Theologie der Caritas

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Bibliographie

Bauman, Zygmunt, Flüchtige Moderne, Frankfurt 2003.

Baumann, Klaus, Caritaswissenschaft: Ihre Ursprünge und Aktualität, in: Caritas 2016. neue caritas-Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg 2015, 139-145.

Confessio Augustana Artikel 7: Von der Kirche, zitiert nach https://www.ekd.de/glauben/grundlagen/augsburger_bekenntnis.html (zuletzt überprüft 31.01.2017).

Cor unum (Hg.), „Deus caritas est“. Dokumentation des Internationalen Kongresses über die christliche Liebe, Vatikan 2006.

Cordes, Paul Josef Kardinal, Drei Päpste – Mein Leben, Freiburg 2014.

Ebertz, Michael N./Segler, Lucia, Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Die Würzburg-Studie, Würzburg 2016.

Eidt, Ellen/Eurich, Johannes, Art. Diakoniewissenschaft, in: Friedrich, Norbert / Baumann, Klaus et al. (Hgg.), Diakonie-Lexikon, Göttingen 2016, 121-123.

Haslinger, Herbert, Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche, Paderborn 2009.

Hentschel, Anni, Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie, Neukirche-Vluyn 2013.

Müller, Philipp, Joseph Ratzinger und das Zweite Vatikanische Konzil – eine pastoraltheologische Perspektive, in: Trierer Theologische Zeitschrift 125, 2016, 265-284.

Pompeÿ, Heinrich, Caritas theology – theological foundations and shape of the church’s charitable ministry. in: Dal Toso, Giampetro/Pompeÿ, Heinrich/Gehrig, Rainer/Doležel, Jakub, Church Caritas ministry in the perspective of Caritas-theology and Catholic social teaching Olomouc 2015, 31-90.

Reber, Joachim, Spiritualität in sozialen Unternehmen. Mitarbeiterseelsorge –spirituelle Bildung – spirituelle Unternehmenskultur, Stuttgart 2009.

Sigrist, Christoph/Rüegger, Heinz (Hgg.), Helfendes Handeln im Spannungsfeld theologischer Begründungsansätze, Zürich 2014.

Zeil, Petra, Jeder Mensch ist uns der Liebe wert: Benedict Kreutz als zweiter Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Würzburg 2016.

1 Einige verstreute Hinweise gibt er dazu auch in seinem autobiographischen Werk: Paul Josef Kardinal Cordes, Drei Päpste – Mein Leben, Freiburg 2014.

2 Vgl. Klaus Baumann, Caritaswissenschaft: Ihre Ursprünge und Aktualität, in: Caritas 2016. neue caritasJahrbuch des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg 2015, 139-145.

3 Petra Zeil, Jeder Mensch ist uns der Liebe wert: Benedict Kreutz als zweiter Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Würzburg 2016.

4 Vgl. Ellen Eidt, Johannes Eurich, Art. Diakoniewissenschaft, in: Norbert Friedrich, Klaus Baumann et al. (Hgg.), Diakonie-Lexikon, , Göttingen 2016, 121-123.

5 Vgl. jüngst die Befunde der sog. „Würzburg-Studie“: Michael N. Ebertz, Lucia Segler, Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Die Würzburg-Studie, Würzburg 2016.

6 Vgl. u.a. Joachim Reber, Spiritualität in sozialen Unternehmen. Mitarbeiterseelsorge - spirituelle Bildung - spirituelle Unternehmenskultur, Stuttgart 2009, und den Beitrag von Klaus Kießling in diesem Band.

7 Vgl. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt 2003.

8 Vgl. Anni Hentschel, Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie, Neukirche-Vluyn 2013; Herbert Haslinger, Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche, Paderborn 2009.

9 Vgl. seine Ansprache an die Teilnehmer des Kongresses von Cor unum vor der Publikation der Enzyklika Deus caritas est am 24. Januar 2006, abgedruckt in: Cor unum (Hg.) „Deus caritas est“. Dokumentation des Internationalen Kongresses über die christliche Liebe, Vatikan 2006, 7-10, hier: 9: „Mir ging es jedoch gerade um die Einheit der beiden Themen, die nur dann richtig zu verstehen sind, wenn sie als ein einziges gesehen werden.“

10 Confessio Augustana Artikel 7: Von der Kirche, zitiert nach https://www.ekd.de/glauben/grundlagen/augsburger_bekenntnis.html (zuletzt überprüft 31.01.2017). Die Erwähnung dieser ekklesiologischen Differenz möge hier genügen. Vgl. Christoph Sigrist, Heinz Rüegger (Hgg.), Helfendes Handeln im Spannungsfeld theologischer Begründungsansätze, Zürich 2014.

11 Vgl. Philipp Müller, Joseph Ratzinger und das Zweite Vatikanische Konzil – eine pastoraltheologische Perspektive, in: Trierer Theologische Zeitschrift 125, 2016, 265-284.

12 Vgl. u.a. Heinrich Pompeÿ, Caritas theology – theological foundations and shape of the church’s charitable ministry. in: Giampetro Dal Toso, Heinrich Pompeÿ, Rainer Gehrig, Jakub Doležel, Church Caritas ministry in the perspective of Caritas-theology and Catholic social teaching Olomouc 2015, 31-90.

Philosophische Grundlagen und Perspektiven

Die Deutung gelingenden Lebens als des maßgeblichen Humanum

Rainer Marten

I.

Eine der großen Fragen griechischer Philosophie war, ob es für sinnlich-geistiges Weltverhalten, also für alles, was unter Beobachten, Erfahren, Erkennen und Wissen fällt, etwas wirklich Festes und Verbindliches gibt, oder ob alles dem Ungefähr ausgesetzt ist, dem Meinen, Fürwahrhalten, Sichtäuschenlassen. Gibt es Bleibendes und Unveränderliches, das für jeden menschlichen Zugriff das Selbe ist? Gibt es bleibend Wirkliches? Gibt es Wahrheit? Das ist eine Frage der theoretischen Philosophie. Die entsprechende Frage der praktischen Philosophie, die sich nicht an die Lebenswelt, sondern an den Menschen selbst richtet, fragt, ob der Mensch ein Selbst hat, ob er selbsthaft sein kann, oder ob Mächtigeres ihn und sein Leben in der Hand hat, er also eigentlich nichts ist, nichts, was für sich selbst bestehen, nichts, was zu sich selbst stehen kann.

Die paulinische und johanneische Christologie gibt Grund daran zu zweifeln, dass der Mensch selbsthaft ist. Zuvor hatte schon Aristoteles einen Menschen gedacht, der nicht eigentlich Mensch und somit als Mensch eigentlich nichts ist: den Sklaven. Der sei zwar Mensch von Natur, aber nicht seiner selbst, sondern Mensch eines Anderen.1 Paulus versteht das für sich nicht anders. Er erklärt sich als Sklave Christi Jesu. Das ist ernst gemeint. Kein Wunder, dass er in seinem Leben und Sterben nicht sich gehört, sondern „des Herrn ist“ (tou kyriou esmen, Domini sumus).2 Das aber heißt für den Apostel: „ich lebe nicht mehr als ich selbst, sondern Christus lebt in mir“.3 Sie sehen, es ist nicht leicht, vor christlichen Theologen und Christusgläubigen über das Humanum zu sprechen, wenn einer das Wort hat, der sich nicht als christlicher Philosoph versteht, sondern schlicht als Philosoph. Nur so nämlich weiß er sich frei in seinem Nachdenken.

Der Mensch, in dem Christus lebt, ist nicht als Mensch, sondern als Christ selbsthaft, und dies nicht kraft seiner selbst, sondern durch die Gnade Christi. Paulus deutet den Sprung, den der Glaube vom Alten zum Neuen Testament macht, als den vom „ersten Adam“ zum „letzten Adam“, vom irdischen ersten Menschen, der ein beseelter Leib ist, zum zweiten Menschen, der vom Himmel kommt. Das ist ein ganz anderer Mensch, der nicht leibhaft lebt, sondern als Leben schaffender Geist.4 Der Mensch des Alten Testaments hat einen irdischen Leib und wird wieder zu Erde, der Mensch des Neuen Testaments hat in seiner Vollendung einen geistigen Leib (sôma pneumatikon) und hat seinen letzten Ort für immer im Himmel, wenn nicht ein letztes Gericht ihn mit seiner pneumatischen Natur für immer dem unlöschbaren Feuer (pyr asbestos) überantwortet. Aber schon zeit seines leiblichen Lebens ist es Gott, der den Gläubigen erhält,5 nicht er selbst, weil er sein lebendiges Selbst in Christus hat, nicht in sich selbst. Mit seinem anrührenden Wort von den Vögeln des Himmels verweist Christus auf die, die sich nicht nach Menschenart um die Erhaltung des Lebens sorgen, „und der himmlische Vater ernähret sie doch“. Selbsterhaltung wird zu einem Begriff der Aufklärung (Thomas Hobbes). Wer nicht mehr glaubt, dass Gott die Sonne scheinen lässt und so durch Wärme und Gedeihenlassen für den Erhalt des Menschen sorgt, der ist auf sich selbst angewiesen.

Nein, so leicht ist Selbsthaftigkeit, die wirklich die des Menschen wäre, auch bei Philosophen nicht nachzuweisen. Dass das, was als Humanum gedacht ist, weit eher nach einem Divinum aussieht, lässt sich von Aristoteles bis Kant verfolgen. Für Aristoteles ist der Mensch das vernunftbegabte Lebewesen, fähig, sich untereinander über das Zuträgliche und Abträgliche, Gerechte und Ungerechte zu verständigen. Die tätige Vernunft aber gilt ihm als das Göttliche am Menschen, das für das eigentliche Menschsein zu nehmen ist.6 Zwar sieht er als Ontologe und Biologe Selbsterhaltung positiv, die aber als das natürliche Werk, sich in seiner Art fortzuzeugen, das eines unteren, nicht das des göttlich-vernünftigen Seelenteils ist.7 Damit ist „Selbst“-Erhaltung Sache einer Naturkraft, nicht aber die des Selbst. Der Mensch selbst ist Vernunft, die ausgerechnet als das, was am meisten Mensch ist (malista anthrôpos), sein Göttliches sein soll.8

Dass das Divinum das eigentliche Humanum ist, wird von Kant nicht ebenso klar gesagt, aber nicht weniger so gedacht. Der leibhaftige Mensch, der Mensch, wie er erscheint, ist nicht wirklich Mensch, wenn es nach reiner Vernunft und gutem, weil vernünftigen Willen geht. Der leibhafte Mensch sei „nur eine Erscheinung seiner selbst“, nicht also der Mensch selbst.9 Der Mensch als Person hat keinen Leib. Der leibhaftige Mensch ist „Sache“ und damit Instrumentalisierbares, nicht Zweck an sich selbst. Das muss man erst einmal auf sich wirken lassen: Keiner von uns hier ist er selbst, es gelänge denn einem, als reine Vernunft präsent zu sein. Das aber ist, wie ich vorweg verrate, nicht möglich, da es keine Vernunft gibt, die nicht emotional gebunden wäre.

 

Nein, dass auch Philosophen das menschliche Selbst in höhere Regionen verlegen, als der lebendige Mensch sie bewohnt, macht die Entselbstung des Gläubigen bei Paulus nicht zugänglicher, zumal diese ihren Höhepunkt erst in seiner Theologie der Gerechtigkeit und der Liebe findet. Ich beschränke mich hier auf die Liebe. Wieder begegnen wir dem Sprung vom Alten zum Neuen Testament, durch den der Mensch zu etwas ganz anderem wird, als wir sind. Wie Paulus auf den Geist setzt und gegen das Fleisch Stellung bezieht, verbannt er aus dem Gläubigen, in dem Christus lebt, alles Erotische. Das Wort der Genesis, das der Zusammengehörigkeit von Mann und Frau die Würde des Humanum gibt, „und die Zwei werden ein Fleisch sein“,10 wird von Paulus zitiert, um zu demonstrieren, dass dem Menschen, der nicht Geist, sondern Fleisch ist, nichts als sündenhafte Hurerei bleibt. Der Mann, der einer Frau anhängt, hängt als Hurer einer Hure an. Für Paulus lässt das „ein Fleisch“ keine andere Deutung zu. Wer dagegen dem Herrn anhängt, der ist mit ihm „ein Geist“ (hen pneuma). Sind Zwei ein Fleisch, dann sind sie eine Sünde, ein Abfall vom Herrn. Der Gläubige hat kein Fleisch, hat unmöglich Verlangen nach einem anderen Menschen. Sein fleischloser Leib ist Tempel des Geistes Christi, ist also, anders als das Fleisch, nichts selbsthaft Eigenes. Der selbsthafte Mensch kann nur sündhaft sein. Der Leib eines Gläubigen dagegen ist erst gar nicht für den Eros disponiert. Hier fällt das Wort, dass die dem Herrn anhängen, nicht sich selbst gehören (ouk este heautôn). Der pneumatische Leib, der den Gläubigen mit dem Geist Christi einen Geist sein lässt, ist von göttlicher Selbsthaftigkeit. Fleisch und Geist, wie Paulus bekräftigt, liegen unversöhnlich miteinander im Streit,11 ja er wagt das Bild, dass alles Fleisch mit seinen Leidenschaften und Lüsten gekreuzigt gehöre.12

Das ist keine gute Ausgangslage, um einem Humanum Gestalt zu geben, dass kein Divinum ist. Soll, ja muss denn ein Humanum, werden Theologen und Gläubige fragen, nicht ein Divinum sein? Nun ist es Grundsatz monotheistischer Religionen „Der Mensch ist nicht Gott“. Allmacht und Ohnmacht sind nicht vermittelbar. Wer es mit dem Buch Hiob hält, weiß, dass alles Recht bei Gott ist und selbst der gerechteste Mensch kein Recht hat, mit Gott zu rechten. Als das Hiob spät, aber nicht zu spät einsieht und sich in Staub und Asche vor dem einzigen Rechthaber niederwirft, erhält er alles doppelt zurück, was Gott ihm zur Strafe genommen, nur die Kinder an gleicher Zahl, freilich schöner. Nein, wie es der Theologe will und womit sich selbst Philosophen befreunden: Die Grenze hält nicht. Heißt es im Gilgameschepos, dass Götter sich die Unsterblichkeit allein vorbehalten, Gilgamesch also bei allem Unsterblichkeitsbemühen nicht mehr erreichen konnte, als Herr im Totenreich zu werden,13 so denkt, glaubt und hofft Paulus anders. Für ihn steht als Ziel das „von Angesicht zu Angesicht“, ja die Vereinigung mit Gott fest. Einem Humanum, das seinen Namen verdient, ist damit à-Dieu gesagt.

Begegnen Menschen einander, dann ist in der Regel Selbstsein im Spiel. Bei der Nächstenliebe, in die Paulus die göttliche Gesetzgebung zusammenfasst14, ist das nicht der Fall. Sie lässt keine Selbsthaftigkeit zu, sondern verlangt unterwürfigen Gehorsam: Sie ist die Erfüllung des Gesetzes (plêrôma oun nomou hê agapê). Wie Gott den Gläubigen nicht selbsthaft rechten lässt, so lässt er ihn auch nicht selbsthaft lieben. Gott, der den Menschen zuerst geliebt hat15, wodurch er ihn dazu bewegt, Gott zu lieben, schenkt in seiner Liebe dem Menschen keine Selbsthaftigkeit, im Gegenteil: Hoti theos agapê estin, quoniam Deus caritas est, „denn: Gott ist Liebe“16 – der dem Johannesevangelium zugetane Briefschreiber, der durch die Idee des liebenden Gottes der Gemeinde ein Vorbild für das Miteinander geben will, predigt ihr damit Gegenliebe zu Christus, nicht Menschenliebe. Der Nächste ist hier christlich gesehen: Ihn zu lieben fordert, in ihm den Geist Christi zu lieben. Auch die Liebe zu sich „selbst“ gilt keiner eigenen Herrlichkeit, sondern dem „Herrn“. Bereits im Alten Testament ist Nächstenliebe als liebende Fürsorge für die Geringsten (penestatoi) und Ärmsten ausdrücklich Ehrung Gottes.17 Ist für Kant die Würde des Menschen dadurch gegeben, dass es seine Wesensbestimmung ist, selbsthaft vernünftig zu sein, dann für den Gläubigen durch den ihm einwohnenden Geist Christi. Beide haben keinen Zugang zu der Einsicht, dass Menschenwürde praxisdefinit ist, d.h. dass sie nur dort wahr wird, wo Menschen einander als Menschen behandeln, schätzen und eben würdigen. Die Vorstellung ist zu verabschieden, Würde sei ursprünglich Mitgift jedes Einzelnen – entweder rein durch seine Kreatürlichkeit oder durch seine Vernunftbestimmtheit. Nein, dazu bedarf es der zwei und drei.

Das durch die Tora in die Glaubenswelt eingebrachte Gesetz der Nächstenliebe fordert eine dem Geist Gottes dienende Liebe. Sie folgt keiner Gesellschaft und Gemeinschaft verpflichtenden Rationalität, sondern ist Sache des gläubigen Herzens.18 Als Bild kann ihr das Verhältnis von Mutter und Kind dienen, nicht das von Mann und Frau. Paulus‘ berühmtes Wort „aber die Liebe ist die größte unter ihnen“19 ist nicht zu Hochzeitspaaren gesprochen. Nächstenliebe ist geschlechtsindifferent, wenn doch ihre Taten als Gesetzeserfüllung den gläubigen Geist fordern. Gilt ihre Zuwendung auch Gebrechlichen und Hinfälligen, so ist sie in erster Linie eine geistige. Doch von der Liebe zwischen Mann und Frau trennt sie noch mehr als die in ihr dominante gläubige Geistigkeit. In der geschlechtlichen Indifferenz liegt auch schon, dass sie im Verhältnis zum Anderen keine selbsthafte Zweiheit bildet. So provokant das für Sie klingen mag: Nächstenliebe ist solipsistisch. Allein Gott kann für den Gläubigen selbsthaft sein. Handelt Nächstenliebe in göttlichem Geiste, dann im Auftrag des einen Selbst. Es ist die wunderbare Sicht des Glaubens, die in den Anderen nichts Andersartiges, sondern Gleichartiges sieht. Brüder und Schwestern in Christo. Genau das unterbindet die Ausbildung selbsthafter Alterität.

Alle einseitig dem Geist verpflichtete Menschendeutung kann nur eine auf den Einzelnen ausgerichtete sein. Soll ein Mensch Anderen gegenüber vernünftig handeln, dann verlangt Kant von ihm, das rein um des Vernunftgesetzes willen zu tun, ohne jede Gefühlsbegleitung. Philanthropie ist für ihn der Tod aller Moralität, weil sein Sittengesetz das reine Selbsterhaltungsgesetz der Vernunft ist. Er könnte das Paulus und jenem Briefschreiber abgeschaut haben. Es geht um ein Höherem verpflichtetes Tun, als es das lebensteilige Gelingen ist. Ich weiß, ich rede damit an der Praxis christlicher Gemeinden vorbei, und ich tue das bewusst. Als Philosoph betreibe ich nicht Feldforschung, verfolge ich nicht Interessen einer empirischen Soziologie, sondern halte ich mich an den christlichen Geist, wie er in den für ihn verbindlichen Schriften vorgezeichnet ist.

II.

Als Philosoph, der sich interdisziplinär umgesehen hat, behaupte ich, dass Menschwerdung eins ist mit Selbstwerdung. Um ein Selbst werden und sein zu können, bedarf es des Umgangs mit anderen Selbsten. Sind für den, der dem „Herrn“ folgt, Glaube, Liebe, Hoffnung die Wegzehrung, dann für den, der auf dem Wege der Bildung des Selbst ist, leibhafte Lebendigkeit, Geselligkeit und Geschlechtlichkeit. Heißt das Motto zum 1. Kapitel von De imitatione Christi des Thomas a Kempis „Folge Christus nach und lerne verschmähen, was vergänglich ist“20, dann könnte für den sein Selbst Bildenden das Motto lauten: „Lerne dich selbst zu sehen im Anderen“.

Wir kommen nicht mit einem Selbst auf die Welt. Der Neugeborene ist ohne Selbstsein. Es ist die Mutter, gerne auch die eindeutige Bezugsperson, die ihn mit Selbstsein belehnt. Für den Säugling ist der erste Schritt in Richtung der Bildung eigenen Selbstseins das Sichselbstkennenlernen, seine Selbstwahrnehmung. Die aber ist nur möglich durch das In-Resonanz-Kommen mit Anderen. Ein einfaches Beispiel: Der Andere öffnet den Mund, der Säugling ahmt das nach und öffnet ebenfalls den Mund. Ich erspare es uns, Näheres von dem zu erzählen, wie das Selbst sich dadurch bildet, dass Einer seinen Körper durch Spiegelung kennen und regulieren lernt, seine Gefühle und alles, was das Selbst ausmacht, das nie etwas Fertiges ist, sondern ständig im Umgang mit anderen Selbst dazugewinnt.

Das Wissen, dass Selbstsein sich dem Einander verdankt, ist alt. Ich habe schon früh Aristoteles mit dem erstaunlichen Wort zitiert: „Wenn wir unser Gesicht sehen wollen, sehen wir in den Spiegel, wenn uns selbst, auf den Freund, denn er ist, wie wir sagen, das andere Ich (heteros egô).“21 Gott dagegen, wie er bemerkt, kann keinen Freund haben, weil er autark ist,22 ein indirekter Beweis dafür, dass wir zu unserem Glück nicht autark sind, sondern zur Bewährung unseres Selbst Andere brauchen. Wir alle, die zu geistigem Austausch und zur Würdigung eines Menschen hier zusammengekommen sind, beweisen durch unsere selbsthafte Präsenz, leibhaft wie geistig, dass wir das Bedürfnis haben, einander zu brauchen und füreinander fruchtbar zu sein. Bevor ich auf den dritten Fundus unserer Selbsthaftigkeit eingehe, auf die Geschlechtlichkeit, muss ich Sie an etwas Wichtiges erinnern: Wir alle, die wir hier als gelungenes Selbstsein Gegenwart teilen, sind Künstler, genauer gesagt, Lebenskünstler, wobei ich dem Wort eine Bedeutung gebe, die ihm seine übliche Banalität nimmt.

Dank Lebenskunst agieren wir in einer höheren Lebenswirklichkeit, als es die der Lebenserhaltung und –bewältigung ist. Lebenskünstlerisch gelingt es, ohne darum selbstherrlich zu werden, uns auf der Ebene zu wissen, die das Humanum in Aussicht stellt. Der vorgegebenen Thematik des Vortrags kann ich nur gerecht werden, wenn ich von der selbstlosen Rede „Ich bin bloß ein Mensch“ zur selbsthaften wechsle: „Ich bin sogar ein Mensch“. Läßt Jahwe, wie beim Propheten Hosea zu lesen, gegenüber dem Volk Israel, seinem hurerischen Weib, Gnade vor Recht ergehen – hier paaren sich unerforschliche Gerechtigkeit und unerforschliche Liebe –, dann lautet die Begründung des erstaunlichen Tuns: „deswegen bin ich Gott und nicht Mensch“ (dihoti theos egô eimi kai ouk anthrôpos).23 Das vom Wechsel von feurigem Zorn zu barmherziger Liebe überraschte Volk ist der auf Distanz gehaltene Mensch. Gehört nun zum Menschen Selbstsein, dann hat er auch das Recht zu sagen: „deswegen bin ich Mensch und weder Halbgott noch Gott“, ohne damit die Möglichkeit jüdischer und christlicher Religiosität zu verneinen. Doch dazu später ein Wort.

Der erste schöpferische Akt des Lebenskünstlers besteht darin, sich selbst und das eigene Leben ernst zu nehmen. Damit verwandelt sich alles, was als Banalität des Lebens, seines Auslebens und seiner Bewältigung vorgegeben sein mag. Der Ernst nimmt dem Leben nicht die Freude, im Gegenteil. Jetzt erst, auf der Ebene der Lebenskunst, erhält es in allen seinen Zügen einen sonst unbekannten Glanz. Es hat seine Zufälligkeit verloren. Ich bin mir selbst wichtig geworden und mit mir die Anderen. Wer sagen kann „Ich bin mir selbst notwendig und mit mir mein Leben“, wer damit schon mitsagt, „Mir sind die Anderen und ihr Leben notwendig“, der hat sich von jedem Fatalismus befreit, vom Gefühl der Belanglosigkeit von allen und jedem. Das Leben ist jetzt ein gesteigertes, und dies in allem Tun und Empfinden, Erfahren und Ergehen. Wer die Querelen kennt, den Gedanken zu rechtfertigen, dass Gott ein Ens necessarium ist, der ahnt, was es bedeutet, sich als lebenskünstlerisch Agierender notwendig zu wissen. Auf neue Art ist Leben das kostbare Gut geworden, das ja nicht zu verschleudern, sondern fruchtbar zu machen ist. Der Lebenskünstler, von dem ich rede, fragt nicht, was er vom Leben haben, wie er in ihm auf seine Kosten kommen, sondern, was er ihm geben kann. Mit dieser Frage ist er auf dem Weg des menschlichen Gelingens angelangt, den die leibhaftige und gesellige Lebendigkeit als den der Lebensteilung vorzeichnet. Wer sein Leben ernst nimmt, nimmt das des Anderen unmöglich weniger ernst. Wer sich selbst nötig geworden ist, dem sind es auch die Anderen, mit denen das Leben zu teilen ist. Das Ich und das Du, das Mein und das Dein verschränken sich; sie bedingen einander. Das Teilen beginnt mit so Einfachem wie dem Teilen von Sichten. Für Aristoteles gehört zum aistanesthai notwendig das synaisthanesthai.24 Was für eine belebende Freude ist es, den Blick auf Natur und Kunst zu teilen! Die gewohnte Alltäglichkeit des Sehens ist überhöht. Sichten zu teilen ist eine der großen und bedeutenden Spielarten der Lebenskunst, die sich nicht weniger im Teilen von Tisch und Bett, von Sichsorgen und Verantwortung Tragen bewährt.

 

III.

Der Mensch, der sogar ein Mensch ist, ist sich ein Rätsel. Die alte Menschenfrage „Woher und wohin, warum und wozu?“ kann auch er nicht beantworten, ja er lebt davon, sie nicht beantworten zu können. Das Leben mit seinem Geborenwerden, Aufwachsen, Lieben, Leben Weitergeben, Altern und Sterben – das stellt dem Menschen immer neu die Frage nach sich selbst. Besonders seine Endlichkeit erweist sich als Schatzbewahrer des Nichtwissens. Der Mensch braucht sein Geheimnis: Es gibt ihm die Chance, die Unbeantwortbarkeit der Frage, die er sich selbst ist, zu gestalten. Das ist die Stunde der Poesie, nicht zuletzt der religiösen, die dem Menschen Glaubenstatsachen und -wahrheiten vor Augen stellt, voll von Sinngebung und Befeuerung des Gemüts. Damit ist die Möglichkeit gegeben, selbsthaft Religiosität auszutragen, und zwar in dem Bewusstsein, ein Mensch zu sein und zu bleiben, ein Mensch, der sich nicht auf sich selbst als Einzelner entwirft, sondern als leibhaft Lebendiger sich in Lebensteilung mit Anderen übt.

Erste Züge des Humanum zeichnen sich ab. Es ist ein Werk menschlichen Künstlertums, verdankt sich also der Fähigkeit des Menschen, sich seines Lebens so anzunehmen, dass er es steigert und ihm eine Wirklichkeit verleiht, die um einen Himmel über der liegt, die selbsternannte Ratgeber suggerieren, wenn sie uns erzählen, wie wir als Einzelne am meisten vom Leben haben können. Das Glück in sich und bei sich selbst zu suchen – im eigenen Leib oder in der eigenen Seele -, das ist der Weg ins Selbstische, das selbsthaftes Gelingen gefährdet, ja unmöglich macht. Seit Adam Smith25 ertönt dieser Ruf: „Sei selbstisch, wenn du auf der Gewinnerseite sein willst!“ Es ist die Freiheit des Liberalismus, die sich darin als gegeben und gewährleistet versteht, dass der Einzelne seine, und nur seine Interessen verfolgen kann. Wer nichts als sie im Sinn habe, sei durch eine „unsichtbare Hand“ geführt, die aus praktischer Blindheit für Andere das Gemeinwohl entspringen lasse.26 Die Maxime „Sei selbstisch!“ ist in der Verfassung der USA in die Form „Pursuit of Happiness“ gebracht, selfishness, der Tod des Humanum, als garantiertes Verfassungsrecht. Dieses Verfassungswort gibt dem Vitalismus recht und verbrieft als bürgerliches Grundrecht das Recht des Stärkeren. Findet Wissenschaft für menschliches Selbst das Wort Fluidum, dann passt dies Bild auch für das Humanum: Es ist nichts, das jemals zu etwas Festem und Bleibenden gerinnt. Ständig ist es in Entwicklung begriffen. Das ist für die grundständige Ungerechtigkeit unter Menschen bedeutsam, für diese Ungleichheit als Ausgangslage des Lebens und Handelns. Der Kampf für den Ausgleich ist jeden Tag neu zu führen. Es ist der Kampf gegen die Pervertierung des Selbsthaften ins Selbstische, der Kampf gegen das unbehinderte Recht des Stärkeren.

Unter den geschichtlich gewachsenen Ungleichheiten ist die von Arm und Reich von einsamer Dominanz. „Denn Arme habt ihr allezeit (pantote) bei euch“27 – das ist kein einfacher Sachverhalt. Schon Aristoteles spricht von zu Armen und zu Reichen.28 Diese Auswüchse sind nicht hinnehmbar. Zu Reiche ruinieren die politische Gemeinschaft. Das Zulassen, ja systemische Hervorbringen verwahrloster Armut unterbindet die Möglichkeit, dass Arm und Reich das Leben gelingend miteinander teilen. Beider Zu-sehr ist politisch unmöglich zu machen. Bestrebungen jedoch, alle gleich arm bzw. gleich reich zu machen, verfolgen schlechte Utopien. Nun kommt ein gewagter neuer Gedanke: Die Ungleichheit von Arm und Reich, soweit kein Zu-sehr vorliegt, bleibt erhalten, aber das Unrecht, das grundständig in ihr mitgegeben ist, wird aufgehoben und in einen Rechtszustand umgewandelt.

Das Verhältnis von Arm und Reich, in dem, zumindest latent, das ungerechte Recht des Stärkeren herrscht, kann, so mein Gedanke, allein dadurch den Rechtsstatus erlangen, dass beide Seiten aufeinander zugehen, um sich gegenseitig als die anzuerkennen, die sie sind. Gibt es erst einmal im gegenseitigen Einverständnis das Recht, arm zu sein, und das Recht, reich zu sein, so dass Arme und Reiche füreinander gleicherweise im Recht sind, dann ist, bei bleibender Ungleichheit, doch eine Balance hergestellt. Kommt es jetzt zur Konfrontation, wenn Einer beim Anderen etwas erreichen will, dann ist das kein feindlicher, sondern ein guter Streit, eine eris agathê, wie Hesiod sagt. Das verändert auch die Verhältnisse von Helfenden und Hilflosen, Starken und Schwachen. Sie sind, pränormativ, Rechtsverhältnisse geworden. Um ein prägnantes Beispiel zu geben: Der Demente hat ein Recht auf Demenz, was besagt, dass mit dem Recht auf Fürsorge auch eine pränormative Pflicht übernommen wird. Nachdem Demenz durch ihre Häufigkeit zur Lebensform geworden ist, bedarf es keines Mitleids gegenüber den Dementen, um hilfreich für sie tätig zu werden. In dem Recht auf Demenz ist auch das Recht eingeschlossen, nächste Angehörige nicht mehr zu erkennen. Mit der Gewinnung des Rechtszustandes ist eine Entmystifizierung verbunden. Wer jetzt noch von Schicksal spricht, von unverdientem oder verdientem, ja gar von Strafe, muss das selber verantworten – als Poet.

Nun habe ich zum Recht der Armen und Schwachen, arm und schwach, und zum Recht der Reichen und Starken, reich und stark zu sein, noch eine theologische Frage: Ist das Gnade-vor-Recht-ergehen-Lassen, wie es in Hosea und im Römerbrief vorgeführt wird, ein Vorrecht und also Recht Gottes, oder etwas Außerrechtliches, was nach Belieben und Willkür schmeckte? Auch Menschen haben ja die Gelegenheit, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Die Anrede „Gnädigste“ ist veraltet, aber Herrscher haben, angemaßt oder verfassungsgemäß, das Recht der Begnadigung. Was ist es wohl, was dann bei ihnen die Entscheidung herbeiführt: Kalkül, Mitleid, Vorurteil? Meine Frau und ich haben schon früh bei Gottfried Benn die letzten Zeilen des späten Gedichts „Menschen getroffen“ geschätzt:

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,

woher das Sanfte und das Gute kommt,

weiß es auch heute nicht und muß nun gehen.29

Das Recht, selbsthaft Mensch zu sein, das sich im Recht auf Reich- und Arm-, Stark- und Schwachsein spiegelt, kann vor keinem Gericht erstritten werden. Um zu bestehen und wirksam zu werden, bedarf es Kräfte im Menschen, die in der Kraft zum Guten geeint sind. Menschliche und göttliche Güte – ja, das ist die Grundlage für alles, was der Mensch für sich als sein Gelingen bestimmen und erfahren kann. Wie jüdische und christliche Religiosität das Humanum als Divinum deutet, verdankt sich dieses den Menschen übersteigende Gelingen der Güte Gottes. Für diese Güte steht in Seputaginta und Neuem Testament das Wort für Mitleid und Erbarmen. Doch diese Güte kommt nicht aus einem absoluten Gemüt, sondern aus einem mit den Gläubigen verbundenen, da sie sich als Antwort versteht auf das Gebrauchtsein ihrer selbst. Dazu erhält sie in beiden Religionen eine Metapher, die sich auf Menschliches stützt: Die mitleidige, barmherzige, gnädige, liebende Güte ist die des Vaters zu seinen Kindern.30 Dem entnehme ich einen höchst bedeutsamen Hinweis: Güte, wie sie für ein gelingendes rechtliches Divinum und auch Humanum Grundlage ist, hat ihren Ursprung im Familiären: im Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern. Diese Güte ist Praxis, keine einseitige Regung. Wie Gott die Sünder braucht, um Gnade erweisen zu können, und die Sünder den von Sünden erlösenden Gott, so die Eltern die Kinder, um ihre Elternliebe entfalten zu können, und die Kinder die Elternliebe, um ins Leben zu finden.