesu zu den Hilfsbedürftigen und der Hilfebeziehung des/der christlichen Helfers/Helferin zu seinen/ihren Klienten: Die Unterscheidung zwischen einem Haupt- und einem Nebenanalogat in der strukturontologischen Analogie zwischen beiden Hilfebeziehungen

Über die mir bekannten Überlegungen Heinrich Pompeÿs zum strukturanalogen Verhältnis zwischen den beiden genannten Hilfe-Beziehungen hinaus könnte und sollte man auch noch ein sog. Hauptanalogat von einem Nebenanalogat der strukturontologischen Analogie zwischen beiden Hilfe-Beziehungen voneinander unterscheiden. Denn wie das analoge Prädikat in einem der beiden Glieder einer Analogie, nämlich im sogenannten Hauptanalogat, vollumfänglich verwirklicht ist, während es im Nebenanalogat nur eingeschränkt und teilweise verwirklicht ist, so stellt im vorliegenden Fall eines strukturanalogen Verhältnisses zwischen den beiden Hilfe-Beziehungen die Hilfebeziehung Jesu Christi zu den Hilfsbedürftigen gleichsam das Hauptanalogat dar, in dem der ideale Sinngehalt einer helfenden und heilenden Beziehung vollkommen verwirklicht ist, während jede zwischenmenschliche Hilfebeziehung diesen Sinngehalt stets nur approximativ und nie ganz zu verwirklichen vermag und damit gleichsam nur das Nebenanalogat einer helfenden Beziehung sein kann. Dieses, das Nebenanalogat, aber verwirklicht den Sinngehalt des analogen Prädikats, d.h. in unserem Fall der helfenden, heilenden Beziehung, durch Teilhabe an dem Hauptanalogat, d.h. hier der Hilfebeziehung Jesu Christi. Diese Unterscheidung zwischen einem Haupt- und einem Nebenanalogat in einem analogen Verhältnis ist daher auch auf ein strukturanaloges Verhältnis wie dasjenige zwischen den beiden genannten Hilfebeziehungen anwendbar.

3.2 Zweiter Ergänzungsvorschlag zu Heinrich Pompeÿs Verständnis eines strukturanalogen Verhältnisses zwischen der Hilfebeziehung Jesu zu den Hilfsbedürftigen und der Hilfebeziehung des/der christlichen Helfers/Helferin zu seinen/ihren Klienten: Die Beachtung der größeren Unähnlichkeit (im Vergleich zur Ähnlichkeit) zwischen beiden Hilfebeziehungen14

Gemäß der von dem IV. Laterankonzil (1215) formulierten Analogieregel ist die Unähnlichkeit bei affirmativen analogen Aussagen über Gott und sein Handeln größer als die Ähnlichkeit zwischen den beiden Gliedern dieses analogen AussageVerhältnisses, d.h. zwischen der geschöpflichen Wirklichkeit, die analog von Gott ausgesagt wird, und Gott selbst. Diese Regel findet ihre angemessene Begründung in der Transzendenz und Erhabenheit des vollkommenen, unübertrefflichen Gottes gegenüber seiner Schöpfung. Sie ist aber auch auf das strukturanaloge Verhältnis zwischen der Hilfebeziehung Jesu Christi zu den Hilfsbedürftigen und der Hilfebeziehung christlich motivierter menschlicher Helferinnen und Helfer zu ihren Klienten deshalb anwendbar, weil nach christlichem Glauben in der Hilfebeziehung Jesu Christi zu den Hilfsbedürftigen Gottes eigenes, Heil und Erlösung stiftendes Handeln am Werk ist. Deshalb ist es nicht nur legitim, sondern auch geboten, die Regel der größeren Unähnlichkeit gegenüber der Ähnlichkeit im Vergleich beider Hilfebeziehungen miteinander zur Geltung kommen zu lassen. Mit anderen Worten: Gottes Heilshandeln in Jesus Christus an den Menschen ist der Hilfebeziehung der christlichen Helferinnen und Helfer zu ihren Klienten unähnlicher als sie ihnen ähnlich ist. Denn die Hilfe Jesu kann den Hilfsbedürftigen zu ihrem umfassenden und endgültigen Heil gereichen, wenn sie sich ihm öffnen, während dies bei zwischenmenschlichen Hilfebeziehungen nicht und niemals der Fall sein kann. Auch christlich motivierte Hilfebeziehungen können daher die Hilfebeziehung Jesu zu den Menschen nicht ersetzen; sie sollen diese vielmehr im Idealfall gleichsam zum Vorschein und zum Ausdruck bringen, indem sie die Hilfsbedürftigen durch ihre Zuwendung zumindest indirekt auf diese völlig einzigartige und für das Heil jedes Menschen unersetzliche Hilfebeziehung verweisen und aufmerksam machen. Denn umfassendes und zureichendes Heil schenken kann kein Mensch, sondern nur der Mensch gewordene Gott den hilfsbedürftigen Menschen. Menschliche Helferinnen und Helfer aber können und sollen aus christlicher Sicht auch zum Mittler/in dieser einzigartigen Hilfebeziehung werden.

3.3. Zu Heinrich Pompeÿs Verständnis eines korrelativen und kompatiblen Verhältnisses zwischen der Hilfebeziehung Jesu zu den Hilfsbedürftigen und der Hilfebeziehung der christlichen Helferinnen und Helfer zu ihren/seinen Klienten

Die beiden miteinander verglichenen Hilfe-Beziehungen werden von Heinrich Pompeÿ auch als korrelative und als miteinander kompatible Beziehungen bestimmt. Was versteht Heinrich Pompeÿ jeweils unter diesen Bezeichnungen?

Im Unterschied zum logisch-philosophischen Gebrauch des Korrelationsbegriffs zur Bezeichnung eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses schließt sich Heinrich Pompeÿ der Verwendung dieses Begriffs in den empirischen Humanwissenschaften an, nach denen eine Korrelation das gleichzeitige empirische Auftreten zweier voneinander verschiedener Merkmale oder Strukturen bezeichnet, zwischen denen ein kausaler Zusammenhang nicht nachweisbar ist.15