1. Was ist eine Institution?
Will man den Begriff der Institution auf eine Kurzformel bringen, so kann man festhalten: Eine Institution ist „eine
Erwartung
über die Einhaltung bestimmter
Regeln
, die verbindliche
Geltung
beanspruchen.“
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Oder ausführlicher: Institutionen sind „bestimmte, in den
Erwartungen
der Akteure verankerte,
sozial
definierte
Regeln
mit gesellschaftlicher
Geltung
und daraus abgeleiteter ‚unbedingter‘ Verbindlichkeit für das Handeln.“
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Diese Regeln sind in Kraft, auch wenn einzelne Beteiligte sie nicht kennen, missachten oder vergessen – oft werden sie gesellschaftlich eingefordert und/oder sanktioniert.
Institutionen betreffen ganz verschiedene gesellschaftliche Bereiche wie die generative Reproduktion, die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, die Versorgung mit Gütern des alltäglichen und außeralltäglichen Bedarfs, die Aufrechterhaltung der inneren und äußeren politischen Ordnung sowie die Tradierung und Weiterentwicklung von symbolischen Codes und Sinnbezügen. Indem Institutionen hier
„die Beliebigkeit und Willkür des sozialen Handelns beschränken, üben sie normative Wirkung aus; sie geben Werte vor und legen Pflichten fest. Dabei leisten sie eine Doppelfunktion: einmal für den Menschen, dessen Bedürfnisnatur sie formen, zum anderen für die Gesellschaft, deren Strukturen und Bestand sie sichern.“
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Damit nehmen Institutionen – wie weiter unten noch ausführlicher zu zeigen sein wird – in Bezug auf Individuum und Gesellschaft Entlastungs- und Sicherungsfunktionen wahr.
Zuvor bedarf es aber noch der Abgrenzung des Institutionsbegriffs von zwei ähnlichen, aber nicht gleichen Sachverhalten:
„erstens von einfachen, aber nicht als Erwartungen verankerten oder gar durch Sanktionen erzwungenen oder über bestimmte moralische Gefühle getragenen, bloßen
Regelmäßigkeiten
des Handelns. Zweitens sind Institutionen von den konkreten und inhaltlich bestimmten sozialen Gebilden zu unterscheiden, in denen soziale Regeln zwar angewandt werden, die aber nicht allein daraus bestehen.“
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Im zweiten Fall ist eben nicht – wie oft angenommen – von Institution, sondern von Organisation zu sprechen. Eine Organisation ist gegenüber der Institution
„ein für bestimmte Zwecke eingerichtetes soziales Gebilde mit einem formell – bzw. ‚institutionell‘ – vorgegebenen Ziel, mit formell geregelter Mitgliedschaft, einer das Handeln der Mitglieder regelnden institutionellen ‚Verfassung‘, sowie – meist – einem eigenen ‚Erzwingungsstab‘ zur Durchsetzung dieser Verfassung.“
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Organisationen als soziale Gebilde bedienen sich demnach institutioneller Regeln, sie sind jedoch zugleich mehr als diese.
2. Die Entstehung von Institutionen
Institutionen entwickeln sich nach Peter L. Berger und Thomas Luckmann aus der – der Gewöhnung entspringenden – Habitualisierung des Handelns, die den psychologisch wichtigen Gewinn der begrenzten Auswahl ermöglicht und von dauernden Entscheidungen entlastet. Demnach verfestigt sich
„jede Handlung, die man häufig wiederholt, zu einem Modell, welches unter Einsparung von Kraft reproduziert werden kann und dabei vom Handelnden
als
Modell aufgefaßt wird. Habitualisierung in diesem Sinne bedeutet, daß die betreffende Handlung auch in Zukunft ebenso und mit eben der Einsparung von Kraft ausgeführt werden kann. Das gilt für nichtgesellschaftliche wie für gesellschaftliche Aktivitäten.“
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Damit aus habitualisierten Handlungen Institutionen werden, bedarf es der gegenseitigen Verschränkung von Akten und Akteuren.
„Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. Für ihr Zustandekommen wichtig sind die Reziprozität der Typisierung und die Typik nicht nur der Akte, sondern auch der Akteure.“
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Auf institutionaler Ebene werden habitualisierte Handlungen dann im Verlauf eines geschichtlichen Prozesses zur allgemeinen Verbindlichkeit erhoben.
„Wenn habitualisierte Handlungen Institutionen begründen, so sind die entsprechenden Typisierungen Allgemeingut. Sie sind für alle Mitglieder der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe
erreichbar
. Die Institution ihrerseits macht aus individuellen Akteuren und individuellen Akten Typen.“
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Dieser Prozess der Habitualisierung hin zur Institution bleibt nicht ohne Konsequenzen für das einzelne Individuum. Die institutionalisierte Handlung steht nun
per se
unter sozialer Kontrolle.
„Wenn ein Bereich menschlicher Tätigkeit institutionalisiert ist, so bedeutet das eo ipso, daß er unter sozialer Kontrolle steht. Zusätzliche Kontrollmaßnahmen sind nur erforderlich, sofern die Institutionalisierungsvorgänge selbst zum eigenen Erfolg nicht ganz ausreichen.“
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Die Erleichterung durch den eingeschränkten Zwang zur Wahl wird dabei durch eine Reduktion der potentiellen Möglichkeiten erkauft.
„Durch die bloße Tatsache ihres Vorhandenseins halten Institutionen menschliches Verhalten unter Kontrolle. Sie stellen Verhaltensmuster auf, welche es in eine Richtung lenken, ohne ‚Rücksicht‘ auf die Richtungen, die theoretisch möglich wären. Dieser Kontrollcharakter ist der Institutionalisierung als solcher eigen.“
182
Im eben angesprochenen geschichtlichen Werden der Institution verschiebt sich die Priorität vom Subjekt zum Objekt. Während anfangs der Prozess der Institutionalisierung noch überschaubar und plausibel ist, gewinnt die Institution objektive Macht, indem sie immer weniger hinterfragt wird. Für Menschen,
„die selbst dieser Welt im Verlauf gemeinsamen Lebens Gestalt gegeben haben, eines Lebens, an das sie sich erinnern können, ist diese ihre Welt noch durchschaubar. Sie verstehen, was sie selbst geschaffen haben. Das ändert sich jedoch mit der Weitergabe an eine neue Generation. Die Objektivität der institutionalen Welt ‚verdichtet‘ und ‚verhärtet‘ sich, nicht nur für die Kinder, sondern – mittels eines Spiegeleffektes – auch für die Eltern. Aus dem ‚Da wären wir wieder einmal‘ wird ein ‚So macht man das‘. Eine Welt, so gesehen, gewinnt Festigkeit im Bewußtsein. Sie wird auf massivere Weise wirklich und kann nicht mehr so einfach verändert werden.“
183
Letztlich führt dies zu dem „Paradoxon, daß der Mensch fähig ist, eine Welt zu produzieren, die er dann anders denn als ein menschliches Produkt erlebt“
184
. Denn bei fortgeschrittener Institutionalisierung stehen nun die aus menschlichem Handeln resultierenden Institutionen
„dem Individuum als objektive Faktizitäten unabweisbar gegenüber. Sie sind
da
, außerhalb der Person, und beharren in ihrer Wirklichkeit, ob wir sie leiden mögen oder nicht. Der Einzelne kann sie nicht wegwünschen. Sie widersetzen sich seinen Versuchen, sie zu verändern oder ihnen zu entschlüpfen. Sie haben durch ihre bloße Faktizität zwingende Macht über ihn, sowie auch durch die Kontrollmechanismen, die mindestens den wichtigsten Institutionen beigegeben sind.“
185
3. Funktionen der Institution
Institutionen stellen zwar „dem Individuum gegenüber den Anspruch auf Autorität“
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, sie entlasten aber auch zugleich. Institutionen „stabilisieren Spannungen dadurch, dass sie den Menschen vom Druck unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung mittels Übersetzung in anhaltende kulturelle ‚Steigerung‘ entlasten“
187
. Sie sind „Teile und Folgen der Versuche der Menschen, ihre Probleme im Alltag zu lösen“, sie dienen der
„Schaffung von
individueller Orientierung
und von
kollektiver Ordnung
in einer komplizierten Welt dadurch, daß mit ihnen die Unberechenbarkeiten der psychischen Motive und die Unwägbarkeiten des sozialen Handelns einigermaßen kontrollierbar und vorhersehbar werden“
188
.
Den Institutionen kommen dabei nach Hartmut Esser eine
Orientierungsfunktion
, eine
Ordnungsfunktion
sowie eine
Sinnstiftungsfunktion
zu. So gesehen kann man
„die Funktion der Entlastung von Unsicherheit und Entscheidungsdruck die
Orientierungsfunktion
und die der Absicherung der sozialen Ordnung und der Kooperation die
Ordnungsfunktion
der Institutionen nennen. Sie beruhen beide auf einer ganz allgemeinen Funktion von Institutionen: die Einordnung eines Handelns in einen den Akteuren im Prinzip verständlichen und sie dann auch bindenden weiteren Zusammenhang – den Sinnzusammenhang der sozialen Regeln, der die Legitimität der Institution ausmacht. Diese Funktion sei als die
Sinnstiftungsfunktion
der Institution bezeichnet.“
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4. Der spätmoderne Bedeutungsverlust institutionalisierter religiöser Praxis
Betrachtet man die institutionalisierte religiöse Praxis der Gegenwart, so lässt sich unschwer ein Bedeutungsverlust feststellen. In den Jahren von 1960 bis 2007 haben beispielsweise in der deutschen katholischen Kirche die Taufen von Kindern, bei denen mindestens ein Elternteil katholisch ist, von 86,9 auf 72,7 % abgenommen.
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Die katholische „Trauquote“ je hundert ziviler Eheschließungen von Paaren, von denen mindestens ein Partner katholisch ist, sank im gleichen Zeitraum von 75,1 auf 31 %.
191
Die Teilnahme am Gottesdienst nahm deutschlandweit von über 45 auf unter 15 % ab.
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Bei der Analyse der Entwicklung der Zahl der Gottesdiensteilnehmer/-teilnehmerinnen spricht vieles dafür,
„dass die Rückläufigkeit Ausdruck für einen tieferen Wandel im Verhaltensmuster bei den Katholiken ist: Von einer ‚habituellen‘, nämlich gewohnten und erlernten, fraglos selbstverständlichen ‚regelmäßigen‘, nicht zuletzt auch am ‚Sonntagsgebot‘ orientierten Teilnahme zu einer je gewählten – und: immer wieder neu zu wählenden – Teilnahme.“
193
Grundsätzlich lässt sich der hier angedeutete Verlust der Kirchlichkeit vor allem in drei Bereichen indizieren:
„1. Rückgang des normierenden Einflusses der Kirchen auf die Sektoren staatlichen Handelns 2. Rückgang des kirchlichen Engagements der Kirchenmitglieder 3. Bedeutungsverlust religiöser Sinndeutungssysteme für den einzelnen und die Kultur der Gesellschaft.“
194
Was sich an diesen die katholische Kirche betreffenden Zahlen zeigt, lässt sich in den letzten Jahrzehnten auch als gesamtgesellschaftlicher Trend festhalten: Bisher wichtige Organisationen verlieren an Bedeutung, die Institutionen, die bisher das Leben der Individuen sowohl entlasteten als auch prägten und einengten, treten immer weiter zurück. Dies zeigt sich etwa im säkularen Bereich in der zunehmenden Pluralisierung der die traditionelle Ehe ersetzenden partnerschaftlichen Lebensformen. Auch das sich aufsplitternde und unberechenbarer werdende Wahlverhalten könnte ein Indiz dafür sein, dass Milieus und mit ihnen verbundene institutionelle Parteipräferenzen auseinanderdriften.
5. Die spätmoderne Institution der Deinstitutionalisierung
Nimmt man das oben eingeführte Verständnis von Institution ernst, so könnte man angesichts der aktuellen Entwicklung auf breitem Feld von der
Institution der Deinstitutionalisierung
sprechen. Nichts scheint heute – lässt man sich jenseits abgeschotteter „Mentalitätsinseln“ auf die Gegenwart tatsächlich ein – sicherer zu sein, als den immer wieder neuen Aufruf zur freien Wahl, den Berger anschaulich als Zwang zur Häresie betitelt. Das griechische Wort „
Hairesis
bedeutete ursprünglich ganz einfach, eine Wahl zu treffen“
195
. Es meinte in seiner kirchlichen Verwendung eine Gruppe oder Partei innerhalb einer größeren religiösen Gemeinschaft, die sich von der religiösen Autorität der Gemeinschaft absetzt. Diese Möglichkeit, sich abzusondern, fällt mit der Deinstitutionalisierung weg. Jetzt wird aus dem Sonderfall der Häresie ein allgemeines Phänomen, dem sich keiner mehr entziehen kann.
„Auf die Religion bezogen bedeutet dies, daß der moderne Mensch nicht nur mit der Gelegenheit, sondern vielmehr mit der Notwendigkeit konfrontiert ist, hinsichtlich seiner Glaubensvorstellungen eine Wahl zu treffen. Dieses Faktum konstituiert den häretischen Imperativ in der gegenwärtigen Situation.“
196
Je weiter Institutionen an Einfluss verlieren, desto deutlicher wird einerseits die Wahlfreiheit des Individuums ansteigen, aber desto unbehauster werden sich andererseits manche Menschen fühlen. „So ist die Häresie, einstmals das Gewerbe randständiger und exzentrischer Menschentypen, eine weitaus allgemeinere Conditio geworden; Häresie ist in der Tat universell geworden.“
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Dies kann nicht nur Freiheit bedeuten, sondern auch zur Belastung werden – und so die (unreflexive) Flucht in vermeintlich sichere, geschlossene religiöse Welten begünstigen. Nicht umsonst scheint in der gegenwärtigen Situation die Bedeutung fundamentalistischer Tendenzen und Gruppierungen zugenommen zu haben.
6. Häresie als Zeichen der Zeit
Praktisch-theologisches Arbeiten in der Gegenwart muss sich der heute anzutreffenden
Institution der Deinstitutionalisierung
stellen. Es muss zwischen der Freiheit des Menschen und ihn unterstützend-entlastenden Institutionen immer wieder neu ausbalancieren. Praktische Theologie kann auch mithelfen, zwischen „guter“ und „schlechter“ Institutionalisierung zu unterscheiden, indem sie immer wieder die Frage nach der Lebensdienlichkeit einzelner Institutionen stellt.
Vor dem Hintergrund der heute anzutreffenden pluralisierenden Individualisierung kann sie auch die Frage wachhalten, ob das „Zeitalter der Institutionen“ nach den eher geschlossenen Weltbildern von Aristoteles bis Thomas Hobbes nur eine Übergangszeit war und wie dieser neuen pluralen Situation heute konstruktiv-kritisch zu begegnen ist. Nicht zuletzt muss die Praktische Theologie die Häresie als Signatur der Spätmoderne ernst nehmen und mit ihr umgehen lernen.
Exklusion
Marie-Rose Blunschi Ackermann
1. Begriffsklärung
Das Begriffspaar Inklusion / Exklusion wird mit verschiedenen Akzentsetzungen in unterschiedlichen Theoriezusammenhängen verwendet: Systemtheorie, Konfliktforschung, Wissenssoziologie etc. Es bezeichnet eine Beziehung zwischen gesellschaftlichen Institutionen und Personen bzw. Gruppen. Mittels Institutionen im weiten Sinn konstruieren Gruppen, Gemeinschaften, Gesellschaften, Kulturen ihre Identität im Spannungsverhältnis von Einbindung und Ausschluss.
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Extremformen von Exklusion sind die physische oder psychische Vernichtung, ob aktiv betrieben oder in Kauf genommen durch Nicht-Gewährung von Hilfe oder Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen. Extremformen von Inklusion sind der Zwang zur Anpassung, die totale Kontrolle, der Entzug von Freiheit und Autonomie. Das Begriffspaar hat sich als fruchtbar erwiesen, um den Umgang von Gesellschaften bzw. Kulturen mit Armut und Fremdheit zu beschreiben und über zeitliche und geographische Distanzen hinweg zu vergleichen: Wie werden Grenzen der Zugehörigkeit und der Teilhabe markiert? Welche Prozesse der Schließung bzw. Öffnung von Zugängen zu materiellen Ressourcen, sozialem Ansehen, kultureller Anerkennung oder politischer Macht lassen sich beobachten?
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In der religionswissenschaftlichen Diskussion wird das dreiteilige Schema Exklusivismus – Inklusivismus – Pluralismus zur Klassifizierung verschiedener Umgangsweisen mit fremden Wahrheitsansprüchen verwendet. Exklusivistische Positionen schließen andere Religionen als Heilswege aus. Inklusivistische Positionen setzen die eigene Sichtweise als umfassende Norm und anerkennen die Möglichkeit anderer Heilswege, insofern sich diese darin integrieren lassen. Pluralistische Ansätze gehen von der Gleichwertigkeit der verschiedenen Religionen aus. Auch dies ist allerdings letztlich ein exklusiver Ansatz, da er diejenigen ausschließt, „die eben diese Voraussetzung der gegenseitigen Unterstellung der Gleichwertigkeit nicht teilen.“
200
2. Soziale Ausschließung: ein Kennzeichen von Armut in der Spätmoderne
Soziale Ausschließung als Kennzeichen extremer Armut wurde in Europa schon in den frühen sechziger Jahren problematisiert, und zwar von einem pastoralen Praktiker, der diese Realität seit seiner Kindheit aus eigener Erfahrung kannte. Joseph Wresinski (1917–1988), Gründer der internationalen Bewegung ATD Vierte Welt (All Together in Dignity), hat aus der Weigerung, Elend und Ausgrenzung als Fatalität hinzunehmen, einen theologischen, politischen und pädagogischen Ansatz entwickelt, der mit der Überzeugung, dass jeder Mensch geistbegabt ist, radikal ernst macht.
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Als Seelsorger in einem Notunterkunftslager bei Paris suchte er eine Zusammenarbeit mit Forschern und Forscherinnen verschiedener Disziplinen, um die Situation der im Kontext einer modernen Gesellschaft als „asozial“ angesehenen Familien zu verstehen und zu verändern. Im Anschluss an eine von Wresinski angeregte Tagung 1964 bei der UNESCO prägte der Soziologe Jules Klanfer den Begriff der sozialen Ausschließung (
exclusion sociale
) als Kennzeichen von Armut in den reichen Ländern.
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Er steht für ein Phänomen, das mit der an Arbeitsverhältnisse gebundenen marxistischen Begrifflichkeit der Ausbeutung nicht adäquat erfasst werden konnte.
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Wresinski versteht Armutssituationen als Momente in einem Exklusionsprozess, welcher den Betroffenen grundlegende Sicherheiten (z. B. Arbeit, Wohnung, Einkommen, Bildung, Rechtsschutz, politische Vertretung) entzieht und sie so der Möglichkeit beraubt, ihre Rechte auszuüben und ihre Verantwortungen wahrzunehmen. Laut seiner Definition, die vom französischen Wirtschafts- und Sozialrat und später vom UNO-Menschenrechtsrat übernommen wurde, führt wirtschaftliche und soziale Unsicherheit (Prekarität) „dann zu starker Armut, wenn sie mehrere Existenzbereiche berührt, wenn sie über einen längeren Zeitraum anhält, wenn sie die Möglichkeiten beeinträchtigt, aus eigener Kraft in einer absehbaren Zeit seinen Verantwortungen wieder nachzukommen und seine Rechte zurück zu erwerben.“
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Bereits 1968 spricht Wresinski von der „Brutalität von Verachtung und Gleichgültigkeit“
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, die Elend hervorbringe. Inzwischen haben soziologische und wirtschaftshistorische Analysen aus unterschiedlichen Schulen gezeigt, dass die angesprochene Indifferenz strukturell zur