Qualitative Medienforschung

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Diskussion und Weiterentwicklung des Modells der Strukturanalytischen Rezeptionsforschung

Die handlungs- und subjekttheoretische Perspektive in der Massenkommunikationsforschung sieht die Rezeption von Medienangeboten als Teil der Alltagspraxis. Auf diesen grundsätzlichen Ausgangspunkt hin sind zwar alle inzwischen entwickelten handlungstheoretisch orientierten Modelle und Theorien ausgerichtet, in ihrer theoretischen Fundierung sind sie jedoch recht unterschiedlich konzipiert (Charlton 1997, S. 22 f.). Das bislang vorgelegte, vor allem frühe, empirische Material der Strukturanalytischen Rezeptionsforschung bezieht sich überwiegend auf die Rezipientengruppen der (Klein-) Kinder und Jugendlichen. Diese Fokussierung ist jedoch keineswegs theorieimmanenten Gründen oder Zwängen geschuldet, was z. B. biographietheoretische Analysen (Neumann-Braun/Schneider 1993), Studien zur Rundfunkkommunikation, Untersuchungen von Unterhaltungsangeboten für Erwachsene (Neumann-Braun 1993), jüngere Arbeiten zur Lesesozialisation (Charlton/Pette 1999, Groeben/ Hurrelmann 2002) oder zum Medienhandeln junger Erwachsener (Höfer, 2012) zeigen. Die Entwicklungspotenziale des Ansatzes der Strukturanalytischen Rezeptionsforschung zum Ende der 1990er Jahre hin wurden von Charlton (1997, S. 32 f.) skizziert. Darin wird insbesondere auf die Untersuchung der Frage nach Aktivität und Autonomie von Rezipienten sowie auf die Bedeutung von Ko-Texten und sozialen Kontexten für die Medienaneignung verwiesen und schließlich für eine Fortführung einer forciert interdisziplinären Rezeptionsforschung plädiert (vgl. Charlton u.a. 1995). In jüngerer Zeit werden in theoretischer Perspektive zentrale Begrifflichkeiten des Modells präzisiert (z.B. Pseudoadressierungen als eine Form von parasozialer Interaktion, vgl. Sutter 1999) sowie Anschlüsse an Konstruktivismus und Systemtheorie (Sutter/ Charlton 1999, 2001) sowie an Wissenssoziologie und einer Theorie des Alltags (Weiß 2001) diskutiert. In methodischer Perspektive erfahren die Verfahren von Ethnographie und Konversationsanalyse für die empirische Medienrezeptionsforschung eine Fortentwicklung (Schmidt/Neumann-Braun 2003b; Schmidt 2004).

Es ist insbesondere die Gleichzeitigkeit aus der Fokussierung des Individuums als Medienhandelnder und dessen radikaler Kontextualisierung (jede Medienhandlung wird im Kontext seiner sozialen Situation betrachtet und zwar stets vor, während und nach dem Medienkonsum einschließlich der gemachten Erfahrungen und eingebrachten Erwartungen des Mediennutzers), die die strukturanalytische Rezeptionsforschung insbesondere auch für Untersuchungen des aktuellen Medienwandels so wertvoll macht. Denn im Zuge der Mediatisierung erfährt das individuelle Medienhandeln in seiner Komplexität eine Intensivierung, was sowohl die Medienumgebung des Rezipienten betrifft als auch die Anforderungen, die damit für das Individuum (z. B. bei den je eigenen Identitätsbildungsprozessen, Schmidt/Neumann-Braun 2003a) mit einhergehen. Portable Smartphones, Tablets und immer erschwinglicher werdende Flatrates lassen Medienrezeptionsprozesse in ganz verschiedenen sozialen Situationen stattfinden und alltäglich werden. Diese zunehmende mediale Vernetzung des Individuums sowie die allgegenwärtige Verfügbarkeit verschiedenster Medienangebote (Games, Filme, Clips, Musik, Nachrichten etc.) erfordert eine Rezeptionsforschung, die zum einen den Rezipienten dort wahr- und ernst nimmt, wo sich sein Medienhandeln ereignet, nämlich im Alltag und zum anderen den Rezeptionskontext in seiner Komplexität und Unberechenbarkeit nicht außen vorlässt.

Literatur

Baldauf, Heike/Klemm, Michael (1997): Häppchenkommunikation zur zeitlichen und thematischen Diskontinuität beim fernsehbegleitenden Sprechen. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik/GAL-Bulletin, H. 2, S. 41–69.

Charlton, Michael (1987): Möglichkeiten eines sozialwissenschaftlichen Handlungsbegriffs für die psychologische Forschung. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie, Jg. 18, H. 1, S. 2–18.

Charlton, Michael (1997): Rezeptionsforschung als Aufgabe einer interdisziplinären Medienwissenschaft. In: Ders./Schneider, Silvia (Hrsg.): Rezeptionsforschung. Opladen, S. 16–39.

Charlton, Michael/Neumann(-Braun), Klaus (1986): Medienkonsum und Lebensbewältigung in der Familie. München.

Charlton, Michael/Neumann(-Braun), Klaus (1990): Medienrezeption und Identitätsbildung. Tübingen.

Charlton, Michael/Neumann(-Braun), Klaus (1992): Medienkindheit – Medienjugend. München.

Charlton, Michael/Pette, Corinna (1999): Lesesozialisation im Erwachsenenalter: Strategien literarischen Lesens in ihrer Bedeutung für Alltagsbewältigung und Biographie. In: Groeben, Norbert (Hrsg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (10. Sonderheft). Tübingen, S. 102–117.

Charlton, Michael/Goetsch, Paul/Hömberg, Walter/Holly, Werner/Neumann-Braun, Klaus/Viehoff, Reinhold (1995): Zur Programmatik einer interdisziplinären Rezeptionsforschung. In: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft (SPIEL), Jg. 14, H. 2, S. 291–309 (engl.: A Programmatic Outline of Interdisciplinary Reception Studies. Communications 1997, Jg. 22, H. 2, S. 205–222).

Gerbner, Georg/Gross, Johannes (1976): The Scary World of TV’s Heavy Viewer. In: Psychology Today, H. 9, S. 41–45.

Groeben, Norbert/Hurrelmann, Bettina (Hrsg.) (2002): Lesekompetenz. Weinheim.

Höfer, Wolfgang (2012): Medien und Emotionen. Zum Medienhandeln junger Menschen. Wiesbaden.

Kaase, Max/Schulz, Winfried (Hrsg.) (1989): Massenkommunikation. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. No. 30. Opladen.

Keppler, Angela (2013): Reichweiten alltäglicher Gespräche. Über den kommunikativen Gebrauch alter und neuer Medien. In A. Bellebaum, & R. Hettlage (Hg.), Unser Alltag ist voll von Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge. Wiesbaden, S. 85–104.

Krotz, Friedrich (1997): Kontexte des Verstehens audiovisueller Kommunikate. Das sozial positionierte Subjekt der Cultural Studies und die kommunikativ konstruierte Identität des symbolischen Interaktionismus. In: Charlton, Michael/Schneider, Silvia (Hrsg.): Rezeptionsforschung. Opladen, S. 73–89.

Michel, Sascha (2015): »herr niebel hat hochwasserhosen …«. Aneignungsprozesse multimodaler Aspekte von Polit-Talkshows im Social TV am Beispiel von Twitter. In: Girnth, Heiko & Ders. (Hg.), Polit-Talkshow: Interdisziplinäre Perspektiven auf ein multimodales Format. Stuttgart, S. 285–316.

Neumann-Braun, Klaus (1993): Rundfunkunterhaltung. Tübingen.

Neumann-Braun, Klaus (2000): Publikumsforschung. In: Ders./Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.) (2000): Medien- und Kommunikationssoziologie. Weinheim, S. 181–204.

Neumann-Braun, Klaus/Schneider, Silvia (1993): Biographische Dimensionen der Medienaneignung. In: Holly, Werner/Püschel, Ulrich (Hrsg.): Medienrezeption als Aneignung. Opladen, S. 193–210.

Rapp, Uri (1973): Handeln und Zuschauen. Darmstadt.

Schmidt, Axel (2004): Doing Peer-Group. Frankfurt.

Schmidt, Axel/Neumann-Braun, Klaus (2003a): Kommunikativer Mediengebrauch in der Peer-Group und seine Relevanz für Identitätsbildungsprozesse – ein Fallbeispiel aus einer ethnographisch-gesprächsanalytischen Untersuchung. In: Hengst, Heinz u. a. (Hrsg.): Körper und Identitäten. Weinheim, S. 267–290.

Schmidt, Axel/Neumann-Braun, Klaus (2003b): Keine Musik ohne Szene!? Ethnographische Perspektiven auf die Teilhabe »Allgemein Jugendkulturell Orientierter Jugendlicher« (AJOs) an Popmusik. In: Neumann-Braun, Klaus u.a. (Hrsg.): Popvisionen. Frankfurt a. M., S. 246–272.

Schulze, Gerhard (1995): Das Medienspiel. In: Müller-Doohm, Stefan/Neumann-Braun, Klaus (Hrsg.): Kulturinszenierungen. Frankfurt a. M., S. 363–378.

Sutter, Tilmann (1995): Zwischen medialer Überwältigung und kritischer Rezeption. In: Publizistik, Jg. 40, H. 3, S. 345–355.

Sutter, Tilmann (1999): Medienkommunikation als Interaktion? Über den Aufklärungsbedarf eines spannungsreichen Problemfeldes. In: Publizistik, Jg. 44, H. 3, S. 288–300.

Sutter, Tilmann/Charlton, Michael (1999): Die Bedeutung einer konstruktivistischen Theorie sozialen Handelns für die Medienforschung. In: Rusch, Gerhard/Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Konstruktivismus in der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Delfin 1997. Frankfurt a. M., S. 79–113.

Sutter, Tilmann/Charlton, Michael (Hrsg.) (2001): Massenkommunikation, Interaktion und soziales Handeln. Wiesbaden.

Weiß, Ralph (2001): Fern-Sehen im Alltag. Opladen.

Diskursanalyse
RAINER DIAZ-BONE

Ein Ansatz für die Analyse kollektiver, massenmedial repräsentierter Wissensbestände ist die Diskurstheorie von Michel Foucault. Diese hat sich im interdisziplinären Feld der Diskurstheorien als eine der einflussreichsten etabliert. Auf dieser Grundlage sind verschiedene Methodologien für die praktische Diskursanalyse entwickelt worden. Diskursanalysen im Anschluss an Foucault können als Formen qualitativer Methodologie aufgefasst werden, die eine nicht subjektbezogene Form der Interpretation verwenden. Gemeinsame Zielsetzung dieser Diskursanalysen ist die systematische Rekonstruktion kollektiver Wissensordnungen und Wissenspraktiken. Diskursanalysen wollen aufzeigen, wie Diskurse in Wechselwirkung zu Institutionen und Kollektiven stehen, welche Machtwirkungen, Identitätsstiftungen und soziale Prozesse sie ermöglichen. Der Diskurstheorie unterliegt dabei eine konstruktivistische Perspektive, die dementsprechend auch der Grundzug der Methodologie der Diskursanalyse ist.

 

Theoretisch-methodologische Einordnung

Unter der Bezeichnung »Diskursanalyse« ist in den letzten drei Jahrzehnten ein interdisziplinäres und internationales Forschungsfeld entstanden (vgl. van Dijk 1997a, 1997b; Williams 1999; Keller 2011; Keller u.a. 2010, 2011; Wrana u.a. 2014). Dabei haben nicht nur verschiedene Disziplinen von der Linguistik, der Geschichtswissenschaft, der Psychologie bis hin zur Soziologie Beiträge zur Theorie des Diskurses und der Methode seiner Analyse eingebracht, es haben sich auch innerhalb einzelner Disziplinen verschiedene Diskurstheorien mit je unterschiedlichen Konzepten von »Diskurs« herausgebildet. Die Diskursforschung, die sich auf die Diskurstheorie von Michel Foucault bezieht, stellt derzeit die einflussreichste Form sozialwissenschaftlicher Diskursforschung dar. Die foucaultsche Diskurstheorie ist keine vollständige sozialwissenschaftliche Theorie in dem Sinne, dass sie beanspruchen kann, alle sozialen Phänomene beschreiben zu können. Die Diskurstheorie beinhaltet dennoch soziologische Theoreme, die als Elemente für eine Gesellschaftstheorie aufgefasst werden können und je nach Untersuchungsansatz ergänzt werden. Aus Sicht Foucaults werden Gesellschaften durch Diskurse maßgeblich mitorganisiert. Diskurse bringen Weltbilder, Gesellschaftsdeutungen und sozial wirksame Klassifikationen hervor. Sie führen zur Bildung von Institutionen und sie sind in Institutionen mit weiteren Praktiken verkoppelt, sodass sie soziale Machtwirkungen ausüben. Insgesamt prägen Diskurse Subjektivitäten und Lebensstile, sie führen zur Bildung von Kollektiven und sozialen Bewegungen. In differenzierten Gesellschaften stellen die verschiedenen Massenmedien Foren für diese Wissensordnungen dar. Diskurse können dabei auf soziale Felder oder Bereiche begrenzt sein, sie können spezifisch für soziale Gruppen und Kollektive sein oder sie können als Interdiskurse soziale Felder und Themenbereiche übergreifen und aneinander vermitteln.

Mit dem Begriff »Diskursforschung« (Keller 2011) können sowohl die Theorie des Diskurses als auch die Methodologie der Diskursanalyse umfasst werden. Die foucaultsche Diskursanalyse ist nicht einfach eine frei verwendbare Methode der Gesprächs- oder Wissensanalyse, die mit allen sozialwissenschaftlichen Theorieansätzen kombinierbar wäre. Wenn es einige soziologische Ansätze gibt, die in neuerer Zeit mit der Diskurstheorie vermittelt werden, so ist dies möglich, weil diese Theorien Grundpositionen vertreten, die mit der Diskurstheorie kompatibel sind. Damit wird deutlich, dass die Diskursanalyse nicht einfach nur ein Auswertungsverfahren für qualitative Daten ist, sondern ein empirischer Forschungsansatz, dem ein zugehöriges theoretisches Diskursmodell vorangeht und dessen Methodologie die theoretischen Grundpositionen in sich wiederholt. Die Diskursanalyse wird damit eine Form der Analyse (vorwiegend) von Medieninhalten, die auch ein theoretisches Denken in die Medienforschung einbringt. Diskursanalysen versuchen zunächst, Diskurse als kollektive Praxisformen und Wissensordnungen (als Resultate dieser Praxisformen) zu identifizieren und deren innere Organisation zu rekonstruieren. Danach wird der Fokus erweitert und nach den Wechselwirkungen zwischen Diskursen einerseits und nicht-diskursiven sozialen Vorgängen (institutionellen Prozeduren, Handlungsroutinen, Techniken) andererseits gefragt.

Obwohl Michel Foucault die Diskurstheorie einflussreich ausgearbeitet hat (Foucault 1973) und selbst materialreiche historische Studien angefertigt hat, hat er keine eigene explizite und auf andere Studien übertragbare Methodologie oder methodische Schrittfolge vorgelegt. Mittlerweile ist dies aber von Diskursforschern nachgeholt worden (Jäger 2012; Keller 2011), was zu verschiedenen Entwürfen für diskursanalytische Schrittfolgen geführt hat. Charakteristisch ist, dass immer wieder als Ausgangspunkt für die Entwicklung der Diskursanalyse die Kritik an der Inhaltsanalyse (content analysis) angeführt wird. Dieser wird kritisch vorgehalten, dass sie die Prozesse der Bedeutungskonstitution nicht erfassen kann, sondern diese einfach als a priori gegeben voraussetzen muss (Jäger 2012; Pêcheux 1982). Auch wird durch die Inhaltsanalyse die semantische Organisation des Wissens nicht zum Gegenstand gemacht. Stattdessen erfasst die Inhaltsanalyse die Häufigkeiten von vorher festgelegten Bedeutungseinheiten, die dann statistischen Häufigkeits- und Korrelationsanalysen unterzogen werden. Die Inhaltsanalyse reflektiert dabei nicht, wie die Semantik ihrer Codiereinheiten (z.B. Sätze) zustande kommt. Diskurstheoretisch betrachtet ist die Bedeutung ein Effekt im Kontext eines Aussagensystems. Dieses Aussagensystem kann aber nicht als Messkategorie vorab entschieden werden, sondern muss aus dem Material erst rekonstruiert werden. Die Inhaltsanalyse untersucht eben nicht die Entstehung von Bedeutungseffekten in Aussagensystemen, sie liefert keine Theorie der Bedeutungspraxis, sie exploriert nicht die Ordnung von Wissen und sie betrachtet Wissen nicht im weiteren sozialhistorischen Entstehungskontext. Semantik ist für die Inhaltsanalyse ein Datum (das unter Codierern verhandelt wird), für die Diskursanalyse ist Semantik ein Explanandum und Resultat einer diskursiven Praxis.

Die Methodologie der Diskursanalyse

Was ist also nach Foucault ein Diskurs? Ein Diskurs besteht nicht aus den Aussagen eines Sprechers, als ob das Sprecherkonzept eine Klammer für die Einheit des Diskurses und die Bedeutung wäre (wie in der Sprechakttheorie). Ein Diskurs ist auch nicht die zwanglose und aufgeklärte Konversation, die der Verständigung zwischen vernunftbegabten (und deshalb autonomen) Subjekten dient, wie in der Diskursethik von Habermas. Auch ist der Diskurs nicht eine grammatikalische Organisation von Aussagen, also nicht die satzübergreifende formale linguistische Textstruktur (wie in der Diskurslinguistik).

Ein foucaultscher Diskurs besteht aus den tatsächlich aufgetretenen Aussagen, die in einer Epoche in einem sozialen Feld ein Aussagensystem gebildet haben oder bilden. Diese Aussagen sind wirkmächtig, sie sind Wissen hervorbringende und reproduzierende Praktiken sowie mit Machtwirkungen verkoppelte Sprechpraktiken. Dreyfus und Rabinow (1987) bezeichnen die foucaultschen Aussagen daher als seriöse Sprechakte und unterscheiden sie damit von den austinschen Sprechakten. Von einem Aussagensystem spricht man in der foucaultschen Diskurstheorie deshalb, weil die Aussagen eines Diskurses durch die Regeln ihrer Hervorbringung zusammengehören und als Ermöglichungszusammenhang für die je einzelne Aussage zusammenwirken. Wer was wann mit welchen Äußerungsformen anhand welcher Argumentationsstrategien über welche Sachverhalte sagen konnte und Beachtung erhielt, was abstrakte Konzepte bedeutet haben, welche Problematisierungen sie getragen oder auf sich gezogen haben, was zu einer Zeit denkmöglich war, all das ist durch die Regeln eines Aussagensystems strukturiert. Aber woher stammen diese Regeln, und wer hat sie definiert? Nach Foucault entstehen Diskurse als reglementierte Aussagensysteme nicht durch die Absichten einzelner Akteure, sondern sie sind selbst historisch in anonymen und überindividuellen Prozessen entstanden. Sind sie aber erst einmal vorhanden, stellen sie für eine relative historische Dauer ein wirkmächtiges eigengesetzliches Wissenssystem dar, das auf andere (nicht-diskursive) Praxisformen einwirkt.

Foucault hat anstelle des Begriffs »Diskurs« auch den Begriff der »diskursiven Praxis« verwendet um hervorzuheben, dass Diskurse konstruiertes Wissen in einem sozialen Feld darstellen und nicht eine diskursunabhängige vorgängige Realität einfach abbilden. Er hat zunächst vier Bestandteile eines Diskurses unterschieden. In einem Aussagensystem treten (1) »Objekte« im Wissen erst als Objekte hervor, die nun thematisiert, klassifiziert und problematisiert werden können. Dies geschieht mit Bezug auf ebenso im Diskurs hervorgebrachte (2) »Begriffe«, also Denkkonzepte, Fachwörter, Prinzipien, Kategorien usw., die im Aussagensystem eine reglementierte Verwendungsweise und damit eine bestimmte Bedeutung haben. Akteure, die in sozialen Bereichen als (3) »Sprecher« Aufmerksamkeit erhalten wollen, bedienen sich vorbewusst der reglementierten Äußerungsmodalitäten, damit das von ihnen Geäußerte auch Geltung erhält. In einem Feld werden dann in der Weise, wie Objekte und Begriffe vernetzt, bewertet und problematisiert sind (4), thematische Wahlen (was kann thematisiert werden, und was wird ausgeblendet?) sowie denkbare Strategien und Handlungsperspektiven möglich. Diese vier Bestandteile hat Foucault diskursive Formationen genannt. Die vier diskursiven Formationen der Begriffe, Objekte, Sprecherpositionen und thematischen Wahlen/Strategien treten dabei nicht als isoliert zu betrachtende Aspekte, sondern in Verbindung miteinander auf. Insbesondere in seinen frühen Untersuchungen hat Foucault hervorgehoben, dass diese vier Formationen durch ein zugrundeliegendes Denkschema, eine Art Tiefenstruktur des Wissens, die er Episteme genannt hat, integriert werden und dass diese Episteme das Denken einer Epoche in gleich mehreren Wissensbereichen (denjenigen vom Sprechen/der Sprachwissenschaft, vom Tauschen/der Ökonomie und vom Leben/der Biologie) zu integrieren in der Lage war (Diaz-Bone 2013).

Die foucaultsche Analyseperspektive ist zunächst diejenige der (von ihm so benannten) »Archäologie«. Wie der Archäologe sich Monumenten einer vergangenen Epoche ohne Vorwissen und ohne die Kenntnis der Deutungsmuster dieser Epoche nähert, so betrachtet der Diskursanalytiker einen zeitgenössischen Diskurs, ohne die verstehende Perspektive von Akteuren einzunehmen und mit der erkenntnistheoretischen Distanzierung, dass ein Diskurs keine simple Abbildung einer nicht-diskursiven Wirklichkeit sei. Die Frage des Archäologen ist dann: Welche Wissensordnung ist anhand welcher Klassifikationen, Denkprinzipien, Begriffe, Konzepte möglich? Foucault hat eine für Europäer befremdliche Klassifikation angeführt, die er zwar als fiktive Klassifikation bei dem Schriftsteller Jorge Luis Borges entlehnt hat, die aber gut demonstriert, was den archäologischen Blick ausmacht: die Einnahme einer außenstehenden Perspektive auf die zu analysierenden Wissensordnungen. Borges berichtet von einer »chinesischen Enzyklopädie«, in der Tiere anhand einer Taxonomie wie folgt klassifiziert werden: 1) Tiere, die dem Kaiser gehören, 2) einbalsamierte Tiere, 3) gezähmte, 4) Milchschweine, 5) Sirenen, 6) Fabeltiere, 7) herrenlose Hunde, 8) in diese Gruppierung gehörige, 9) die sich wie Tolle gebärden, 10) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, 11) und so weiter, 12) die den Wasserkrug zerbrochen haben, 13) die von weitem wie Fliegen aussehen. Foucault zählt die Kategorien auf und konstatiert anschließend: »Bei dem Erstaunen über diese Taxonomie erreicht man mit einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken« (Foucault 1971, S. 17; H.i.O.). Und Foucault fragt von hier aus weiter: Was ist eigentlich möglich für uns zu denken? Das zu beantworten soll Aufgabe der Archäologie sein. Die archäologische Analyseperspektive wird ergänzt durch die genealogische Analyseperspektive, die nun auch nicht-diskursive Praktiken einbezieht und nach den Wechselbeziehungen zwischen diskursiven Praktiken und nicht-diskursiven Praktiken fragt. In dieser heute so bezeichneten Dispositivanalyse (Link 2013; Jäger 2012) wird das Beziehungsgeflecht aus Wissenspraktiken einerseits und Institutionen, Verfahrensweisen, Techniken andererseits untersucht. Die genealogische Perspektive betrachtet die Diskurse sowohl als Resultat als auch als Grundlage sozialer (Macht-) Prozesse und bezieht in die Analyse solche theoretischen Konzepte ein, die zur Veränderung der diskursiven Formation (der Regeln) beitragen.

Mit dem Begriff des diskursiven Ereignisses wird in der Diskurstheorie denkbar, dass diskursive Prozesse nicht einfach Ent-Faltungen von im Diskurs angelegten »Logiken« sind, sondern beeinflusst werden durch die Eigenschaft von Aussagensystemen, Aussagen mit Ereignischarakter hervorzubringen. Aussagen können nicht einfach wiederholt werden, wenn sie etwas Ereignishaftes, das heißt etwas Einmaliges an sich haben: Wiederholt man einfach eine Aussage, ist der Sinn im Aussagensystem ein anderer, und es liegt ein anderes Ereignis vor! Aussagen können eine ungeplante nicht teleologische Veränderung des Regelsystems hervorbringen. Hier öffnet sich der strukturalistische Ansatz zu einer poststrukturalistischen Sicht auf Regelsysteme der diskursiven Praxis, die in Veränderung sind und die nur virtuell geschlossen zu denken sind. Michel Pêcheux (1982) hat darauf hingewiesen, dass Diskurse (abgrenzbare durch Regeln beschreibbare Wissensordnungen) eingebettet sind in Interdiskursordnungen. Letztere bewirken, dass in Diskursen Widersprüche und Inkohärenzen auftreten, die die diskursive Praxis zu verbergen versucht, die aber dennoch für eine stetige und produktive Unruhe in Diskursen sorgen. In Deutschland hat Jürgen Link die Interdiskurstheorie aufgegriffen und gezeigt, dass sich unterscheiden lässt zwischen Spezialdiskursen (wie z. B. juristischen oder Wissenschaftsdiskursen) und Interdiskursen, die im Wortsinn eher als allgemeine, populäre Wissensregionen zu verstehen sind, die massenmedial verankert sind und die den Austausch zwischen Spezialdiskursen bewerkstelligen, sodass diese für große Bevölkerungsgruppen »übersetzt« werden. Bei dieser Übersetzung spielen Kollektivsymbole eine wichtige Rolle (vgl. Becker u.a. 1985). Soll etwa der ökonomische oder finanzpolitische Diskurs massenmedial aufbereitet und popularisiert werden, helfen Kollektivsymbole, wie dasjenige des »Motors« aus: Die Weltwirtschaft springt an, muss geschmiert werden oder gerät ins Stocken etc. Kollektivsymbole können als epistemische, also Interdiskurse auf tieferer Ebene organisierende Elemente aufgefasst werden. Diskursanalyse wird dann zur Kollektivsymbolanalyse und der Analyse von Diskurspositionen, die sich durch einen unterschiedlichen Gebrauch der in Interdiskursen vorhandenen Repertoires von Kollektivsymbolen auszeichnen. Diskurspositionen unterscheiden sich danach, wie sie Kollektivsymbole verwenden, nicht dadurch, dass ihnen unterschiedliche Repertoires von Kollektivsymbolen zur Verfügung stehen. Beispiel: das Kollektivsymbol des sozialen »Netzes« kann als Sicherheit verbürgende Metapher eingebracht werden (soziales Netz = Auffangnetz für sozial Schwache) oder als Metapher für Faulenzertum (soziales Netz = soziale Hängematte). Jede massenmediale verfasste Gesellschaft weist eine solche Kollektivsymbolordnung (die Link »System synchroner Kollektivsymbole« nennt) auf, die die Infrastruktur für massenmedial wirksame Interdiskurse bildet.

 

Siegfried Jäger (2012) hat mit Bezug auf Link und Pêcheux die Diskursstränge zum Konzept der Diskursanalyse gemacht. Diskursstränge stellen für Jäger die vernetzten Bestandteile von Diskursen dar, die bei Foucault die vier Formationen waren. Bei Jäger werden Diskurse daraufhin analysiert, aus welchen Diskurssträngen (Themensträngen) sie bestehen, wie die Diskursstränge sich entwickeln und wie sie im Diskurs miteinander vernetzt werden. Alle sozialwissenschaftlich interessierten Diskursanalytiker in der Tradition Foucaults haben gemeinsam das Interesse, zum einen zu versuchen, nicht einzelne Diskurse zu analysieren, sondern Diskurse einmal (in synchroner und diachroner Perspektive) mit anderen Diskursen zu vergleichen und zum anderen Diskurse im Zusammenhang mit nicht-diskursiven Praktiken zu betrachten. Zielsetzung ist, den Gehalt der sozialkonstruktivistischen Ansätze auch analytisch einzulösen. Dass das Soziale durch soziale Prozesse hervorgebracht ist, ist mittlerweile ein Allgemeinplatz. In detaillierten Analysen zu zeigen, wie diese Konstruktion erfolgt ist, ist Aufgabe empirisch orientierter sozialkonstruktivistischer Forschung, wozu auch die Diskursanalyse zu zählen ist. Praktisch erfolgt dies durch den Beleg, dass soziale Wissensordnungen und Dispositive in ihrer Entstehung kontingent sind. Diesen Nachweis kann man einmal anhand der Vergleichsperspektive einzulösen versuchen. Denn wenn demonstriert werden kann, dass Wissen nicht einfach nur Wissen-von-etwas ist (im Sinne einer sprachlichen Wiederholung vorgängiger objektiver und vorsprachlicher Welt), sondern eine davon weitgehend abgekoppelte Sphäre ist, dann sieht man, dass in den sozialen Feldern jeweils verschiedene »Weltauslegungen« möglich sind, dass die vorsprachliche Welt sinnhaft unvollständig ist und deshalb Interpretation erfordert, und dass es Diskurse sind, die in die soziale Welt Wertungen, Wertigkeiten, Deutungen und letztlich Ordnung einbringen und somit Verstehen möglich machen. Die diskursanalytische Vergleichsperspektive kann dann aufzeigen, dass eine vorhandene Weise der Weltauslegung auch anders möglich wäre. Dieser konstruktivistische Blick zersetzt oder entzaubert damit Alltagsevidenzen (Deontologisierung): in historischer (diachroner) Perspektive durch den Nachweis, wie Diskurse in sozialen Prozessen entstanden sind, ohne eine innere Teleologie (Zielgerichtetheit) der Diskursentwicklung zu unterstellen, in synchroner Perspektive durch die Suche nach vergleichbaren sozialen Feldern (oder Teilfeldern) und den Nachweis, wie sich die dort vorfindbaren Diskursordnungen warum unterscheiden.1

Die foucaultsche Diskursanalyse ist durch eine poststrukturalistische Hermeneutik charakterisierbar. Dreyfus und Rabinow (1987) haben diese Hermeneutik »interpretative Analytik« genannt, die von subjektzentrierten Hermeneutiken und strukturalistischen Interpretationsansätzen abgrenzbar ist (Diaz-Bone 2013, in Vorbereitung). Es geht in der Rekonstruktion und Deutung von Diskursen als Sinnregionen nicht um die Erfassung von Subjektverstehen, also um die Bedeutung, die Diskurse als Wissensregionen für die Beteiligten haben. Diskurse werden als Praxisformen aufgefasst mit Regeln, die für die in Diskurse »verwickelten« Individuen nicht vollständig bewusst sein müssen. Erst wenn man ein Aussagensystem als Wissensordnung in einem sozialen Feld untersucht und eine vergleichende oder distanzierende Perspektive in der Analyse einnimmt, kann versucht werden, die Grundmuster des Wissens und die Regeln der diskursiven Praxis nach und nach zu rekonstruieren, wie sie den Beteiligten gar nicht vor Augen stehen müssen. Die interpretative Analytik ist auch zu unterscheiden von im engeren Sinne strukturalistischen Interpretationsansätzen, da nicht angenommen wird, dass die Wissensordnung und die diskursive Praxis als statisch oder durch universale Oppositionen organisiert werden. Die diskursive Praxis ist eine strukturierte, also eine durch Regelmäßigkeiten beschreibbare Praxisform, die sich verändert und die je nach sozialem Feld und Epoche unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Auch vertritt der frühe Strukturalismus die erkenntnistheoretische Position von einer Objektivität (Positivität) der Regeln für Wissensproduktion. Die interpretative Analytik ist dagegen eine konstruktivistische Methodologie. Darunter ist zu verstehen, dass Diskursanalytiker vor Beginn der Untersuchung unterstellen, es gebe Diskurse in bestimmten sozialen Feldern und Epochen, die durch rekonstruierende Analyseschritte herausgearbeitet werden könnten. Das Resultat von Diskursanalyse hat dann aber den Status einer sozialen (wenn auch wissenschaftlichen) Konstruktion, es handelt sich um einen methodisch erarbeiteten Diskurs über Diskurse. Die diskursanalytische Vorgehensweise führt eine konstruktivistische Doppelbewegung aus:

1) Diskurse sind nicht einfach als abgrenzbares Aussagensystem direkt und offen erkennbar. Die Diskursanalyse konstruiert eingangs eine Forschungsperspektive, die theoretisch gestützt unterstellt, dass eine abgrenzbare Regelhaftigkeit der Wissensproduktion, also eine diskursive Formation (von »Begriffen«, »Objekten«, Sprecherpositionen, thematischen Wahlen/Strategien) mit einer bestimmten Tiefenstruktur in einer Epoche in einem sozialen Feld vorfindbar ist.