Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe

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Wahrnehmungen zur Chronologie


Folgende Wahrnehmungen ergeben sich mit Blick auf die erstellte Fallchronologie:

In den ersten fünf bzw. drei Lebensjahren erleben die Mädchen einen häufigen Wechsel ihrer Lebensorte, mal bei der Mutter, mal bei den Großeltern. Die Mutter hat immer wieder Aufenthalte in der Psychiatrie.

Über mehr als ein Jahr haben die Mädchen gar keinen Kontakt zur Mutter (Anfang 2011 – Mitte 2012). In der Zeit ist die Mutter mehrere Monate in der Psychiatrie, dann wieder in ihrer Wohnung; die Mädchen scheinen in dieser Zeit nicht wichtig für sie.

Ihre Väter erleben die Mädchen über einen langen Zeitraum ihres bisherigen Lebens als abwesend.

Zwischen Frau Kramer (jun.) und ihrer eigenen Mutter zeigt sich eine ambivalente Beziehung: Auseinandersetzung, Streit und Sorge wechseln sich unvermittelt ab.

Die Partner waren im Leben von Frau Kramer (jun.) bislang immer nur über kurze Phasen präsent; beide Väter der älteren Mädchen haben sie verlassen.

Im Hilfesystem wechselt die Fallzuständigkeit des ASD in den 12 Jahren punktueller Zuständigkeit fünf Mal.

Die Erziehungsbeistandschaft für die Mädchen in 2007 mit einer Dauer von nur zwei Monaten ist neben dem ASD das einzige Jugendhilfeangebot im Fall. Hinzu kommt die Amtsvormundschaft für beide Mädchen ab dem Jahr 2012 sowie die Verwandtenpflege durch die Großeltern ab 2012.

Die Einrichtung der Verwandtenpflege als offizielle Hilfe nach § 33 SGB VIII dauert fast anderthalb Jahre.

Psychiatrie (und Polizei) sind im Alltag der Familie präsenter als Hilfen und HelferInnen nach dem SGB VIII.

Der unerwartete Tod des Großvaters im Jahr 2015 ist ein einschneidendes Erlebnis für alle Familienmitglieder. Mit ihm geht für die Mädchen die einzige, verlässliche männliche Bezugsperson im Familiensystem verloren.

Hypothesen und Fragen zur Chronologie


Aus diesen Wahrnehmungen lassen sich wiederrum Hypothesen und weitergehende Fragen zum Fall Kramer entwickeln:

Der unkalkulierbare Wechsel von Bezugspersonen und Lebensorten setzt sich für die Mädchen, Elsa und Maria, in einem häufigen Wechsel zuständiger (ASD-) Fachkräfte fort. Es gibt keine für sie berechenbaren und sicheren Konstanten im Familien- und Hilfesystem bis auf die Großeltern.

Die Mädchen sind vermutlich in einem Loyalitätskonflikt: Ihre Mutter ist für sie nicht berechenbar und gleichzeitig sind sie mit der Frage beschäftigt „Sind wir schuld daran, dass unsere Mutter so verrückt ist?“

Eva Kramer (Mutter) und Birgit Kramer (Großmutter) sind hochambivalent miteinander verbunden; Anklage und Fürsorge wechseln sich ab.

Ambivalenzen bestimmen darüber hinaus auf allen Seiten und in allen Bezügen Verhalten und Erwartungen (Mutter, Großmutter, Töchter, HelferInnen).

Die Männer im Familiensystem verlassen das System und sind für die Frauen (insbesondere für die Mädchen) nicht präsent. Männer „lassen die Frauen im Stich“, in dieses Erfahrungsmuster webt sich auch der recht unerwartete Tod des Großvaters ein.

Bei der Großmutter zeigen sich (insbesondere nach dem Tod ihres Mannes) eine wachsende Erschöpfung und zugleich die innere Anforderung, als „Familienoberhaupt“ durchhalten zu müssen.

Für die Mädchen wächst die Unsicherheit, wohin und zu wem sie gehören: Der Großvater stirbt, ihre Väter sind unsichere Größen, die Mutter ist mit sich, ihren jüngeren Kindern und dem neuen Mann beschäftigt und der Großmutter schwinden die Kräfte, zudem kümmert sie sich aktuell ganz intensiv um ihre eigene Tochter. Die Mädchen, Elsa und Maria, geraten bei allen aus dem Blick, im Familien- und im Hilfesystem. Aktivitäten orientieren sich immer an den Erwachsenen.

Hoffnung und Enttäuschung sind permanente Begleiter von Elsa und Maria.

Mutter und Großmutter entscheiden über Annahme, Abbruch und Ablehnung von Hilfen für die Mädchen. Es entsteht der Eindruck, dass in krisenhaften Situationen von ihnen Hilfe angefordert wird, die aber abgewehrt wird, sobald Entlastung eintritt oder die Hilfen zu sehr ins Familiensystem intervenieren. Die Frauen der Familie scheinen das Hilfesystem (unbewusst) zu steuern, das Hilfesystem handelt lediglich reaktiv.

Besonders Eva Kramer prägt den Fall immer wieder mit ihren verrückten Weltsichten und dies mit viel Selbstbehauptungswillen und der Abwehr von Einmischung durch jugendamtliche Hilfen. Als Familienmotto gilt: „Wenn‘s drauf ankommt, hilft man sich als Familie selbst.“

Das Agieren des Hilfesystems wirkt unentschlossen, sowohl im ASD als auch bei der Amtsvormundschaft und der Erziehungsbeistandschaft. Es entsteht der Eindruck, dass Psychiatrie und Jugendhilfe nicht zusammenarbeiten, nicht an einem Strang ziehen, ebenso wenig die Jugendhilfe mit der Kita und/oder der Grundschule. Verbindungen und gemeinsame Ideen zum Fall werden nicht sichtbar.

Resignation und Überforderung zeigen sich im Familiensystem und spiegeln sich ebenso im Agieren des Hilfesystems: Von „in diesem Familiensystem werde ich auch nichts ausrichten können“ bis zu „wie kann ich hier für verbindliche Veränderung sorgen“?

3.2.3 Die „Ressourcenkarte“ – Dritte Annäherung: Was können und worüber verfügen Kinder und Eltern?

Das Instrument: Mit einem ressourcenorientierten Instrument wie der Ressourcenkarte wird im diagnostischen Prozess (ebenso wie mit der Netzwerkkarte) der Blick gezielt auf die vorhandenen Potenziale, Stärken und Kraftquellen bei einzelnen AdressatInnen oder in einem Familiensystem insgesamt gerichtet. Es geht darum, die stärker defizitorientierte Sichtweise (Was geht nicht? Was ist problematisch? Wo liegen Risiken, insbesondere für die Kinder?) zu weiten, zu kontrastieren und somit zu ergänzen – d. h. die professionelle Perspektive sehr bewusst und regelhaft zu wechseln.

Ressource = Kraftquelle, Stärke

Dieser Schritt im Verlauf von Fallverstehen und Diagnostik folgt der Grundhaltung, dass Menschen über Eigenkräfte und Stärken verfügen, die manchmal verschüttet, manchmal auch nur gering ausgeprägt sind, aber immer vorhanden sind. Solche Ressourcen sind ein wichtiger Anknüpfungspunkt für Veränderung, Ermutigung, Eigenaktivität und damit das Erleben von Selbstwirksamkeit. Menschen sind mehr als ihre Defizite, der professionelle Blick verengt sich mitunter aber schnell darauf, da diese sehr im Vordergrund stehen und der Handlungsdruck auf Fachkräfte gerade in Belastungs- und Krisensituationen oft sehr präsent ist.

Salutogenese, Kohärenz und Ermutigung

Mit dem Salutogeneseprinzip von Antonovsky (1997), der sich damit beschäftigt hat, wieso Menschen trotz bedrohlicher Bedingungen gesund bleiben bzw. wie es ihnen gelingt, sich von schweren Krankheiten zu erholen, oder mit dem Wissen um die Notwendigkeit des Prinzips der Ermutigung in Lern- und Erziehungsprozessen im individualpsychologischen Sinne nach Adler (vgl. z. B. Ansbacher/Ansbacher 2004) lässt sich begründen, dass eine solche Perspektive in der Arbeit mit AdressatInnen für Veränderung enorm wichtig ist. Antonovsky hat in einer berühmt gewordenen Metapher seinen Ansatz gut verdeutlicht. Er hat (psychische) Gesundheit und das Leben mit einem Fluss verglichen. Sein Bild ist, dass Menschen in diesem Fluss voller Strudel, Biegungen und Stromschnellen schwimmen und in große Gefahren geraten können. Die Perspektive von Helfenden müsse es dann nicht sein, die Ertrinkenden aus dem Strom zu reißen, sondern sie darin zu unterstützen, gute oder bessere SchwimmerInnen zu werden, welche die Stromschnellen eigenständig meistern können. Wichtig dafür ist die individuelle Herausbildung eines Kohärenzgefühls. Kohärenz beinhaltet drei Aspekte: Die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen (Verstehbarkeit), die Überzeugung, das eigene Leben bewältigen bzw. gestalten zu können (Handhabbarkeit/Bewältigbarkeit) und ein Gefühl, dass das eigene Tun einen Sinn hat und bedeutungsvoll ist (Sinnhaftigkeit/(eigene) Bedeutsamkeit). Ein solches Erleben bei Menschen gerade in Belastungssituationen zu stärken und damit ihr eigenes Erleben von Selbstwirksamkeit (vgl. z. B. Jerusalem/Hopf 2002), ist ein wesentlicher Aspekt des ressourcenorientierten Blicks. In der Sozialen Arbeit ist die Ressourcenorientierung als Grundhaltung erst seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einer expliziten Grundhaltung geworden. Buttner (2018a, 76 ff.) setzt sich in einem kurzen Aufsatz grundsätzlich mit der Beschaffenheit von Ressourcen auseinander. Darin wird einerseits deutlich, dass der Begriff durchaus schillernd und unscharf ist, die damit verbundene Grundidee aber unverzichtbar, wenn es darum geht, Veränderungen anzuregen und die AdressatInnen Sozialer Arbeit dabei „mitzunehmen“. Es geht darum, sich auf eine gemeinsame Suche zu machen, gemeinsam zu „erforschen“ und zu benennen, über welche Stärken Menschen verfügen und welche Unterstützungspotenziale sie in ihrem Umfeld haben.

 

Ressourceninstrumente

Für den gezielten Blick auf Ressourcen bei einzelnen Personen oder in einem System, d. h. für die Ressourcendiagnostik, existieren unterschiedliche methodische Instrumente. Ein aktueller, kurzer Überblick dazu findet sich in einem weiteren Aufsatz von Buttner (2018b, 310 ff.). Die Unterschiede zwischen einzelnen Instrumenten liegen wesentlich darin, wie offen diese und damit auch das Gespräch angelegt sind, in dem über die vorhandenen Ressourcen mit den AdressatInnen gesprochen wird. Buttner differenziert vier Arten ressourcendiagnostischer Instrumente (vgl. Buttner 2018b, 310):

1. einfache, offene Verfahren, z. B. zur Erzählung auffordernde Gespräche,

2. offene, halbstrukturierte Verfahren, z. B. leitfadengestützte Interviews,

3. eigenschafts- oder kompetenzorientierte Fragebögen, eher aus dem psychotherapeutischen oder psychologischen Kontext, und

4. bereichsspezifische, halbgeschlossene Erhebungsverfahren, z. B. aus der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen für die Bedarfserhebung angestrebter Wohn- und Lebensformen, angelehnt an die ICF (= Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, WHO 2005).

Für die Arbeit im Kontext der Hilfeplanung in der Kinder- und Jugendhilfe hat sich die so genannte Ressourcenkarte als einfach zu handhabendes, offenes Instrument sehr bewährt (Tab. 3). Mit diesem dialogisch ausgerichteten Zugang können vorhandene Ressourcen im Prozess der Erarbeitung mit jungen Menschen und/oder Familien anschaulich gemacht werden. Sie dienen damit nicht nur als diagnostisches Instrument, sondern können gleichzeitig eine oftmals positive Wirkung bei den AdressatInnen erzielen („Ich kann ja doch etwas!“ oder: „Ich habe ja doch wichtige Grundlagen für meinen Alltag, z. B. ein Einkommen, oder Menschen um mich herum, die für mich da sind!“).

Je nach konkretem Instrument werden i.d.R. unterschiedliche Bereiche oder Sektoren unterschieden, z. B. persönliche, materielle, familiäre und sozialräumliche Ressourcen, in denen die Eintragungen vorgenommen werden (vgl. BMFSFJ Handbuch SPFH 1999; Herwig-Lempp 2007, 207–226; Herwig-Lempp 2009, 243–254). Komplexere Verfahren beziehen darüber hinaus sozialräumliche Strukturen und Unterstützungspotenziale umfangreicher ein und kombinieren sie mit einer Netzwerkanalyse (Budde/Früchtel o.J).

Tab. 3: Ressourcenkarte (Beispiel)


persönliche Ressourcenfamiliäre Ressourcen
(z. B. kann deutsch und türkisch; kennt sich im Stadtteil gut aus und weiß, wo sie Unterschlupf findet; kann etwas durchhalten (z.B. Aushilfsjob an der Tankstelle), wenn es sie interessiert)(z. B. hat eine Schwester, bei der er zur Not unterkommen kann; eine Tante in Nürnberg, der er traut usw.)
materielle Ressourcensozialräumliche Ressourcen
(z. B. hat ein Mofa, ein Handy etc.)(z. B. kann an der Tankstelle/Bude/Kneipe aushelfen; geht hin und wieder ins Jugendzentrum etc.)

Im Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) (BMFSFJ 1999, 259) sind weitere Beispiele für Eintragungen in die vier Bereiche aufgeführt:

„Persönliche Ressourcen: Humor, Sensibilität, ein ausgeglichenes Temperament, Durchhaltevermögen, Gesundheit, Bildung, handwerkliche Geschicklichkeit, Interessen und Hobbies, Auseinandersetzungsfähigkeit, Beeinflussungsmöglichkeiten durch kommunikative Fähigkeiten, Loben können, Anerkennung annehmen können, Kenntnis verschiedener Bewältigungsstrategien, Bindungsfähigkeit, Autonomie, Neugier, die Annahme eines schweren Schicksals, einen Sinn im Leben sehen können etc.

Materielle Ressourcen: einen Arbeitsplatz, ein kleines Vermögen, ein Auto, nur geringe oder kleine Schulden, eine angemessene Wohnung, Besitz von Werkzeug etc.

Familiale Ressourcen: Möglichkeiten für Individualität und Zugehörigkeit, für Kinder gute Beziehung zu einer Bezugsperson, flexible Grenzen, klare Rollenstrukturen und dementsprechend klare Verantwortlichkeiten, gegenseitige Wertschätzung und Unterstützung, ein gemeinsamer Glaube, eine für die Familienmitglieder klare Kommunikation, konstruktive Konfliktlösungsmöglichkeiten, Freude an gemeinsamen Unternehmungen, ein Haustier, unterstützende Familienmitglieder (Tante, Großeltern) etc.

Ressourcen im Lebensumfeld: Nachbarschaftskontakte, eine Freundin oder ein Freund, Kontakt mit der Kirchengemeinde, Mitgliedschaft in einem Sportclub/Verein, ein guter Arzt, ein Kindergartenplatz, ein Hortplatz, ein kooperativer Kontakt mit einem Lehrer, Unterstützung beim Wohnungsamt, positive Erfahrungen und Kontaktmöglichkeiten zum Allgemeinen Sozialdienst etc.“

Hinweise zur Erstellung

Bei der Erstellung einer Ressourcenkarte, am besten mit den AdressatInnen gemeinsam, ist es sinnvoll, die AdressatInnen zunächst ganz offen nach ihren Stärken zu fragen und sie ins Denken und Erzählen zu bringen.

Die Nennungen werden dann von ihnen selbst oder von der Fachkraft in die Ressourcenkarte eingetragen. Wichtig ist, dass die Ressourcenkarte nur ein Hilfsmittel ist und nicht zu akribisch angewandt werden sollte. Ist man sich z. B. unsicher, in welchen Bereich eine Eintragung gehört, sollte man sie dort eintragen, wo sie nach kurzer Überlegung am ehesten hinpasst. Entscheidend ist, dass sie überhaupt Beachtung findet und aufgeschrieben wird.

Manchmal fällt es Menschen in Belastungssituationen schwer, auf ihre Stärken und Kompetenzen zu schauen oder diese zu „finden“. Hilfreich ist es in dem Fall, wenn Fachkräfte sparsam Anregungen geben, Beispiele nennen oder ressourcenorientierte Fragen stellen (z. B. Wen fragst Du, wenn Du mal Hilfe brauchst? Wem erzählst Du, dass es Dir nicht gut geht? Wie hast Du es vor einem Jahr geschafft, aus dieser schwierigen Situation wieder heraus zu kommen?). Voraussetzung dafür ist, dass man als Fachkraft selbst davon überzeugt ist, dass Menschen über Ressourcen verfügen, auch wenn diese nicht gleich „auf der Hand liegen“.

Verhalten, Beziehungen und Dinge sind bei der Arbeit mit Ressourcen immer mit Blick auf mögliche Stärken zu betrachten und zu interpretieren, z. B.: kann sich alles Überlebensnotwendige besorgen (=> klaut auch mal); kann sich durchsetzen (=> haut auch mal zu); kennt sich in der Szene aus (=> hat Umgang im einschlägigen Milieu). Die Probleme und Gefährdungen dieser Verhaltensweisen und Beziehungen werden an anderer Stelle betrachtet. Hier geht es alleine um Ressourcen im Sinne von Potenzialen. Zweck und Ziel ist es, positive Anknüpfungspunkte für Prozesse der Stabilisierung und Veränderung herauszufinden.

Auswertung und Interpretation

In der Auswertung und Interpretation von Ressourcenkarten geht es darum:

Was fällt auf den ersten Blick auf?

Welche Ressourcen sind wie stark vorhanden und in welchen Bereichen ggf. vorrangig?

Welche mussten im Gespräch „mühsam“ erarbeitet werden, können aber ggf. in der weiteren Arbeit aktiviert werden?

Welches Gesamtbild ergibt die Sammlung von Ressourcen?

Welchen Beitrag könnten sie bezüglich des zu bearbeitenden Problems leisten?

Fallanwendung: Für die Familie Kramer werden in der Fallbearbeitung vier Ressourcenkarten erstellt. Es geht um die Ressourcen der beiden Mädchen Elsa und Maria (Tab. 4) sowie um die der beiden erwachsenen Frauen, d. h. der Mutter Eva und der Großmutter Birgit Kramer (Tab. 5).

In der Fallarbeit gilt es jeweils kontextspezifisch zu entscheiden, für wen in einem Fall zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Ressourcenkarte sinnvoll erscheint und erarbeitet wird.

Tab. 4: Ressourcenkarten für Elsa (normal gesetzt) und Maria (kursiv gesetzt)


Persönliche Ressourcen:Familiäre Ressourcen:
kann klar ihre schulische und berufliche Zukunft benennen und zielstrebig verfolgen;ist eigen-/selbständig;übernimmt Verantwortung;pflegt vorhandene Beziehungen;ist engagiertkommt schnell in Kontakt, ist zugewandt;ist grundsätzlich zuversichtlich;eigen-/selbständig;übernimmt Verantwortung;musikalisch;hat viele FreundInnen, eher etwas „lose“ BezügeGroßmutter;neuerdings Vater, auch Vorbild (akademische Ausbildung, freischaffender Künstler);„kleine Schwester“Großmutter„große Schwester“Vater (vor Ort erreichbar, übernimmt seit einiger Zeit zum Teil auch Versorgung/Sorge)
Materielle Ressourcen:Sozialräumliche Ressourcen:
Handy/PCFahrradÖPNV Schülerticket(Kindergeld, wird ihr von Mutter nicht ausgezahlt, obwohl sie nicht bei ihr lebt)Handy/PCÖPNV SchülerticketFahrrad(Kindergeld, wird ihr von Mutter nicht ausgezahlt, obwohl sie nicht bei ihr lebt)Russisch-orthodoxe GemeindeSchwimmtrainingSchuleAV und ASD (mit Einschränkung)SchuleSchulbandRussisch-orthodoxe GemeindeNachbarin der Großmutter, mögen sich gernAV und ASD

Tab. 5: Ressourcenkarten für die Großmutter (normal gesetzt) und die Mutter (kursiv gesetzt)


Persönliche Ressourcen:Familiäre Ressourcen:
willensstarkagiert und fühlt sich als FamilienoberhauptVerantwortungsbewusstseinliebt die Mädchen (trotz Anstrengung)willensstarkdurchsetzungsfähiggrundsätzlich sympathischihre Tochter, Eva Kramerihre Enkeltöchter, alle vierdie Väter der beiden älteren Enkeltöchterihre Mutterihre Töchter, vor allem die beiden älterenihr neuer Lebensgefährte
Materielle Ressourcen:Sozialräumliche Ressourcen:
RentePflegegeld für die beiden älteren MädchenHarz IVKindergeldRussisch-orthodoxe Gemeinde???

Wahrnehmungen und Anknüpfungspunkte

 

In der Erarbeitung der Ressourcenkarten entstehen verschiedene Wahrnehmungen und Bilder als positive Anknüpfungspunkte im konkreten Fall:

Elsa ist zielstrebig, weiß was sie will und schafft auch, was sie will. Ihre Zukunft ist ihr wichtig, aber auch Menschen, die sie mag. Ihr fällt es (nach Aussage der ASD Fachkraft) wohl nicht ganz leicht, enge Freundschaften zu knüpfen.

Maria ist eine „normaler“ 12-jähriger Teenie, die „große Schwester“ ist für sie eine wichtige Orientierung, daneben auch (wieder) der Vater. Die Musik in der Schulband ist ein ganz wichtiger Faktor für ihr Wohlbefinden, manchmal wirkt die Musik wie ein „Lebenselixier“ für sie.

Die Großmutter als Familienoberhaupt möchte die Familie erhalten. Sie ist willensstark und verantwortungsbewusst gegenüber ihrer Tochter.

Die Mutter hat einen ausgeprägten eigenen Willen und daraus entstehende Durchsetzungskraft.

Hypothesen zu Ressourcenkarten


Daraus lassen sich zum Fall weitere Hypothesen und Fragen erarbeiten:

Beide Mädchen haben viel Potenzial, persönliche und weitere Ressourcen in ihrem Umfeld (Resilienz), neben der Großmutter (noch) und (erst) teilweise den Vätern auch im sozialen Umfeld, so z. B. in der russischen Gemeinde, der Schule, dem Schwimmverein, der Schulband, die genutzt werden können und müssen.

Die Mädchen sind „gut aufgestellt“, aber die konstante Versorgung wird brüchig, wenn die Großmutter wegen Erschöpfung und aus Sorge um die aktuelle Belastungssituation ihrer eigenen Tochter ausfällt.

Aktuell ist die Mutter der Mädchen, Eva Kramer, (wieder einmal) sehr auf sich und die „neue Familie“ konzentriert. So hat sie keinen Blick für die älteren Mädchen.

Welche Ressourcen haben die Erwachsenen, insbesondere die Großmutter und die Väter, um die Entwicklung der beiden Mädchen aktiv zu fördern?

3.2.4 Die „Netzwerkkarte“ – Vierte Annäherung: Welche Beziehungen sind wichtig und wo lässt sich anknüpfen?

Das Instrument: Beziehungen von Menschen zueinander und damit soziale Bezüge/Netzwerke und ihre Bedeutung interessieren die sozialwissenschaftliche Forschung schon lange. Bereits die in den 1930er Jahren von Moreno (vgl. aktuell Moreno 2014) entwickelte Soziometrie als Methode empirischer Sozialforschung legt ein wichtiges Fundament für die heutige Beschäftigung und Erforschung von sozialen Netzwerken. Gerade im letzten Jahrzehnt zeigt sich zunehmend mehr, dass individuelle Vernetzung, aktuell aber vor allem auch die institutionelle Vernetzung erneut und zunehmend mehr in den Blickpunkt wissenschaftlicher Beschäftigung rückt. Denn es zeigt sich, dass komplexe Probleme nur durch ein Zusammenwirken aller daran Beteiligten gelöst werden können (vgl. z. B. Fischer/Kosellek 2013). Dies gilt auch und gerade für die fallbezogene Bearbeitung sozialer Probleme.

Menschen leben immer in sozialen Beziehungen, auch wenn diese aktuell belastet oder nicht verfügbar erscheinen. Kindliche Entwicklung gelingt nicht ohne tragfähige Beziehungen zu Erwachsenen, jugendliche Entwicklung zudem nicht ohne Gleichaltrige. Und nicht zuletzt sind in den hier betrachteten Lebenssituationen die Beziehungen zu den Menschen und Institutionen im Hilfesystem bedeutsam. Ein Bild über die aktuelle Beschaffenheit solcher sozialen Beziehungen als positive Quelle für Veränderungen zu gewinnen, wird damit ein weiterer unverzichtbarer Zugang zu einem Fall.

Mit einer Netzwerkkarte (Abb. 12) wird versucht, die Verortung von Beziehungen und Unterstützungspotenzialen in einem sozialen Netz für eine selbstreflexive ebenso wie für die diagnostische Bearbeitung durch Visualisierung zugänglich zu machen. Dabei werden junge Menschen oder Eltern jeweils einzeln aufgefordert, Personen z. B. aus ihrem familiären Umfeld, FreundInnen und Bekannte, Menschen in Nachbarschaft und Sozialraum sowie aus Ämtern und Institutionen nach der Nähe und Bedeutung ihrer Beziehung in konzentrischen Kreisen um die eigene Person in der Mitte einzuzeichnen. Auch für dieses Instrument gibt es verschiedene Formate und Entwicklungen, die vor allem aus Forschungsmethoden der Netzwerkanalyse entwickelt und übertragen wurden (Wendt 2015; Hollstein/Strauss 2006; Stegbauer/Häußling 2010; Stimmer 2012, 132 ff.).

Netzwerkkarten können ebenfalls gut mit jungen Menschen/Eltern zusammen ausgefüllt werden, um ihre Sicht der Beziehungsnetze zu erfahren.


Abb. 12: Netzwerkkarte

Erstellung

Netzwerkkarten und ähnliche Instrumente werden am besten vor dem Hintergrund einer konkreten Fragestellung erarbeitet und gezeichnet. Je nach Fragestellung, z. B. „Wer gehört zu ihrem Umfeld und wie nah stehen Ihnen die Menschen?“, „Wer trägt zur positiven Stabilisierung der Versorgungssicherheit der Kinder bei?“, werden in den Segmenten die entsprechenden Personen vermerkt.

In der Mitte der Netzwerkkarte steht die Person, um die es wesentlich geht („Ankerperson“).

Andere Menschen, die mit ihr oder ihm in einer Beziehung stehen (also auf der Karte einen Platz haben sollten), werden je nach Bedeutung für die „Ankerperson“ platziert: je näher zur Mitte desto besser/förderlicher/tragfähiger ist die Beziehung.

Auswertung

Bei der Auswertung von Netzwerkkarten wird nach folgenden Aspekten geschaut:

Was fällt auf den ersten Blick auf?

In welchen Bereichen gibt es Beziehungen? (Existenz)

Über wie viele Beziehungen verfügt jemand? (Quantität)

Wie nah oder fern stehen sie der Person im Mittelpunkt? (Intensität, subjektive Bedeutung)

Welche Personen stehen untereinander in Verbindung? (Vernetzung; kann je nach Fragestellung auch eingezeichnet werden)

Fallanwendung: Im nächsten Schritt erfolgt die Erstellung von Netzwerkkarten, um die sozialen Bezüge der Familienmitglieder in den Blick zu rücken. Wiederum muss fallbezogen entschieden werden, für welche Personen (oder in der Praxis auch „mit welchen Personen“) diese erarbeitet werden. Im Fall der Familie Kramer deutet sich an, dass perspektivisch eine stärkere Konzentration der HelferInnen, insbesondere des ASD, auf die Mädchen erfolgen muss, um für sie und mit ihnen belastbare, tragfähige und sichere Perspektiven (in der Großstadt?) zu entwickeln. Aus diesem Grund werden fallbezogen nur zwei Netzwerkkarten erstellt, für Elsa und Maria (Abb. 13). Die Darstellung integriert beide Mädchen in einer Netzwerkkarte mit unterschiedlichen Symbolen. Die Eintragungen für die Mädchen wurden nacheinander vorgenommen und je einzeln ausgewertet.


Abb. 13: Netzwerkkarte für Elsa und Maria Kramer

Wahrnehmungen zu Netzwerkkarten

Netzwerkkarten richten den Fokus auf die sozialen Bezüge, in denen Menschen leben, und auf die konkreten Beziehungsqualitäten. Bei Elsa und Maria werden in der Fallbearbeitung folgende Wahrnehmungen zusammengetragen, die insbesondere Aufschluss darüber geben können, wie tragfähig die Netze der beiden Mädchen bezüglich ihrer weiteren Entwicklung und Versorgung sind.


Bei Elsa (Kreis) wird deutlich:

Sie hat viel Familie

und weniger Sozialraum/Bekannte und SchulfreundInnen.

Niemand ist ihr „sehr nah“, am nächsten stehen ihr die Großmutter und Maria.

Welche „vertraulichen“ Bezüge/Freundinnen hat sie in der Schule oder privat?

Ist sie vorsichtig, distanziert oder isoliert?

Männer bzw. Vater stehen weiter weg.

Bei Maria (Stern) wird deutlich:

Sie hat noch mehr „nähere“ Familie als die ältere Schwester.

Die Mutter ist für sie bedeutungsvoller, zumindest „näher an ihr dran“.

Auch ihr Vater steht näher als bei Elsa.

Bei den FreundInnen ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei Elsa.

Hypothesen zu Netzwerkkarten

Die Netzwerkkarten der beiden Mädchen sind etwas unterschiedlich. Es lassen sich dennoch für beide gemeinsame Hypothesen aufstellen:


Beide Mädchen sind durch die wiederholte Unsicherheit, wo sie leben können (bei Mutter oder Großmutter) sowie durch den mehrfachen Wechsel des konkreten Lebensortes deutlich darin beeinträchtigt worden, eigene tragfähige Beziehungsnetze aufzubauen.

Sie sind vorsichtig gegenüber engen Bindungen, da diese ja in ihrem Leben oftmals nur von kurzer Dauer waren: „Wem kann man trauen? Lohnt es sich, Freundschaften einzugehen, oder ist damit unweigerlich Verletzung verbunden?“

Dennoch hat insbesondere Elsa bereits deutlich begonnen, sich selbstständig zu machen. Maria wird ihr vermutlich folgen. Beide sind anderen gegenüber grundsätzlich zugewandt, Beziehungen sind ihnen wichtig. „Anknüpfungspunkte“ tragfähiger sozialer Netze für die Entwicklung und Perspektive der Schwestern sind deutlich erkennbar.

3.2.5 Das „Diagnoseinstrument zur Gefährdungseinschätzung“ – Fünfte Annäherung: Droht Gefahr für Leib, Leben und die gesunde Entwicklung eines Kindes?

Das Instrument: Sozialpädagogische Diagnosen gerade im ASD sind nicht zwangsläufig, aber häufig und regelmäßig damit konfrontiert, akute Gefährdungen des Wohls von Kindern und Jugendlichen einschätzen zu müssen (Kap. 4.2.2). Für solche Aufgaben muss institutionell ein qualifiziertes und in der Anwendung sicher beherrschtes Diagnoseinstrument zur Gefährdungseinschätzung im Kinderschutz zur Verfügung stehen. Die Arbeit mit einem solchen Instrument muss dabei im Wesentlichen vier Funktionen erfüllen:

die systematische Erfassung aller relevanten Daten und und fachlich fundierte Bewertungskriterien zur Beurteilung einer Gefährdungsmeldung;

die Anleitung und Kontrolle einer strukturierten und systematischen Arbeitsweise der Gefahrenabwehr;

die Gewährleistung einer laufenden Dokumentation der Arbeitsschritte und Einschätzungen und

die institutionelle Absicherung der verantwortlichen Fachkräfte unter aktiver Einbeziehung der Leitung.

Für diese Aufgaben werden zwar viele Instrumente und Verfahren genutzt, aber nur sehr wenige, die einer eingehenden Prüfung und Evaluation unterzogen wurden. Exemplarisch soll hier auf das „Diagnoseinstrument zur Gefährdungseinschätzung im Kinderschutz“ (den sogenannten „Düsseldorf-Stuttgarter-Kinderschutzbogen“) (Reich 2005) als das zurzeit am weitesten entwickelte, wissenschaftlich fundierte, in der konkreten Praxis der ASD-Arbeit auch umfangreich erprobte Instrument und Verfahren zur Gefährdungseinschätzung in Kindeswohlgefährdungsfällen in Deutschland hingewiesen werden. Als aktuell einziges Instrument bietet es nicht nur eine systematische Erfassung und Bewertung aller relevanten Aspekte einer Kindeswohlgefährdung, sondern auch einen verbindlich strukturierten Arbeitsablauf der Erfassung und Bewertung durch die Fachkräfte sowie eine verbindliche Unterstützung und Kontrolle dieses Prozesses in der Organisation. Nur diese Verbindung von qualifizierter Erfassung und verbindlicher Prozessgestaltung ermöglicht einen zuverlässigen Kinderschutz. Zudem ist dieses Diagnoseinstrument wissenschaftlich vom Deutschen Jugendinstitut evaluiert (Kindler et al. 2008). Das „Diagnoseinstrument zur Gefährdungseinschätzung im Kinderschutz“ besteht aus 12 Modulen, die je nach Stand der Bearbeitung eines und konkreter Fragestellung genutzt werden.

1. Meldebogen

2. Familienbogen

3. Erscheinungsbild des Kindes oder des bzw. der Jugendlichen, spezifiziert nach Altersgruppen (Tab. 6)

4. Eltern-Kind-Interaktion

5. Grundversorgung und Schutz

6. Sicherheitseinschätzung

7. Risikoeinschätzung

8. Ressourcen und Prognosen

9. Erziehungsfähigkeit der Personensorgeberechtigten

10. Gesamteinschätzung der Kindeswohlgefährdung

11. Hilfe- und Schutzkonzept

12. Vereinbarungen mit den Sorgeberechtigten

Tab. 6: Exemplarischer Auszug aus dem Diagnoseinstrument zur Gefährdungseinschätzung; Erscheinungsbild für die Altersgruppe 14–16 J.