Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe

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1Ein exemplarischer Fall – Familie Kramer: Auftrag und Rahmen professioneller Fallbearbeitung in der Jugendhilfe



Als Einführung und erste Annäherung daran, um was es bei Fallverstehen und sozialpädagogischer Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe geht, wird die Fallgeschichte zweier Mädchen und ihrer Familie erzählt, so wie sie tatsächlich bei einer jungen Fachkraft in einem Jugendamt zum Fall wurde – natürlich anonymisiert. An diesem Fall sollen konkret und nachvollziehbar die Fragen und Herausforderungen für die fallanalytische Arbeit, d. h. für das Fallverstehen und die Diagnostik in diesem Handlungsfeld vorgestellt werden. In

Kapitel 3

 wird die Fallgeschichte wieder aufgegriffen, um daran die fachlichen Zugänge und die konkreten methodischen Arbeitsweisen des in diesem Buch vorgestellten und vertretenen Ansatzes differenziert zu erläutern und zu veranschaulichen.



Wo können die Mädchen zukünftig leben?








Elsa und Maria: Welche Unterstützung wird gebraucht?



Es geht um Elsa (14 Jahre) und Maria (12 Jahre). Die beiden Schwestern kennt Frau Maier seit knapp einem Jahr, seit sie als Sozialarbeiterin im Allgemeinen Sozialen Dienst (nachfolgend: ASD) eines Großstadtjugendamtes zu arbeiten angefangen hat und sofort für die Familie Kramer zuständig geworden ist. Ihre erste Aufgabe ist die Vorbereitung eines Hilfeplangespräches, in dem die Unterbringung der beiden Mädchen in Form einer Verwandtenpflege bei der Großmutter überprüft werden soll. Die Geschwister haben seit fünf Jahren einen Amtsvormund (Anmerkung: Amtsvormünder haben an Eltern statt die oder Teile der elterlichen Sorge inne); zudem ist eine Fachkraft des Pflegekinderdienstes zuständig für das Pflegeverhältnis (gem. § 33 SGB VIII). Aktuell geht es vor allem darum, wo die Mädchen weiterhin leben können, denn erneut hat ihre Mutter ihr Leben weitreichend verändert und ihre Großmutter ist erschöpft.



wechselnde Aufenthaltsorte



Aus den Fallakten erfährt Frau Maier, dass beide Mädchen seit fünfeinhalb Jahren im Rahmen einer offiziellen Verwandtenpflege bei der Großmutter leben, vorher über mehrere Jahre immer wieder wechselnd bei ihrer Mutter oder bei der Großmutter. Vor drei Jahren ist die Mutter in eine andere Stadt, ca. 50 km entfernt, gezogen. Sie lebt dort mit einem neuen Partner zusammen, mit dem sie seit zwei Jahren eine weitere Tochter hat. Nachdem die Kontakte der beiden älteren Töchter mit ihrer Mutter lange Zeit belastet und unregelmäßig waren, gibt es in jüngster Zeit wieder mehr und längere Besuche von Elsa und Maria bei ihrer Mutter, dies nur teilweise mit Wissen und Zustimmung des Amtsvormundes. Elsa hat zudem den Wunsch geäußert, ganz zu der Mutter zu ziehen, auch um diese bei der Versorgung der kleinen Halbschwester zu unterstützen. Nach einem Streit mit der Mutter zieht Elsa diesen Wunsch jedoch zurück und lebt wieder mit ihrer Schwester Maria bei der Großmutter, die aber nun dem Pflegekinderdienst gegenüber deutlicher von ihrer Überforderung mit der Versorgung der beiden Enkeltöchter spricht.



In dieser konkreten Situation ist Frau Maier für den Fall zuständig geworden. Im Hilfeplangespräch gemeinsam mit der Großmutter, den beiden Mädchen sowie dem Amtsvormund und der Fachkraft des Pflegekinderdienstes kann nicht viel geklärt werden, Großmutter und Mädchen sind – wie früher schon – in dem Gespräch sehr verschlossen. Es scheint, dass sie Frau Maier erst einmal kennenlernen müssen, bevor sie sich im Gespräch mehr öffnen. Elsa will aktuell nicht zur Mutter und lieber in der Großstadt, bei ihren Freunden und in ihrer Schule bleiben. Dagegen kann Maria, die jüngere, sich jetzt vorstellen, zur Mutter zu ziehen.



In den folgenden Wochen kommt es mit dem Jugendamt vermehrt zu Streit um den Aufenthalt der beiden Mädchen, weder die Großmutter noch die Mutter wissen teilweise, wo die Mädchen sich aufhalten. Der Amtsvormund stellt fest, dass die Kinder nicht bei der Oma sind und meldet sie bei der Polizei als vermisst. Diese kann sie jedoch im Haus der Mutter ebenfalls nicht finden. Die Mutter gibt an, nicht zu wissen, wo sie sich aufhalten. Am Tag darauf tauchen beider wieder bei der Großmutter in der Großstadt auf und erzählen, sich auf dem Dachboden im Haus der Mutter versteckt zu haben.



Notfallplan wird erarbeitet



In einem erneuten Hilfeplangespräch mit der Großmutter wird zum einen ein konkreter „Notfallplan“ dazu vereinbart, wie sie zukünftig dem Amtsvormund mitteilt, wenn die Kinder nicht bei ihr sind und die Mutter besuchen (Aufenthaltsbestimmungsrecht des Amtsvormunds). Zudem schlagen die Fachkraft des Pflegekinderdienstes und die neue fallzuständige Fachkraft des ASD, Frau Maier, der Großmutter ein sogenanntes Elterncoaching sowie eine aufsuchende Familientherapie vor, um die Belastungen und Probleme im Umgang mit den beiden Mädchen zu „bearbeiten“. In diesem Gespräch offenbart die Großmutter, dass beide Mädchen Kontakt zu ihren (unterschiedlichen) Vätern haben, Maria regelmäßig alle 14 Tage, Elsa seltener, zumal ihr Vater in einer ca. 200 km entfernten Stadt lebt.



Die Großmutter kann nicht mehr.



Gut einen Monat später, im November, sind weder die Großmutter noch die Mädchen trotz vereinbarter Gesprächstermine für etwa eine Woche erreichbar. Danach melden sie sich und erzählen, dass sie alle bei der Mutter waren, die wieder schwanger sei und der sie helfen mussten. Trotz erneuter „Ermahnung“ des Amtsvormunds, den Aufenthalt der Mädchen jederzeit wissen zu müssen, bleiben die Kontakte schwierig. Die Weihnachtszeit steht bevor und die ASD-Fachkraft „ordnet an“, dass danach, spätestens am 3. Januar, alle verbindlich wieder in der Großstadt sind, um sich zu einem erneuten Hilfeplangespräch zu treffen. Denn inzwischen ist auch deutlich geworden, dass weder das Elterncoaching noch die aufsuchende Familientherapie von der Großmutter angenommen werden. Nachdem zwar nicht am 3., aber am 8. Januar tatsächlich Großmutter, beide Mädchen und der Vater von Maria zum Hilfeplangespräch kommen, wird zum einem erzählt, dass die Mädchen über die Weihnachtstage jeweils bei ihren Vätern waren, die Familie also für sie gesorgt habe, eine Dauerlösung sei dies aber auf keinen Fall. Zum anderen wird eine Hilfe in der Familie zur Entlastung der Großmutter von ihr vehement abgelehnt.



Eine neue Tochter wird geboren.



Zugleich aber deutet sie an, ohne es deutlich auszusprechen, dass sie sich nicht mehr um die beiden älteren Enkeltöchter kümmern könne, denn jetzt brauche sie ihre eigene Tochter dringend, die am 1. Januar eine weitere Tochter geboren habe.



Mit diesen Informationen soll die zuständige Fachkraft des Jugendamtes/ASD nun entscheiden, was sie mit den Mitteln und Möglichkeiten der Jugendhilfe tun kann, um Versorgung, Betreuung und Erziehung von Elsa und Maria zukünftig zu sichern.



Welche Aufgaben stellen sich hier generell – und für wen?



Für die zuständige Fachkraft eines Jugendamtes/ASD stellen sich in einer solchen Situation viele Fragen und gleichzeitig ist sie mit deutlichen Erwartungen konfrontiert:



Wo können Elsa und Maria längerfristig leben?



–Doch wieder bei ihrer Mutter, dem neuen Partner und den beiden kleinen Halbschwestern, aber nicht mehr in ihrer bisherigen Umgebung mit Schule und FreundInnen



–oder doch besser bei der Großmutter? Hier haben sie FreundInnen und Kontakte, gehen zur Schule – aber ihre Großmutter ist erschöpft und will sich um die neuen Kinder ihrer Tochter kümmern und diese mit den kleinen Mädchen unterstützen.



Alle Familienmitglieder, auch Elsa und Maria, sind sehr zurückhaltend und vorsichtig dem Jugendamt gegenüber und haben bisher auch ein Jugendamt erlebt, das ihnen gegenüber eher verhalten reagiert hat. Wie kann der neuen Fachkraft ein eigener und interessierter Zugang gelingen, ohne die Mädchen einzuschüchtern, aber auch ohne Versprechungen zu machen, die sie nicht halten kann?



Der Vormund schwankt zwischen dem Wunsch, in seinen Rechten ernst genommen zu werden (Aufenthaltsbestimmungsrecht) und der Resignation, dass die Familie doch tut, was sie für richtig hält. Auch erwartet er die Loyalität seiner neuen ASD-Kollegin.



Die KollegInnen sowie die Leitung des ASD-Teams erwarten von der jungen Kollegin vor allem, dass sie sich nicht so lange mit einem Fall aufhält, der nicht so dringend erscheint, da viele andere und dringendere Fälle auf sie warten.



Aus der Perspektive der Kinder- und Jugendhilfe ist die Situation von Elsa, Maria und ihrer Familie ein „Fall“ mit definierten Aufgaben und Zuständigkeiten für Kinder und Eltern, mit einem konkreten Anlass und deutlichen Erwartungen, aber auch ein Fall mit Geschichte und Hintergründen. Aus der konkreten eigenen Sichtweise und Einschätzung der zuständigen Sozialarbeiterin im ASD geht es im Fall zunächst vor allem um folgende Fragen und Herausforderungen:



Fragen sozialpädagogischer Diagnostik



Wie können Vielfalt und Komplexität mit Blick auf „das wirkliche Leben“ von Elsa, Maria, ihrer Großmutter, aber auch ihrer Mutter und deren neuer Familie sowie ihre Erwartungen an das Jugendamt systematisch erfasst und bedacht werden, ohne den Überblick zu verlieren, aber auch ohne etwas Wichtiges zu übersehen?

 



Wie kann sie die Erfahrungen der bisher mit diesem Fall befassten Fachkräfte in ihrem Jugendamt verstehen und einordnen, insbesondere des mit ihr für die beiden Mädchen zuständigen Vormunds sowie der für die Verwandtenpflege zuständigen Fachkraft des Pflegekinderdienstes?



Und wie kann dieses im Prozess entstehende komplexe Bild anschließend wieder entscheidungs- und handlungsorientiert reduziert werden, damit auch konkrete Antworten gefunden werden, was zu tun und was zu lassen ist?



Wann wird ein Fall zum Fall?



Eine wichtige Voraussetzung für Fallverstehen und Diagnostik wird bereits deutlich: Zu einem Fall für die Jugendhilfe werden (problematische) Lebensgeschichten, materielle und soziale Lebenslagen und konkrete Lebenssituationen erst, wenn sie professionell beschrieben, also als Fall definiert, und dann bearbeitet werden. Ein solcher Fall ist nie eine Lebenssituation allein, sondern immer die damit verbundene spezifische Mischung aus akuter Situation, Lebens- und Hilfegeschichte und rechtlich bestimmten Aufgaben und Zuständigkeiten. Und diese Komplexität gilt es für sozialpädagogische Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, hier für die Sozialarbeiterin eines Jugendamtes, zu durchblicken und zu verstehen (

Kap. 2.2

):



Zum einen die Mischung aus (1) aktueller Situation, meist verbunden mit akuten Anfragen, Sorgen und Problemen, aus (2) Geschichte und Geschichten aller Beteiligten und aus (3) den konkreten Aufgaben und Zuständigkeiten in und für diesen Fall.



Zum anderen die Position als sozialpädagogische Fachkraft im Blick auf die konkreten Menschen, deren Lebenssituation, Erwartungen und Befürchtungen ebenso wie auf die eigenen gesetzlichen Aufträge und die organisatorische Verfassung als Teil eines professionellen Dienstes.



Wozu einen Fall verstehen?



Verständnis und Durchblick sind in diesem Zusammenhang für die Sozialarbeiterin eines zuständigen Jugendamtes allerdings kein Selbstzweck, sondern sollen auftragsgemäßes Handeln nachvollziehbar begründen und anleiten, also Entscheidungen über Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe – hier für Elsa, Maria, ihre Großmutter und ggf. weitere Familienmitglieder – vorbereiten. Zu den gesetzlichen Aufträgen der Kinder- und Jugendhilfe gehört es auch, nicht nur nach geeigneter und annehmbarer Unterstützung und Hilfe zu suchen, sondern zu prüfen, ob zum Schutz vor Gefahren für das Wohl eines konkreten Kindes auch gegen den Willen der Eltern eingegriffen werden muss – hier z. B. ob von den dem Vormund unbekannten Aufenthalten zwischen den Haushalten der Großmutter und der Mutter akute Gefährdungen ausgehen und ob gegen den Willen der sorgeberechtigen Mutter eine stationäre Unterbringung erforderlich wird. Wie alle mit Zwang verbundenen Handlungen sind solche Eingriffe in das „natürliche Recht der Eltern“ (Artikel 6 GG) besonders streng zu prüfen und besonders fundiert zu begründen. Auch dies ist eine Aufgabe für Fallverstehen und Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe.



Zusammenfassung



1. Verstanden werden wollen Kinder und Eltern als konkrete und lebendige Menschen mit ihren Erfahrungen und Lebensumständen, Erwartungen und Interessen.



2. Ebenso verstanden werden müssen die komplexen und oft komplizierten Aufgaben und Aufträge der Kinder- und Jugendhilfe sowie ihre Arbeitsweisen und Organisationsformen in den Auswirkungen auf die konkreten Menschen und Situationen.



3. Und nicht zuletzt müssen sich die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe in ihrer beruflichen Rolle und Kompetenz verstehen und dabei ihre persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen über Kindheit und Elternschaft, damit verbundene Rechte und Pflichten sowie ihre Stärken und Schwächen in Zugang und Kommunikation in den Blick nehmen.



Warum und wozu Eltern und Kinder verstehen? Rahmen und Auftrag für Fallverstehen und die Diagnostik der Kinder- und Jugendhilfe



Fremdverstehen und Selbstverstehen



Fallverstehen und Diagnostik werden in diesem Buch als ein umfassendes Konzept vorgestellt, das die sachliche Analyse erkennbarer Fakten ebenso umfasst wie das Nachvollziehen und Einfühlen-Können in emotionale Verfassungen und Prägungen. Es geht also um ein Konzept, das den Blick auf andere, hier vor allem Kinder und Eltern, auf ihre Lebensumstände, Interessen und Bedürfnisse ebenso beinhaltet wie den Blick auf die eigene Person als Fachkraft und als Mitarbeitende in einer Organisation. Es geht um Fremdverstehen ebenso wie um Selbstverstehen, denn nur aus beiden Perspektiven zusammen zeigt sich, was konkret der Fall ist, und was in diesem Fall von einer konkreten Fachkraft getan werden kann bzw. muss und was besser nicht.



Bevor in

Kapitel 2

 diese Konzeption von Fallverstehen und Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe differenziert vorgestellt wird, soll hier vorab eine zentrale Voraussetzung dafür erläutert werden: Warum überhaupt sollen und wollen Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe Eltern und Kinder verstehen?



Der Rahmen ...



Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe haben in ihren institutionellen Arbeitszusammenhängen und fachlichen Kooperationen drei große Aufgaben:



Zunächst müssen sie Infrastruktur gestalten, also Angebote und Einrichtungen z. B. der Jugendarbeit und Kindertagesbetreuung oder für Familienbildung und Beratung so entwickeln und betreiben, dass ein „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ (

BMFSFJ 2002

;

Schrapper 2013a

) für alle Kinder eines Gemeinwesens gelingen kann.



Dann müssen die Fachkräfte die Ansprüche von Eltern und Kindern auf konkrete Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch VIII, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz prüfen, konkretisieren und entscheiden. Bei diesen individuellen Leistungsansprüchen geht es vor allem um die „Hilfen zur Erziehung“ (§§ 27 ff. SGB VIII) und die Eingliederungshilfen für junge Menschen mit „seelischen Behinderungen“ (§ 35a SGB VIII).



Und nicht zuletzt müssen sie Schutz für Kinder gewährleisten und hierfür ggf. notwendige Eingriffe begründen und vor dem Familiengericht durchsetzen.



Für die Aufgaben der Gestaltung einer förderlichen Infrastruktur sind differenzierte Kenntnisse der Lebenslagen sowie der Bildungs- und Freizeitbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen (Jugendarbeit) oder der Unterstützungsbedürfnisse von Familien (Kindertagesbetreuung) erforderlich. Schon dafür sind zusammenfassende Analysen konkreter Lebensverhältnisse in Wohnquartieren und für Zielgruppen junger Menschen und ihrer Familien – z. B. Familien mit einem Elternteil, junge Menschen aus Migrationsfamilien –erforderlich, damit Angebote und Leistungen sich gut auf spezielle Interessen, Erfordernisse und Bedingungen einstellen können.



Für die Aufgaben der individuellen Leistungsprüfung ebenso wie für die Gewährleistung von Schutz müssen sich Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe zudem intensiv mit der konkreten Lebenssituation, den Anliegen und Interessen sowie den Möglichkeiten und Grenzen von Hilfe und ggf. auch Eingriff befassen.



... und der Auftrag



Diese Kernaufgaben erfordern eine fundierte sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen und sind wesentliches Element der sozialpädagogischen Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe. Sie beziehen sich immer auf eine besondere Konstellation von Rechten und Pflichten im Dreieck Kind/Jugendlicher – Eltern – Staat.








Abb. 1: Der normative Rahmen für Leistungen und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe



In dem skizzierten Dreiecksverhältnis (

Abb. 1

) haben Kinder nur Rechte: das Recht auf Achtung ihrer Würde, das Recht auf Entfaltung und Entwicklung, das Recht auf Leben und Unversehrtheit und vor allen Dingen auch das Recht auf Eltern, die gut für sie sorgen (vgl.

Britz 2015

). Dies ist die Vorstellung unseres Grundgesetzes, und demnach ist es zu kurz gedacht, das Verhältnis von Kinderrecht und Elternrecht alleine auf den Artikel 6 GG (Erziehung und Versorgung sind das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht) zu beziehen. Erst die Artikel 1 (unveräußerliche Würde), Artikel 2 (freie Entfaltung und Entwicklung jedes Menschen) und Artikel 6 zusammen ergeben ein Gesamtbild von Rechten und Pflichten für ein gelingendes Aufwachsen in der Verantwortung von Eltern und staatlicher Gemeinschaft.



Elternrechte und -pflichten



Eltern haben Rechte und Pflichten. Sie haben ebenso wie die Kinder das Recht auf Achtung ihrer Würde und auf Entfaltung, vor allem auf Respekt vor ihrem Lebensentwurf, Eltern zu sein, Familie zu gestalten und Kinder großzuziehen. Und das Recht auf förderliche gesellschaftliche Bedingungen wie zum Beispiel Kindertagesbetreuung. Eltern haben außerdem ein Recht auf individuelle Unterstützung, wenn sie es für erforderlich halten und wenn es nötig ist. Sie haben auf der anderen Seite die Pflicht, für ihre Kinder zu sorgen. Das ist die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht. Und sie müssen sich gefallen lassen, dass die staatliche Gemeinschaft darüber wacht, dass es ihren Kindern gut geht.



Pflichten des Staates



Der Staat hat nur Pflichten – um in diesem schlichten Bild zu bleiben. SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen sind dabei nicht alleine für die Pflichterfüllung einer wachsamen staatlichen Gemeinschaft zuständig, aber sie sind in der Kinder- und Jugendhilfe an zentraler Stelle mit verantwortlich.



Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung



Mit Blick auf Kinder und Jugendliche, Mädchen und Jungen geht es zuerst um individuell zu unterstützende Prozesse von Erziehung und Bildung – also darum, welche Bilder sich Kinder von sich selbst und von der Welt aneignen konnten bzw. ihnen von Erwachsenen vermittelt wurden. Denn diese Konstrukte von Selbst (Identität) und Welt sind zentrale Anknüpfungspunkte für (sozial-)pädagogische Angebote und Leistungen der „Hilfe zur Erziehung“ für Eltern ebenso wie für eine Unterstützung und Förderung der Selbstbildung junger Menschen.



Dann geht es um die Eltern, ihre Vorstellungen und ihre Praxis sowie um ihre Rechte und Erwartungen an Unterstützung, aber auch um ihre Pflichten und ggf. um die Zumutung, staatliche Kontrolle zuzulassen.



Und immer geht es in der Kinder- und Jugendhilfe um „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ (

BMFSFJ 2002

), also um die Frage, was muss in öffentlicher Verantwortung getan werden, damit Aufwachsen gelingt. Grundsätzlich können hierfür die drei erwähnten Zugänge unterschieden werden: (1) Infrastruktur gestalten wie z. B. die Ausstattung eines Gemeinwesens mit ausreichenden Angeboten der Kindertageseinrichtungen und der Jugendarbeit, (2) Angebote bereithalten zu spezifischen Themen und für bestimmte Zielgruppen (z. B. Erziehungsberatung und Familienbildung) und (3) für konkrete Kinder und Eltern zuständig werden. Um letztere geht es beim Fallverstehen und der Diagnostik in besonderer Weise, also um konkrete Kinder und Eltern, aber immer in Bezug zu den beiden anderen Zugängen, denn Jugendhilfe „wirkt nur als Ganzes gut“ (

Abb. 2

). Und auch die Leistungen der Jugendhilfe für konkrete Kinder und Eltern stehen immer im Zusammenhang mit dem, was auch Jugendhilfe für ein gutes Aufwachsen dieser Kinder z. B. schon in Kita oder Jugendarbeit tut. Der dritte Zugang, also zu jungen Menschen und ihren Familien mit Belastungen und in Krisen oder Not, wird üblicherweise im Rahmen der Fallarbeit umgesetzt, in denen schwierige Lebenslagen und Lebenssituationen als Fall konstruiert werden.

 








Abb. 2: Jugendhilfe wirkt nur als Ganzes gut



Der professionelle Nachweis fundierter Urteilsfähigkeit



Fachkräfte treffen weitreichende Entscheidungen



Sozialpädagogische Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sind im Rahmen der skizzierten gesetzlichen Aufgaben und Aufträge – gerade in der Einzelfallarbeit – gefordert, Einschätzungen zu treffen, die in mehrfacher Hinsicht folgenreich sind: Sie begründen oder verweigern sozialstaatliche Leistungen, sie ermöglichen Schutz vor Gefahr und Bedrohung oder lösen massive Eingriffe in die Privatsphäre von Menschen aus. Nicht selten sind alle genannten Aspekte sozialpädagogischer Einschätzungen komplex und manchmal auch widersprüchlich miteinander verwoben, auf jeden Fall aber haben die getroffenen Beurteilungen weitreichende Folgen. Der Frage des professionellen Verstehens und d