Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 3

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3. Der Kapp-Putsch, die Rote Armee und der Einmarsch der Reichswehr
Der Kapp-Putsch in Berlin und die spontanen Reaktionen in Oberhausen

Am 13. März 1920 putschte die Brigade Ehrhardt in Berlin und zwang die sozialdemokratisch geführte Regierung Bauer zur Flucht nach Stuttgart. Noch am gleichen Tag, einem Samstag kamen Stadtverordnete aller Parteien im Rathaus zusammen und verfassten unter Vorsitz von Oberbürgermeister Havenstein eine Resolution gegen den Rechts-Putsch. Sie riefen gleichzeitig zu „Ruhe und Besonnenheit“ auf.114

Diese Erklärung war der kleinste gemeinsame Nenner, der auf so breiter Basis zu erreichen war. Vorbehaltlos gegen den Rechtsputsch und für die verfassungsmäßige Regierung waren eigentlich nur die Vertreter der SPD. DDP und Zentrum verurteilten den Putsch zwar, widersetzten sich aber einem Generalstreik als Abwehr-Aktion gegen die Putschisten. Die Vertreter von USPD/​KPD waren zwar auch gegen den Putsch, lehnten aber jede Aktion zur Unterstützung der „alten“ Regierung ab. Die Vertreter der Rechtsparteien schlugen sich ganz unverblümt auf die Seite der Putschisten. Der Redakteur der „Oberhausener Zeitung“ Staymann (Fraktion der Kriegsbeschädigten) gab seine Sympathien „mit den Herren in Berlin“ offen zu, aber nur, soweit es sich „um verfassungsmäßige Vorgänge [gehandelt habe], aber nicht mit einem Putsch mit Waffen“.115

Am Tag nach dem Putsch in Berlin, am Sonntag (14. März), veröffentlichten die Bergarbeiterverbände zusammen mit der entschiedenen Ablehnung des Kapp-Putsches einen Aufruf an die Bergarbeiter, „sich vertrauensvoll hinter die Organisationen zu stellen und weitere Weisungen abzuwarten“.116 Nach einem ruhigen Sonntag begann am Montag auch in Oberhausen der Generalstreik. Dieser Streik vereinte die Arbeiterbewegung noch einmal für einen kurzen Zeitraum. Alle Gewerkschaften und die Arbeiterparteien riefen dazu auf, und der Aufruf traf in den meisten Betrieben auf einmütige Streikbereitschaft.117 Ein Druckerstreik verhinderte das Erscheinen der örtlichen Zeitungen am Montag (15. März). Die Stadtverwaltung arbeitete weiter; Post, Telefon und Eisenbahn funktionierten ungestört.118

Am Montagnachmittag und -abend versammelten sich große Menschenmassen in der Innenstadt; in einer spontanen Kundgebung auf dem Neumarkt119 wurde zur Fortsetzung der Streiks aufgerufen. Erst am Abend gelang es der Polizei, die Versammlungen aufzulösen.

Die Empörung der Massen wurde sicherlich geschürt durch Nachrichten von den blutig niedergeschlagenen Unruhen in Duisburg am gleichen Tage und durch die abwartenden oder zumindest missverständlichen Verlautbarungen des Generals von Watter und des Düsseldorfer Regierungspräsidenten – beide mit der Unterschrift von Oberbürgermeister Havenstein in der örtlichen Presse verbreitet.120 Keiner der beiden hohen Herren verurteilte den Putsch oder stellte sich eindeutig hinter die verfassungsmäßige Regierung; beide schienen stattdessen neutral abzuwarten, ob sich die „alte“ oder die „neue“ Regierung durchsetzen würde. General Watter gab den ihm unterstellten Truppen keinen klaren Befehl, der sie auf die selbstverständliche Gehorsamspflicht gegenüber der Regierung Bauer verwiesen hätte. Der Regierungspräsident gab sogar den Forderungen der Putschisten größeren Raum als der legitimen Regierung, von der nur eine angebliche Erklärung gegen den Generalstreik wiedergegeben wurde. Diese Verlautbarung war den Demonstranten auf dem Neumarkt offenbar bekannt, sie wurde als „Berliner Bluff“ kritisiert.121

Der folgende Tag – Dienstag, der 16. März 1920 – brachte blutige Unruhen auch in Oberhausen. Nachdem sich schon am Vormittag große Menschenmassen im Zentrum versammelt hatten, wurde eine Kundgebung für zwei Uhr nachmittags auf dem Neumarkt angekündigt. Veranstalter war ein „Aktionsausschuss“ aus „verschiedensten“ Gewerkschaftsmitgliedern, dem „die Streikleitung zugefallen“ war. Hauptredner bei der Versammlung war der Stadtverordnete Huschke (SPD), er forderte die Arbeiter zur Einigkeit auf: Die Beschlüsse einer Vertreterversammlung in Essen sollten abgewartet werden. Auch der USPD-Vertreter Spaniol mahnte zu „Einigkeit, Ruhe und Besonnenheit“. Aber es gab auch andere Stimmen: ein namentlich nicht genannter Redner forderte demagogisch die „Arbeiter-Diktatur“.

Wieweit die Redner, vor einem Laternenmast stehend, in der aufgeregten Menge stimmlich überhaupt durchdrangen, blieb unklar; vielleicht wurde der letzte Redner des „Aktionsausschusses“ gar nicht mehr gehört, als er die Versammlung beendete und die Teilnehmer aufforderte, in Ruhe nach Hause zu gehen.

Eine Gruppe von 500 bis 600 Personen zog danach über die Nohlstraße Richtung Marktstraße – angeblich überwiegend „Halbwüchsige“ unter lautem „Schreien und Johlen“ mit eindeutiger Plünderungsabsicht. Es sollen dabei auch anti-jüdische Parolen laut geworden sein.122 An der Ecke Marktstraße/​Nohlstraße wurde ihnen von einem starken Aufgebot an Polizei und Sicherheitswehr der Weg versperrt. In die sich ergebende sehr angespannte Situation hinein fielen Schüsse, angeblich zuerst aus der Menge, worauf die Polizei das Feuer erwiderte. „Nun endlich flüchteten die Leute, und es gelang, das innere Stadtviertel vollständig zu säubern.“ Die Polizei errichtete Straßensperren. An einem solchen Posten an der Ecke Moltke123/ Lothringerstraße kam es zu einer zweiten schweren Schießerei, der eine Frau zum Opfer fiel. Am späten Nachmittag erschienen Reichswehrtruppen aus Mülheim, die dann während der ganzen Nacht in den Straßen patrouillierten. Das waren wohl dieselben Soldaten des ▶ Freikorps Schultz, die sich sofort nach dem Putsch für Kapp erklärt und an ihrer Mülheimer Kaserne schwarz-weiß-rote Fahnen hochgezogen hatten!124


Abb. 10: Das Freikorps Schultz in Mülheim unterstützt den Kapp-Putsch, GA vom 16. März 1920

Trauriges Ergebnis dieses Tages waren vier Tote und zwölf Verletzte; auf Seiten der Polizei und Sicherheitswehr gab es offenbar keine Opfer. Für die Zeitung stand außer Frage, dass die Polizei richtig gehandelt hatte. Eine Mitverantwortung für die Ereignisse wurde den „Einberufern der Neumarktversammlung“ aufgebürdet: „Haben sie wirklich nicht damit rechnen können, dass sich unter die anständigen und ruhigen Arbeiter der Mob mischt, dem es nur darauf ankommt, im Trüben zu fischen?“125 Diese rhetorische Frage mag die Stimmung bürgerlicher Kreise in Oberhausen wiedergegeben haben, aber ob die „ruhigen und anständigen Arbeiter“, die sich ja in großen Mengen für den Streik gegen Kapp entschieden hatten, das auch so sahen?

Der Militärbefehlshaber für Oberhausen gab in der Presse sofort die verschärften Bedingungen des Ausnahmezustands bekannt: Versammlungsverbot unter freiem Himmel, generelles Versammlungsverbot für alle Parteien links von der MSPD, Anmeldepflicht für Gewerkschaftsversammlungen, Verbot von Streikaufrufen für sogenannte „lebenswichtige Betriebe“, Verbot, Streikposten aufzustellen, Schließung aller „Vergnügungsstätten“, Ausgehverbot ab zehn Uhr abends. Die gleiche Ausgabe der Zeitung enthält eine Anzeige des Militärbefehlshabers für Oberhausen, in der er sich klar für die „alte“ Regierung ausspricht und Nachrichten dementiert, dass die Reichswehrtruppen im Industriegebiet sich den Putschisten angeschlossen hätten.126 Diese Mitteilung dürfte ihm nicht schwergefallen sein, denn an diesem Tag brach der Putsch in Berlin bereits zusammen.

Reichswehrtruppen und Freikorps wurden im östlichen Revier in diesen Tagen in verlustreiche Kämpfe mit bewaffneten Arbeitern verwickelt. Deshalb musste General Kabisch am 19. März den Rückzug aller Reichswehrverbände aus dem westlichen Ruhrgebiet anordnen. Bei diesem Rückzug über Hamborn und Dinslaken nach Wesel wurden die Truppen – u. a. das berüchtigte in Mülheim stationierte Freikorps Schultz – in verlustreiche Kämpfe verwickelt, vor allem in Hamborn. Am Sonntag (21. März) hatten alle Reichswehrverbände das Industriegebiet verlassen. Die bewaffneten Arbeiter rückten auf die befestigte Stadt Wesel vor; für einige Tage bildete sich eine regelrechte Front entlang der Lippe. Oberhausen blieb in dieser ersten Phase des Ruhrkrieges von Kämpfen verschont.

Die Machtübernahme durch die „Rote Armee“ in Oberhausen

Die bewaffneten Arbeiter bezeichneten ihre Verbände mittlerweile als „Rote Armee“. Diese Armee besetzte in der Nacht zum Samstag (20. März) Oberhausen. Gleichzeitig bildeten Oberhausener Kommunisten bzw. Unabhängige Sozialdemokraten aus ihren Reihen einen „Vollzugsrat der revolutionären Arbeiter“. Der führende Kopf dieses „Vollzugsrates“ war vermutlich Johann Spaniol.127 Dieser Rat arbeitete zumindest in den ersten Tagen des Ruhrkrieges Hand in Hand mit dem „Befehlshaber der roten Armee“, dem Schlosser Weidkamp aus Mülheim, der sein Büro in der Polizeidienststelle in der Göbenstraße eröffnete. Die eigentliche Macht lag in diesen Tagen Ende März 1920 wohl immer, gestützt auf die Gewehre der „Roten Armee“, bei Weidkamp und seinen direkten Befehlsempfängern.128

 

Der Vollzugsrat und der rote Militärbefehlshaber versuchten in den folgenden zwei Wochen bis zum Karsamstag, ihre Autorität gegenüber der Stadtverwaltung durchzusetzen. Anders als die „Räte“ 1918/​19 griffen sie massiv ins öffentliche Leben der Stadt ein. In seinem Bericht an den Regierungspräsidenten Düsseldorf verurteilte der Oberbürgermeister ihr Wirken mit sehr starken Worten: Es habe sich, angeblich auch nach Meinung der „Leiter des Vollzugsrates“, um „eine militärische Diktatur“ gehandelt, „die schlimmer war, wie je eine andere Diktatur“.129 Ohne Belege behauptet Havenstein, „dass in den Reihen der militärischen Machthaber Personen typisch russisch-jüdischen Charakters beobachtet worden“ seien.130 Verbale Entgleisungen dieser Art sagen viel aus über die Einstellung des Verfassers, tragen aber in der Sache nicht gerade zur Glaubwürdigkeit des Dokuments bei.

Der „Generalanzeiger“ schilderte die „Machtübernahme“ weit weniger dramatisch. An allen öffentlichen Gebäuden seien Posten mit roten Armbinden aufgestellt worden. Die Freiwilligen, die in Oberhausen der „Roten Armee“ beitraten, mussten sich verpflichten, „sich nicht an Plünderungen zu beteiligen und etwa aufkommenden Plünderungen entgegenzutreten.“ Die Stadtverwaltung habe ungestört weiter gearbeitet. Von der Einsetzung einer Kontrolle der Verwaltungstätigkeit durch Arbeitervertreter sei nichts zu bemerken gewesen. Auf den Zechen sei die Arbeit nur kurz unterbrochen worden. Ein überall angeschlagenes Plakat des „Vollzugsrats“ habe zur Wiederaufnahme der Arbeit aufgefordert. Während sich somit der Umschwung in Oberhausen recht friedlich am Samstag vollzog, war in der Ferne der Kanonendonner von den Gefechten in Hamborn zu hören.131

Ganz oben an der Verwaltungsspitze allerdings versuchten die Revolutionäre, ihre Autorität demonstrativ durchzusetzen. Oberbürgermeister Havenstein wurde „beurlaubt“. Wie dieser Eingriff in die Stadtverwaltung ablief, kennzeichnet allerdings die Vorsicht und Zurückhaltung der Oberhausener Revolutionäre. Bereits am 20. März, dem Tag ihres „Amtsantritts“ forderten Mitglieder des „Rates“ (u. a. der oben schon erwähnte Johann Spaniol) den Beigeordneten Dr. Lerch auf, die Geschäfte des Oberbürgermeisters zu übernehmen; der lehnte ab, wie wenig später auch alle anderen Beigeordneten. Nach dieser Solidarisierung aller Beigeordneten mit dem Oberbürgermeister versprach Feldermann, „auf seine Gesinnungsgenossen einzuwirken, dass sie von der Forderung auf Absetzung des Oberbürgermeisters absehen möchten“. Vier Tage später erschienen andere Vollzugsratsmitglieder (darunter aber wieder Spaniol) erneut im Rathaus, um Havenstein die Forderung der „U.S.P.-Arbeiterschaft und des Militärbefehlshabers der roten Armee“ zu überbringen, „vorläufig von seinen Dienstgeschäften zurückzutreten“. Der Oberbürgermeister erklärte pathetisch, er werde „nur der Gewalt weichen“, ließ sich dann aber doch überreden, „in Urlaub“ zu gehen. „Die Verwaltung führte also die Geschäfte ordnungsgemäß weiter. Die Beigeordneten nahmen die Verwaltung in die Hand. Die Beamten taten treu ihren Dienst.“132 So, wie hier geschildert, handeln keine „Bolschewisten“! Der Oberbürgermeister sah die Vorgänge im März gleichwohl als Ergebnis einer von langer Hand vorbereiteten kommunistischen Verschwörung, wobei er nur sehr dünne „Belege“ anführen konnte:

„Es liegt eine Äußerung eines kommunistischen Führers und Stadtverordneten vor, wonach eine kommunistisch-bolschewistische Erhebung für eine 6 – 8 Wochen später liegende Zeit geplant war. Durch den Kapp-Putsch kam diese Bewegung verfrüht zum Ausbruch. Zwei Tage vor der bolschewistischen Bewegung war der Führer der Kommunisten, Spaniol, wegen des Verteilens kommunistischer Flugblätter vom Amtsgericht mit 400 M Geldstrafe verurteilt worden. Auch hatten schon vorher geheime Versammlungen stattgefunden, die im Februar zur Verhaftung und Bestrafung von 10 – 12 Personen geführt hatten. Ebenso muss das Vorhandensein von Waffen für den Zeitpunkt des Losschlagens angenommen werden. Mit Sicherheit kann angenommen werden, dass ein ziemlicher Teil der sehr nach links gerichteten Arbeiterschaft zu den Waffen geeilt ist. Die Zahl der Kämpfer und Waffen kann nicht angegeben werden.“133

Diese Textstelle ist vor allem deshalb zitierenswert, weil sie die irrationalen Ängste bürgerlicher Kreise treffend illustriert und weil sich die „Seriosität“ amtlicher Berichte über die Ereignisse im März 1920 darin selbst entlarvt. Die historische Forschung ist sich heute einig, dass eine groß angelegte kommunistische Verschwörung zu dieser Zeit nicht existierte – trotz wichtigtuerischer Revolutionsschwärmereien einzelner Personen.

Maßnahmen des „Vollzugsrates“ bzw. der Kommandeure der „Roten Armee“

Während der zwei Wochen der „Rats“-Herrschaft waren eine Plenums- und mehrere Ausschusssitzungen der Stadtverordneten vorgesehen. Sie wurden alle abgesagt – nicht weil der Vollzugsrat sie verboten hätte, sondern weil die Parteien es ablehnten zu tagen. „Die Mehrheitssozialisten erklärten, dass ihre Partei geschlossen an den Stadtverordnetensitzungen nicht teilnehmen werde, solange der ungesetzmäßige Zustand bestehe: es sei der Partei nicht möglich, unter dem Zwange der gegenwärtigen Macht Beschlüsse zu fassen und frei ihre Meinung zu äußern.“ Dieser Haltung schlossen sich an den folgenden Tagen Zentrum, Polenpartei, DDP und DVP an.134

Sofort spürbar wurde eine harte Pressezensur: „Zwei Korrekturfahnen sind den Zensoren des Vollzugsrates vor dem Druck vorzulegen.“ Der Verkauf von auswärtigen Zeitungen musste genehmigt werden. Dabei war wohl in erster Linie an die in Duisburg erscheinende sozialdemokratische „Volksstimme“ gedacht. „Die Bekanntmachungen des Vollzugsrates sind am Kopfe der Zeitungen zu veröffentlichen.“135 Die Zensur verbannte sofort jegliche kritischen Töne gegen den Rat aus den Spalten. Die Parteien oder der Oberbürgermeister schienen nicht mehr zu existieren. Allerdings gab es noch einige Tage eine recht genaue Berichterstattung über die überregionalen Entwicklungen. Ab Samstag, den 27. März 1920, erschienen die Oberhausener Zeitungen auf Anordnung des Vollzugsrates völlig ohne politische Berichterstattung. Nur noch die knappen Bekanntmachungen des Rates wurden auf der Titelseite der dünn gewordenen Blätter gedruckt.

„Schiebern und Wucherern“ wurde die sofortige Vermögensbeschlagnahme und Verhaftung angedroht. Wohl um die „Schieber“ ausfindig zu machen, hatten alle Einwohner „bis zum 22. März nachmittags 4 Uhr […] [ihre] Arbeitstätigkeit auf den Polizeibüros nachzuweisen. Wer dieses unterlässt, wird sofort in Haft genommen.“136 Diese alberne Vorschrift war natürlich kaum in vernünftiger Weise durchführbar. Der Andrang auf den Polizeibüros war nicht zu bewältigen. „Sie waren geradezu belagert.“137 Als dann Betriebe Namenslisten ihrer Beschäftigten einreichen wollten, wurde die Verwirrung vollständig, denn diese wohnten ja in unterschiedlichen Polizeirevieren! Der Meldetermin musste auf den 26. März verschoben werden. Danach ist nichts mehr vom Kampf gegen das Schiebertum zu lesen.

Unter den „Wucherern“ nahm sich der Rat zunächst die Bekleidungsbranche vor: Nur ein Gewinn von höchstens 25 Prozent war erlaubt. Zur Kontrolle waren dem Vollzugsrat sofort Geschäftsbücher und Inventarverzeichnisse vorzulegen. „Bei Zuwiderhandlungen werden die betreffenden Geschäfte geschlossen und die vorhandenen Waren beschlagnahmt.“138 Wie hätte diese Aktion wohl funktionieren sollen? Hatte der Rat das Personal für eine sachverständige Prüfung der eingesammelten Bücher? Offenbar blieb es bei der bedrohlich klingenden Anordnung.

Auch die Anordnung, dass Lebensmittelkarten nur noch gegen Vorlage einer Arbeitsbescheinigung oder eines Gewerbescheins ausgegeben würden, stand wohl nur auf dem Papier. Die Zeitung berichtete, dass das Personal in den Ausgabestellen „nicht genügend informiert“ war und deshalb die Karten wie bisher ausgab.139

Die Mitglieder des revolutionären Rates konnten sich eigentlich nicht ernsthaft der Illusion hingeben, innerhalb ganz weniger Tage ein funktionierendes Kontrollsystem für große Teile des Oberhausener Geschäftslebens einrichten zu können. Vielleicht war es ihr Hauptmotiv, durch verbale Kraftmeierei und Kontrollrituale gegen die verhassten „Schieber“ und „Wucherer“ Beifall in breiteren Kreisen der Bevölkerung zu bekommen.

In erster Linie auf die Wirkung beim Publikum zielte wohl auch die Schließung der Bordelle in der Eintrachtstraße – und die Umbenennung dieser Straße (sie heißt heute noch „Flaßhoffstraße“). „Zuwiderhandlungen“ stellte der Befehlshaber der roten Armee unter strenge Strafe.140 Die Rotgardisten scheinen aber auch nicht tugendhafter gewesen zu sein als andere Soldaten. Bis zum Einmarsch der Reichswehr soll in der Eintrachtstraße ein „reges Treiben“ durch Rotgardisten geherrscht haben.141

Die Oberhausener Prostituierten beschäftigten die Phantasie der Zeitgenossen erheblich – weit über die Stadtgrenzen hinaus. In der Propaganda der Reichswehr erschien mehrfach die Behauptung, nach Schließung ihres Gewerbes in der Eintrachtstraße seien die Damen als Krankenschwestern der „Roten Armee“ in Dienst gestellt worden. Die Anzüglichkeit dieser Feststellung ist nicht zu übersehen! Sichere Belege dafür gibt es nicht.

Die Anspielung der Reichswehrpropagandisten geht wohl auch auf die Tatsache zurück, dass in der Tat bei der „Roten Armee“ eine große Zahl junger Frauen zu beobachten war. Bei der Versorgung der Verwundeten und der Verpflegung arbeiteten sehr viele Frauen mit, was dazu geführt haben mag, dass sich bei den Truppen der „Roten Armee“ mehr weibliches Personal befand, als dies die Reichswehrsoldaten gewohnt waren.142 Allerdings führte dies anscheinend auch aus der Sicht der kämpfenden Arbeiter zu Belastungen. Es gibt viele Belege dafür, dass die Anwesenheit zahlreicher junger Frauen in den Kampfstellungen vor Wesel von den Kommandeuren der „Roten Armee“ als großes Problem betrachtet wurde.143

Die Stadtverwaltung konnte zunächst völlig unbehelligt weiterarbeiten, der Vollzugsrat schien sich nicht als oberstes kommunales Aufsichtsorgan zu betrachten. Auch gab es zunächst keine Eingriffe in die Zechen und industriellen Großbetriebe. Hier vertraute der Vollzugsrat wohl auf die Arbeiter in den Betrieben selbst. In der Tat wurde auf Schacht 4/​5 der Zeche Concordia der alte Betriebsrat abgesetzt und ein neuer „revolutionärer“ Betriebsrat eingesetzt.144 Weitere Fälle dieser Art wurden aber nicht bekannt.145 Das öffentliche Leben schien sich in dieser Woche rasch zu normalisieren, die Streiks hörten auf, die meisten Geschäfte waren wieder geöffnet. Die Oberhausener Bevölkerung konnte für kurze Zeit hoffen, dass der Bürgerkrieg ohne weitere Kämpfe vorbeigehen würde.