The S-Files: Die Succubus Akten

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Heumsimilibumflum

Lyxa Knäulspitz

N

un denn …«, sagte die Therapeutin mit dem Namen Helprecht und wandte sich als nächstes dem neuen Paar in der Runde zu, das die ganze Sitzung über schon neugierige Blicke auf sich gezogen hatte.

»Wie Sie wohl alle schon bemerkt haben, dürfen wir heute Abend auch zwei Neuankömmlinge in unserem Kreis begrüßen. Hanna kenne ich schon aus einigen Einzelsitzungen bei mir und ich habe ihr vorgeschlagen, heute doch mit ihrer Partnerin hier an unserer kleinen Selbsthilfegruppe teilzunehmen. Es ist wirklich schön, dass Ihr beide hier seid«, fuhr sie fort und das neue Paar wurde mit freundlichen Grüßen von den anderen vier anwesenden Pärchen empfangen.

»Aber am besten stellt Ihr euch selbst vor, oder?«

Das machte Hanna dann auch: Hanna Talgrund, Lehrerin, auch sehr froh hier zu sein. Ihre Partnerin, welche schon die ganze Sitzung über allen ihr Missfallen durch eine demotivierte Sitzhaltung und diverse verdrießliche Blicke mitgeteilt hatte, stellte sich dann lediglich knapp als Lyzzi vor. Die abwartenden Augenpaare auf sich spürend, besonders die hoffnungsvoll leuchtenden von Hanna, fügte Lyzzi dann widerwillig hinzu: »Lyzzi … uh, Lichtbringer, schätze ich … keine Ahnung, was auch immer.« Dann auf die weitere Frage, was sie denn beruflich täte: »Weiß nicht. Schätze, am ehesten trifft es, wenn ich sage, dass ich ein Sexdämon bin.«

Lyzzi bekam daraufhin sehr viel Zuspruch aus der Gruppe. Man sagte, dass es sehr mutig sei, ihr Suchtproblem so früh und so offen zu benennen und dass es ja nicht wirklich ein »Problem« sei und sie ja nun alle füreinander da seien.

»Nein, nein. Ich bin wortwörtlich ein Sexdämon, ein Succubus, Wesen der Hölle, spezialisiert auf … Sex. Abteilung Sex, Beischlaf und Lust und Begehren und … so weiter«, versuchte Lyzzi zu erklären und verstummte, als sie aus dem Getuschel der Gruppe heraus die Wörter »Metapher« und »Verdrängung« vernahm. Von vornherein wissend, dass die ganze Sache mit der Gruppentherapie ein Fehler gewesen war, wollte Lyzzi schon gehen, doch Hanna hielt sie zurück. Sie erinnerte Lyzzi daran, dass sie versprochen hatte, es doch zumindest zu versuchen. Widerwillig ließ sich die Sexdämonin wieder auf ihren Sitzplatz nieder. Versprechen waren eine ernste Angelegenheit, da wo sie herkam.

»Nun, bevor wir darauf näher eingehen, warum erzählen Sie beide uns nicht etwas mehr über Ihre Beziehung«, schlug Helprecht vor, um das Eis zu brechen.

»Sprecht Ihr zwei darüber nicht eh schon seit Wochen?«, fragte Lyzzi kritisch und blickte zwischen Helprecht und Hanna hin und her, wenig erfreut darüber, dass ihre Beziehung jetzt sogar Teil eines öffentlichen Diskurses mit noch mehr Fremden war.

Hanna räusperte sich. »Nun ja, offensichtlich … ich meine, wir sind jetzt ein gutes Jahr zusammen, sehr glücklich und wir lieben uns – ich liebe dich Engelchen, aus ganzem Herzen.«

»Jaja, ich auch. Bin ja hier deshalb.«

»… wir lieben uns, aber offenkundig gibt es … Probleme.«

Lyzzi seufzte. »Ist das wieder diese Altersunterschied-Sache?«

»Der Altersunterschied?«, fragte nicht nur Helprecht. Hanna und Lyzzi sahen beide relativ gleichalt aus.

»Ja, anscheinend, keine Ahnung. Hanna ist, was war es? Dreißig, uh, Minuten alt?«

»34 Jahre. Das sind sehr, sehr viele Minuten, Liebes …«

»Okay, sicher … und ich bin … Alles alt.« Man fragte Lyzzi verwundert, was dies bedeutete.

»Also seit Anbeginn der Zeit bin ich da. Alles, keine Ahnung. Obwohl nicht ganz. Da war die ganze Sache, wie mein Vater und meine Mutter ihre Jobs verloren haben, umgezogen sind und mich und meine Geschwister dann erst erschaffen haben, aber … uff, weiß nicht. Zeit läuft da unten etwas anders. Im Grunde schau ich hier seit der Antike regelmäßig vorbei. Also, pffft, zwei-, dreitausend Jahre aufwärts, oder so? Mindestens.«

»Das scheint mir natürlich ein sehr großer Altersunterschied«, pflichtete Therapeutin Helprecht bei.

»Und dann ist da natürlich ihr Job«, sagte Hanna und Lyzzi verdrehte wieder die Augen. Helprecht animierte sie dann dazu, doch selber mehr darüber zu erzählen.

»Wie gesagt ich bin ein Sexdämon. Die Hölle gibt es, meinen Vater den Teufel gibt es und wenn man hier oben scheiße ist, landet man da halt und hat ewige Verdammnis. Und dämonische Arbeitsbienen wie mich gibt es halt auch. Ich weiß, niemand hier glaubt das. Ihr Menschen findet die absurdesten Wege, das zu rationalisieren, aber ich bin ein echter Dämon aus der echten Hölle.«

»Mach bitte nicht wieder das Ding mit den Flammen. Das war neulich nicht okay«, appellierte Hanna.

»Weiß ich denn, dass so ein bisschen beschworenes Höllenfeuer so viel Chaos stiftet? Es war deprimierend genug, dass mich deine Freunde für eine professionelle Illusionistin gehalten haben!«

»Ich habe dir von Sprinkleranlagen erzählt. Die sind nicht sehr kompliziert: Feuer gleich Wasser gleich niemand ist glücklich …«, wandte Hanna ein und wurde von Helprecht ermahnt, Lyzzi doch bitte aussprechen zu lassen. Hanna entschuldigte sich.

»Auf jeden Fall, mein Job ist es, quasi, dass Sterbliche mich soweit begehren, dass sie ihre Seele meinem Vater – Satan, Fürst der Hölle – überschreiben und das involviert halt auch, dass ich gelegentlich mit ihnen Sex habe«, erklärte Lyzzi, während Hanna die Arme verschränkte.

»Und ich meine, sie wusste das von Anfang an«, deutete Lyzzi mit dem Daumen auf Hanna. »Ich hab‘ da überhaupt nie ein Geheimnis draus gemacht.«

Jemand aus der Gruppe warf ein, dass Lyzzis Sexsucht aber anscheinend ihre Partnerin belastete und das doch nicht gut sei. Lyzzi verdrehte wieder genervt die Augen.

»Es ist keine Sucht. Es ist nicht mal eine Wahl. Es ist mein Wesen, meine Bestimmung, mein Raison d’Être. Meine Eltern haben mich wortwörtlich darauf ausgerichtet geschaffen.«

Man warf daraufhin erneut ein, dass dies etwas traurig klang. Weiterhin: Dass Eltern ja immer irgendwie versuchten, einen zu kontrollieren. Oder: Dass sie sich nicht darüber definieren müsse und so viel mehr sein könne, wenn sie nur den Mut dazu hätte. Lyzzi versuchte freundlich zu lächeln und genauso freundlich die ganze fluffige Positivität zu ignorieren und niemanden in Brand zu setzen. Auch wenn sie der Überzeugung war, dass dies für alle Involvierten einen sehr therapeutischen Effekt haben würde.

»Und ich merke ja«, fuhr sie nach tiefem Durchatmen fort, »dass Han an einer ‚monogamen‘ Beziehung gelegen ist. Ist nicht so, dass ich noch eine Quote an Seelen zu erfüllen hätte wie früher. Seit soziale Medien erfunden worden sind, vollzieht ihr Menschen Todsünden ja eh quasi im Monatstakt – Monate waren die kleinste Einheit, oder Han? … … … Sekunden? Sekunden waren die kleinste? – Okay, dann im Sekundentakt. Eitelkeit, Zorn, Neid, ich mein, Holla die Waldfee, Seelenseelenseelen. Und, uhm, Außendienstdämonen wie ich haben seitdem kaum mehr wirklich was zu tun. Papa musste einen ganz neuen Zirkel der Hölle dafür aufmachen – und baut immer noch an. Totaler Heimwerker in letzter Zeit. Spricht von nichts anderem mehr, stresst sich total und ich sag dann immer: Papa, entspann dich. Hast doch Ewigkeit und Unendlichkeit. Alles gut.«

Helprecht machte sich indes Notizen. »Lyzzi, Sie erwähnen sehr oft Ihren Vater …«

»Ja, das macht sie sehr oft«, pflichtete Hanna mit einem etwas erschöpften Ton bei.

»Gar nicht«, protestiert Lyzzi, definitiv nicht bereit über dieses Thema mit einer Therapeutin zu sprechen – oder mit niemanden jemals. »Auf jeden Fall hab ich in Sachen Seelen gar keinen Druck mehr und die paar Mal, die ich beschworen wurde, seit wir zusammen sind«, sie überlegte kurz und zuckte die Schultern. »Eigentlich nur ein bisschen Handkram, bisschen oral und … keine Ahnung, sehr viel verrücktes Fetischzeug hauptsächlich. Also nicht mal so wirklich richtig Sex. Ehrlich, ich geb mein Bestes, nicht …«, sie machte Anführungszeichen in der Luft: »Fremdzugehen.« Sie sprach jede Silbe des Wortes aus, als wäre es ein frei erfundenes Fantasiewort, das unmöglich eine echte und ernsthafte Bedeutung haben könnte. Sie hätte genauso gut Heumsimilibumflum sagen können.

»Und Sie haben das Gefühl, dass Ihre Bemühungen von Hanna nicht ausreichend gewürdigt werden?«, fragte Helprecht und Lyzzi stimmte ihr enthusiastisch zu – jetzt plötzlich, da man auch ihre Perspektive einnahm, bedeutend weniger kritisch gegenüber der ganzen Therapiesache. Ja, bemerkte sie, es tat sogar seltsam gut, darüber mal mit anderen zu reden, auch wenn es dumme Nicht-Hanna-Menschen waren.

»Aber das ist gar nicht das Problem, oder Hanna?«, sprach Helprecht in einem pädagogischen Talkshowmaster-Ton. Lyzzi sah ihre Partnerin fragend an. »Nicht?«

Hanna seufzte. »Nein, also toll finde ich‘s natürlich nicht, aber … ich weiß ja, worauf ich mich eingelassen habe und ich weiß, dass du bestimmte Verpflichtungen und auch Bedürfnisse hast. Es ist nur manchmal … zu viel. Zu viel Sex, zwischen uns. Ich hab das Gefühl, du bringst deine Arbeit mit nach Hause. Dass du damit vielleicht auch etwas kompensierst, weil du beruflich nicht mehr so aktiv bist.«

»Zu viel? Zu viel?! Hah! Wie kann das Beste, was es gibt, zu viel sein?«, fragte Lyzzi. Man warf aus der Gruppe ein, dass die Sonne das Beste war, was es gibt, da sie Wärme, Licht und Leben für die ganze Welt spendete. Lyzzi ignorierte das.

»Ich mein, es ist toll«, sagte Hanna. »Befriedigend, auf jeden Fall und immer … mehrmals, aber ich komm in meiner Freizeit fast zu nichts anderem mehr. Ich schlafe zu wenig, die Arbeit leidet, Kollegen und Kolleginnen stellen mir öfter Fragen, warum ich so müde sei und wir beiden reden auch über nichts anderes mehr.«

 

»Schatz, es sind nicht nur Bedürfnisse. Ich ernähre mich auch von menschlicher Lust und wenn wir eine feste Beziehung haben wollen, dann bist du mein kompletter Ernährungsplan.«

»Ich weiß ja, ich weiß. Und das ist auch irgendwie süß von dir, aber …«

»Ich mein, ich würde ja masturbieren«, sagte Lyzzi grinsend an die Runde gewandt. »Aber im Grunde ist das so, als würde ich mich selbst aufessen. Gnah, mnom, mnom, mnom«, sprach Lyzzi fröhlich und tat so, als würde sie ihren eigenen Arm aufessen. Sie starrte dann lachend und erwartungsvoll in die seltsamerweise nichtlachende, sondern betreten auf den Boden blickende Runde.

»… es ist witziger, wenn man es mal bei den Völlerei-Sündern selbst gesehen hat«, erklärte sie kaum hörbar. Sie fand es extrem witzig, aber sie merkte wieder, dass infernaler Humor auf Erden nicht immer so gut ankam.

»Ich wünschte halt, wir würden auch mal was anderes machen«, fuhr Hanna fort. »Nicht immer nur Sex, Sex, Sex so … andauernd.«

»Aber, uh, wir haben da doch neulich das … das Ding gemacht, oder? Was du wolltest?«, wandte Lyzzi rechtfertigend ein. »Filmabend oder wie das hieß. Netflix und … Schiller, Tschilling, Chili oder so?«

Man warf ein, dass sie wohl »Netflix and Chill« meinte und das ja eigentlich auch nur eine Umschreibung für Sex war.

»Ja, das. Auf der Couch aufrecht nebeneinandersitzen und dabei das flache Tafel-Fernseh-Ding ansehen.«

Hanna stöhnte müde und wandte sich an die Runde. »Ja, wir wollten gemeinsam Filme gucken. Ghost – Nachricht von Sam, weil ich dachte, dass er ihr auch gefällt mit den Schattendämon-Geister-Dingern und so, aber eine halbe Stunde in den Film hinein, hat sie dann gesagt, dass es da eine bessere Version gäbe und …«

»Die fand ich halt interessanter. Wir wollten was gucken, was wir beide interessant fanden.«

»Es war eine Pornoversion des Films …«

»Eine Parodie. Du hast gesagt, dass du Parodien magst!«

»Witzige! Keine mit nacktem Schlammringen!«

»Ich fand die sehr witzig!«

Helprecht schritt an dieser eskalierenden Stelle beschwichtigend ein und fragte Lyzzi, ob sie denn »ernährungstechnisch« wirklich so viel Sex bräuchte. Lyzzi gab zu, dass – nein – dies nicht der Fall wäre.

»Ich will halt einfach auch mal etwas anderes machen, weißt du, wie andere Paare auch«, flehte Hanna.

»Lyzzi«, setzte Therapeutin Helprecht nach. »Niemand will, dass Sie Sex komplett aufgeben. Man merkt, wie wichtig Ihnen dieser Part des Zusammenseins ist. Hanna weiß auch, wie wichtig Ihnen das ist«, sagte Helprecht. Allgemeines und verständnisvolles Nicken. »Aber eine Partnerschaft ist ein – Geben und Nehmen«, sagte sie und die letzten drei Wörter wurden im mantraartigen Einklang von der ganzen Gruppe wiederholt.

Lyzzi zuckte zusammen und sah sich irritiert um. Sie fragte sich, ob sie nicht doch schon wieder an irgendwelche Wochenend-Satanisten geraten war, konzentrierte sich jedoch schnell wieder auf das Wesentliche. Weniger Sex? Sie war nicht erfreut, blickte aber auf Hanna und seufzte dann resignierend. »Okay. Fein. Ich schätze … Ich schätze, wir könnten, vielleicht, auch mal, gelegentlich, mehr Nicht-Sex-Sachen machen, ab und zu mal.«

»Gibt es vielleicht etwas, das Sie zuletzt gemacht haben, an dem Sie beide Spaß hatten und das kein Verkehr war?«, fragte Helprecht.

Beide überlegten mehrere Sekunden lang. Tatsächlich war es Lyzzi, der zuerst etwas einfiel.

»Uff … uh, also …. ich mochte es, wie wir neulich, uh, Hummer essen waren.«

»Ja? Ja, stimmt. Das war nett. Ein schöner Restaurantbesuch am Hafen war das«, pflichtete Hanna bei.

»Ja. Lebewesen mit Seele, die bei lebendigem Leibe gekocht werden. Das war … das war schön. Dazu bin ich als Kind auch immer eingeschlafen.«

»Nun, ja. Ich schätze, ja. Das können wir doch vielleicht weiterverfolgen, oder? Öfter mal wiederholen?«, fragte Hanna optimistisch die Therapeutin. Helprecht, die zwar mit etwas mehr Zeit wirklich gerne mit Lyzzi weiter über ihre Kindheit gesprochen hätte, stimmte zu und gab befriedigt mit den erzielten Fortschritten weiter zum nächsten Paar.



Feldstudien

Christina Wermescher

B

edächtig ging Belinda vor dem großen Hasenstall, der hinter dem Haus stand, in die Knie. Sie studierte die verschiedenen Schildchen, bis ihre Augen an einem haften blieben, auf dem in krakeliger Schrift geschrieben stand: »Freddy, Deutscher Riese«. Ein Blick durch das Drahtgeflecht verriet ihr, dass der Name hielt, was er versprach. Freddy war mehr Koloss als Kaninchen, genau das Richtige für heute. Schließlich wollte Belinda an diesem Abend ihre Ruhe haben. Zweifelnd besah sie sich ihren handlichen Picknickkorb, verschwand im Haus und kam wenig später mit einem Kartoffelsack zurück.

Obwohl der Garten von einer hohen Thuja-Hecke umgeben war, schaute sie sich kurz um, bevor sie Freddy mit einem beherzten Griff im Genick packte und in den Sack steckte. Der Kaninchenkoloss wurde nicht müde, panisch zu strampeln. Belinda war versucht, den Sack gegen den Türrahmen zu schlagen, als sie ins Haus zurückkehrte. Doch ohnmächtig oder gar tot würde der Schmaus nicht halb so viel Anklang finden.

Sie ging direkt zur Kellertür. Es hatte keinen Sinn, die unliebsame Begegnung unnötig lange hinauszuzögern. Und je eher sie sie hinter sich brachte, desto eher war sie wieder oben und konnte sich auf den Abend mit Wolfgang vorbereiten. Vorsichtig stieg sie die steile Treppe hinunter. Auf halbem Weg streifte sie ihre High Heels ab. Nicht, dass sie Belinda behindert hätten, sie hatte sich sehr schnell an diese Art Schuhe gewöhnt. Nein, aber sie wollte ihr Gegenüber nicht unnötig reizen. Die Treffen im Keller wurden ohnehin zunehmend unangenehmer.

Barfuß schritt sie durch das Halbdunkel. Nur eine nackte Glühlampe erhellte den Raum spärlich. Als sie vor der massiven Stahltür ankam, holte sie tief Luft. Der Schlüssel steckte im Schloss. Belinda drehte ihn um und zog die schwere Tür auf. Das grelle Licht der Neonröhren blendete sie wie jedes Mal, wenn sie dieses Zimmer betrat. So oft schon hatte sie sich vorgenommen, eine andere Beleuchtung zu installieren. Doch insgeheim wusste sie, dass sie es doch niemals tun würde. Zittra war es sicherlich egal, und die wenigen Minuten, die sich Belinda hier aufhielt, rechtfertigten den Aufwand nicht.

Zittra hockte auf einem der beiden Stühle, die ebenso wie der dazugehörende Tisch fest mit dem Boden verschraubt waren. Langsam sah sie auf.

»Du trägst ja immer noch diesen hässlichen Fetzen!«, blaffte sie statt einer Begrüßung. Belinda presste die Lippen zusammen. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schwang sie den Sack auf den Tisch. Das Riesenkarnickel hoppelte heraus und schaute für eine bange Sekunde in Zittras Richtung. Als sie ihn blitzschnell packte, kreischte er für ein Kaninchen ganz und gar untypisch, doch Belinda wusste, dass sich im Angesicht des Todes alle Säugetiere in etwa gleich anhörten. Kurz vor dem Exitus war ein Hund akustisch nicht mehr von einem Gnu zu unterscheiden, und warum sollte Freddy hier eine Ausnahme machen. Schließlich ließ Zittra ihn lachend los, und er flitzte in Windeseile vom Tisch herunter und in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers schräg hinter Belinda, um sich dort zusammen zu kauern und vor Angst zu zittern.

»Freddy findet meine Erscheinung wohl ansprechender als deine«, kommentierte Belinda trocken.

»Bring doch morgen ein Salatblatt mit, dann fragen wir es nach seiner Meinung«, konterte Zittra ohne zu zögern.

Belinda seufzte. Sie hatte diese Streitereien so satt. Langsam setzte sie sich auf den zweiten Stuhl. Zittras Gesichtsausdruck verriet, dass sie diese Annäherung überraschte. Nicht dass Belinda ihr Einverständnis für irgendetwas brauchen würde, aber ohne die Gewissheit, einen Feind im Keller zu haben, wäre ihr doch wohler. Darum versuchte sie es nun mit versöhnlicheren Tönen.

»Mutter. Wie lange willst du denn noch mit mir streiten?«

Bei der Anrede »Mutter« zuckte Zittra kurz zusammen, doch ihre Miene versteinerte sich sofort wieder. Grimmig funkelte sie Belinda aus ihren orangefarbenen Augen an.

»So lange, bis du zur Vernunft gekommen bist!«

»Aber was ist denn so schlimm an meinem neuen Outfit?« Belinda strich sich durch die blonde Mähne und rückte ihren Busen zurecht.

»Ich verkleide mich doch auch nicht als Schwein!«, schrie Zittra. Speichel tropfte von ihren spitzen Zähnen, während sie Belinda angewidert musterte. »Das ist absurd und abstoßend. Kuronne, du bist unsere fähigste Jägerin, und nun rennst du herum in der Hülle eines Beutetiers. Schämst du dich denn nicht?«

Belinda atmete tief durch und bemühte sich ruhig zu bleiben. Sie war gegen Zittras Vorhaltungen schon abgestumpft, trotzdem hörte sie den Zorn leise in sich brodeln. Allerdings lag ihr diesmal mehr daran, Verständnis bei ihrer Mutter zu wecken, statt der eigenen Wut freien Lauf zu lassen.

»Sie sind so viel mehr als Beutetiere«, versuchte sie sich zu erklären. »Sie haben so viele verschiedene Talente. Darin sind sie uns sogar recht ähnlich.«

Zittra funkelte sie böse an. »Wir sind uns überhaupt nicht ähnlich«, brauste sie auf. »Die Menschen sind faul und unfokussiert!«

»Das mag sein. Aber dennoch erschaffen sie ganz Erstaunliches! Es ist, als hätten sie den Müßiggang, den wir immer verteufeln und um jeden Preis vermeiden, für sich entdeckt und perfektioniert.« Begeisterung schlich sich in Belindas Stimme. »Sie bauen riesige Häuser und Rondelle, in denen man Geschichten auf einer großen Wand anschauen kann oder Spiele mit einem oder gar mehreren Bällen. Ja, du hast richtig gehört, Mutter. Auch die Erwachsenen spielen oder sehen einfach dabei zu und das mit einer Begeisterung, die wirklich faszinierend ist.«

Zittra schnaubte.

»Und diese Geschichten, auf dieser großen, weißen Wand, die werden nicht einfach nur erzählt. Man kann sich dort richtig ansehen, was geschieht, als ob man mittendrin wäre in der Handlung.«

Zittra ballte ihre schwarze, ledrige Hand zur Faust und schlug vehement auf die Tischplatte.

»Schluss jetzt!«

Belinda blieb noch einen Moment sitzen, und schaute ihre Mutter resigniert an. Das Gespräch schien beendet zu sein. Schließlich erhob sie sich und ging wortlos zur Tür. Freddy kauerte noch immer verängstigt in der Ecke.

»Du brauchst nicht abzusperren, Kuronne«, rief Zittra plötzlich. »Ich werde brav hier warten, bis du zur Besinnung gekommen bist. Dieser Wahnsinn dauert nun schon viel zu lange, deshalb bin ich sicher, dass es bald vorbei sein wird.«

Belinda sah nicht zurück und schlug die Stahltür hinter sich zu. Ohne zu zögern drehte sie den Schlüssel um.

Auf dem Weg nach oben zog sie ihre High Heels wieder an. Wolfgang schien diese Art Schuhe an ihr zu mögen. Warum, erschloss sich ihr nicht. Aber wenn sie dieses Menschenleben ausprobieren wollte, dann musste sie sich damit abfinden, dass sie nicht alles verstand. Manchmal kam es ihr bei ihren Studien gar so vor, als würden die Menschen sich selbst oftmals nicht verstehen. Aber das würde sie Zittra natürlich nicht auf die Nase binden.

Sie zündete mehrere Kerzen an und füllte zwei bauchige Gläser mit einer dunkelroten Flüssigkeit aus Trauben, wie sie es in einer bunten, mehrseitigen Schrift extra für Menschenfrauen nachgelesen hatte. Dann schlüpfte sie in das kurze Kleid, auf das Wolfgang immer ähnlich freudig reagierte wie auf ihre High Heels.

Wenige Minuten später klingelte es. Wolfgang stand mit einem Blumenstrauß vor der Tür, was gemäß dem bunten Schriftstück in etwa das Pendant zu ihren Vorbereitungen hinsichtlich Kerzenlicht und vergorenen Trauben darstellte. Sie schien also alles richtig gemacht zu haben. Erleichtert bat sie ihn herein.

Sie hatte Wolfgang ausgesucht, da er nach menschlichen Maßstäben etwas war, was »gute Partie« genannt wurde. Diese Kategorie von Männern wurden von den Frauen bevorzugt als Partner gewählt und hatten nur wenige simple Kriterien zu erfüllen: Er trug stets eine Art Uniform mit feinen Längsstreifen über einem weißen Hemd, besaß ein großes, geländegängiges Fahrzeug, mit dem er jedoch komischerweise nie ins Gelände fuhr, und er hatte keine Verpflichtungen in Form von anderen Weibchen oder Nachkommen. Außerdem war er durchtrainiert und, obwohl er die Dreißig längst überschritten hatte, nicht fett geworden.

 

Wolfgang hatte einen Film mitgebracht. So nannte er die Geschichten, die die Menschen sich auf den ominösen, weißen Wänden ansahen. Erstaunt hatte Belinda festgestellt, dass es neben diesen großen Bauten auch in jedem kleinen Haus einen Kasten für derartige bewegte Bilder gab. So auch in ihrem. Da sie die Funktionsweise dieser Gerätschaften noch nicht durchschaut hatte, bat sie ihn, sich um den Film zu kümmern, und holte inzwischen die Gläser. Auch das schien Wolfgang zu gefallen.

Die Geschichte hatte wenig Handlung, dafür aber viele Explosionen und verschiedene, interessante Ausführungen an Handfeuerwaffen. Sie stellte einige Fragen zu diesen beeindruckenden Jagdgeräten, was Wolfgang aber zu irritieren schien. Deshalb schwieg sie schließlich, und er legte den Arm um sie.

Als im Film ein Mann und eine Frau anfingen, sich zu küssen, legte Wolfgang die andere Hand auf ihren Oberschenkel. Unvermittelt beugte er sich zu ihr und küsste ihren Hals. Belinda war skeptisch gewesen, wie angenehm sexuelle Empfindungen innerhalb dieses menschlichen Körpers sein würden. Doch seine Küsse verursachten ein wohliges Kribbeln. Sie seufzte erleichtert.

Es dauerte nicht lange, da waren die bewegten Bilder in dem elektronischen Kasten vergessen, und Belinda und Wolfgang küssten sich engumschlungen. Seine Hände schienen plötzlich überall zu sein. Mit einem neugierigen Seitenblick prüfte sie, ob ihm eventuell neue dazu gewachsen waren. Dem war jedoch nicht so. Schließlich konzentrierte er sich auf ihre Brüste. Er zog den Reißverschluss ihres Kleides vorne auf und vergrub sein Gesicht in ihrem Dekolleté. Auch das entpuppte sich als erstaunlich angenehm. Belinda war mit dem Verlauf ihrer Studien mehr als zufrieden.

Als er seine Hand zwischen ihre Beine schob, japste sie nach Luft. Ihr Atem beschleunigte sich ebenso wie seiner. Schnell füllte die Lust ihren Körper aus, doch damit nicht genug. Wolfgang machte seine Sache so gut, dass sie bald das Gefühl hatte, die Lust würde wachsen und wachsen und hätte nicht genug Platz in diesem kleinen Menschenköper. Sie stöhnte laut, was Wolfgangs Leistungen sogar noch verbesserte. In Ekstase rollten die beiden vom Sofa. Nun war Belinda auf Wolfgang, der sich rhythmisch unter ihr bewegte und ihre Lust weiter anheizte.

Ihr wurde fürchterlich heiß. Plötzlich hatte sie das Gefühl, sie müsse in der Enge von Belindas Körper verbrennen. Mit beiden Händen fasste sie sich an die Brust. Sie schlug die manikürten Nägel in das Fleisch und zerrte daran. Die Hülle riss zwischen den Brüsten auf. Keuchend schob sie sich aus dem Menschenkörper.

Wolfgangs Gesichtsausdruck veränderte sich. Kuronne konnte nicht genau sagen, ob sie gemeinsam zum Höhepunkt kamen, und die Ekstase seine Züge verzerrte, oder ob er Angst vor ihr hatte. Vielleicht war es auch einfach Überraschung, da es bei den Menschen wohl nicht üblich war, dass die Weibchen ihre Partner nach dem Sexualakt auffraßen. Sie hielt sich nicht lange mit diesen Überlegungen auf, zu verlockend war sein verschwitztes und hormongeflutetes Fleisch. Der süße, metallische Geschmack seines Blutes entfachte die Lust erneut in ihr. Doch der Hunger war größer. Viel zu lange hatte sie sich von abgepackten Häppchen ernährt, viel zu lange war sie nicht jagen gewesen.

Während sie genüsslich Wolfgangs Oberschenkelknochen abzauste, fiel ihr Blick auf Belindas Hülle, die in Fetzen auf dem Boden lag. Sie hatte ihr eine gute, interessante Zeit unter den Menschen ermöglicht. Ein Anflug von Wehmut streifte sie. Kuronne hörte bereits die selbstgefällige Stimme ihrer Mutter in ihren Gedanken, die erklärte, dass sie es ja gleich gesagt habe, und dass das Scheitern dieses Experiments nur eine Frage der Zeit gewesen sei. Zittra hatte Recht behalten, wie immer. Doch das musste sie jetzt noch nicht erfahren. Kuronne würde sie noch eine ganze Weile im Keller schmoren lassen.


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