Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 3

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Kriegshilfen

Manchen Familienvater an der Front quälte die Not von Frau und Kindern in der Heimat mehr als die ständige Lebensgefahr in den Schützengräben. Die Werksleitungen der GHH erreichte eine große Zahl von Bittbriefen. Nur ein Beispiel sei ausgewählt: Ende 1915 erkundigte sich ein Unteroffizier, vor dem Krieg Maschinist im Werk Neu-Oberhausen, voller Sorge nach dem Schicksal seiner vier Kinder, das älteste davon neun Jahre. Die Versorgung der Zivilbevölkerung war anscheinend schon zu Beginn des zweiten Kriegswinters so schlecht, dass die Frau ihrem Mann einen verzweifelten Brief geschrieben hatte. Die Werksleitung stellte nach eingehender Prüfung des Falles fest, dass Neu-Oberhausen der Frau eine Krieger-Unterstützung von monatlich 23 Mark zahle, ferner einen Mietzuschuss von acht Mark. Zweimal habe sie eine zusätzliche Unterstützung von 20 Mark erhalten. „Auch haben wir Weihnachten eines ihrer Kinder beschert.“ Die Frau habe sich mehreren Unterleibsoperationen unterziehen müssen. Die Kosten für die erste Operation in Höhe von 26 Mark habe ihr der Arzt bis nach dem Krieg gestundet, die Rechnungen für die weiteren Operationen habe die Armenverwaltung übernommen. Für die Kleidung ihrer Kinder habe sie 43 Mark Schulden gemacht, diese werde das Werk begleichen.

„Die Frau macht einen ordentlichen Eindruck, sie scheint aber etwas hysterisch veranlagt zu sein, denn es liegt kein Grund vor, dass die Frau verzweifelt, da ihre Verhältnisse geordnete sind. […] Gleichzeitig haben wir sie gebeten, ihrem Mann solche Klagebriefe nicht mehr zu schreiben und ihn nicht ganz unnötigerweise aufzuregen.“21

Eine Abschrift dieses Schreibens erhielt der Vorgesetzte des besorgten Unteroffiziers an der Front. Für die Familie würde ausreichend gesorgt, „wie es überhaupt Gepflogenheit der Gutehoffnungshütte ist, überall dort helfend einzuspringen, wo eine besondere Notlage Hülfe notwendig macht.“ Für den Unteroffizier liege also kein Anlass vor, „über das Schicksal seiner Familie beunruhigt zu sein“.22

Sofort mit Kriegsbeginn hatte die GHH der Belegschaft bekannt gegeben, dass die zum Kriegsdienst Eingezogenen sich keine Sorgen über ihre Familien machen sollten. Witwen- und Waisengeld würde für die Hinterbliebenen der Gefallenen genauso bezahlt wie bei Arbeitsunfällen. Die Familien dürften in den Werkswohnungen bleiben, und zwar mietfrei. Die Familien der einberufenen Arbeiter erhielten auch ab 1. September 1914 eine monatliche Unterstützung – Höchstgrenze 46 Mark monatlich bei zehn Kindern. Die Familien der einberufenen „Beamten“, in heutiger Ausdrucksweise also der Angestellten, erhielten drei Monate lang das volle Gehalt, dann zwischen 40 und 80 Prozent je nach Kinderzahl.


Abb. 3: Speisezettel der Kriegsgefangenen 1917


Geschäftsjahr Mietbeihilfe Kriegsunterstützung
1914/​15 183.402 710.892
1915/​16 334.782 1.078.144
1916/​17 305.213 928.133
1917/​18 179.581 541.145

Tabelle 3: Gesamtaufwendungen für die Kriegsunterstützung der Familien von einberufenen Arbeitern bei der GHH 1914 bis 191823

Warum in den letzten beiden Kriegsjahren, als die Not am größten war, die Zahlungen zurück gingen, bleibt eine offene Frage. Zum Vergleich die Handlungsspielräume des Spitzenmanagements: Im November 1916 kaufte Paul Reusch, der Vorstandsvorsitzende der GHH, das Schloss Katharinenhof bei Backnang in Nord-Württemberg mit dem großen umgebenden Park für 215.000 Mark.24

Hunger

Schon im Januar 1915, als alle Illusionen eines kurzen siegreichen Feldzuges zerplatzt waren, hungerten die Menschen in Oberhausen. Die Stadtverordneten mussten eine ganze Sitzung nur dem Mangel an Nahrungsmitteln widmen. Die staatlichen Behörden hatten inzwischen bemerkt, dass Deutschland vor 1914 einen erheblichen Teil seiner Nahrungsmittel hatte einführen müssen. Jetzt stellte der amtierende Oberhausener Verwaltungschef Dr. Koernicke fest, „dass sich der Krieg durch die Blockade Englands anders entwickelt habe als früher. Das Aushungern werde und solle nicht geschehen.“ Die Vorräte reichten angeblich bis zur nächsten Ernte. Dafür müssten die Frauen aber „haushälterisch“ mit den Vorräten umgehen, „um nicht des Hungers wegen Frieden schließen zu müssen“.

„Die Mütter hätten auf ihre Kinder einzuwirken, nicht das Brot zu vergeuden. Jeder könne sparsam sein, ohne dass man Not leide. Man sei durch die langen Friedensjahre verwöhnt und könne viel einfacher leben. Man fände in den Schulklassen zuviel weggeworfenes Brot. Das Frühstück würde in der Pause nicht mehr aufgegessen, manchmal erst auf dem Nachhausewege.“

Der erstaunte Leser fragt sich, woher Dr. Koernicke so genau wusste, wann die Schulkinder ihr Frühstücksbrot aßen und wie oft sie es wegwarfen. Auch „mit dem übergroßen Angebot an Schweinefleisch sei haushälterisch zu verfahren“. Es müsse in „Schnellräuchereien“ zu „Dauerware“ verarbeitet werden – warum dann bei dem angeblich „übergroßen Angebot“ vor allem der Mangel an Fleisch und Fett bei den Schwerarbeiterin frühzeitig zu Unruhen führte, bleibt ein Rätsel. Der Stadtverordnete Funke-Kaiser, Besitzer einer Brotfabrik, ärgerte sich über die Stimmungsmache der Journalisten: „Das Publikum sei durch die Zeitungsschreiber ängstlich geworden. Diese Angst hätte die Hausfrauen zum Mehlaufspeichern gebracht.“ Weil die Hausfrauen Mehl horteten – so der Brotfabrikbesitzer –, stieg die Nachfrage und damit unweigerlich auch der Preis. Den Bäckern sei es verboten, Weißbrot zu backen; dann dürften aber auch „die Hausfrauen ihre Stuten nicht mehr im eigenen Herd backen“. Schwarzbrot sei viel gesünder.25

1916 war das Jahr nach dem ersten Hungerwinter, gefolgt von einer Ernährungskatastrophe im Frühjahr und Sommer. „Im Grunde war der Krieg im Frühjahr 1916 ernährungswirtschaftlich verloren.“26 Die landwirtschaftliche Produktion ging im Krieg, gemessen am Jahr 1913, um ein Drittel zurück. Die staatliche Bürokratie erwies sich bei der Verteilung der äußerst knappen Nahrungsmittel vielfach als überfordert. Gegen Kriegsende standen einem Schwerarbeiter nur 57 bis 70 Prozent des tatsächlichen Kalorienbedarfs zur Verfügung, dem durchschnittlichen Arbeiter lediglich noch 47 bis 54 Prozent.27 Bei der GHH betrug die Brotration für unter Tage Arbeitende 250 Gramm, also 1.750 Gramm pro Woche. Für Schwerarbeiter gab es pro Woche 1.000 Gramm zusätzlich, also insgesamt 2.750 Gramm Brot. Für je vier Überstunden erhielten die Bergarbeiter 250 Gramm hinzu.28 Diese kärglichen Brotrationen schienen jedoch weniger Anlass zu Klagen zu geben als der Mangel an Fett und Kartoffeln und generell die steigenden Preise. Hinzu kam die Kritik von den Gewerkschaften, dass nach der Einführung einer Kinderzulage prompt die Löhne gesenkt worden seien und dass in den Betrieben Lebensmittel bevorzugt an die Mitglieder der „gelben“, also wirtschaftsfriedlichen Gewerkschaften verkauft würden. Als diese Klagen über die Bevorzugung der Mitglieder der gelben Gewerkschaften nicht verstummen wollten, dementierte Reusch energisch.29

Die Not der städtischen Bevölkerung, vor allem der Arbeiter und ihrer Familien, nahm 1916 solche Ausmaße an, dass im Mai in Berlin das „Kriegsernährungsamt“ (KEA) geschaffen und mit besonderen Vollmachten ausgestattet wurde. Im Vorstand dieser neuen Institution waren alle maßgeblichen Interessenverbände des Reiches vertreten. Für die Arbeitgeber der Schwerindustrie wurde der Vorstandsvorsitzende der GHH Paul Reusch vom Reichskanzler in den Vorstand berufen.

Sofort nach seiner Berufung empfahl Reusch allen Industriebetrieben eine kurz zuvor bei der GHH durchgeführte Aktion als nachahmenswert: In der letzten Maiwoche wurden 120 Ferkel an Arbeiter verteilt; wenn diese vor dem 1. Oktober geschlachtet wurden, waren 30 Mark zu bezahlen; wenn die Schweine an diesem Stichtag noch lebten, brauchten die Arbeiter sie nicht zu bezahlen. Die Ferkel-Aktion sollte in den folgenden Wochen noch erheblich ausgeweitet werden.30 Die erzieherische Absicht war unverkennbar: Den Arbeitern sollte klar gemacht werden, dass die Ernährungsprobleme zu bewältigen waren, wenn nur jeder sorgsam und vorausschauend mit den vorhandenen Ressourcen umging. Die Herren im Kriegsernährungsamt, also auch Reusch, wussten, dass die Frauen oft mehrere Stunden in der Schlange stehen mussten und am Ende doch keine Nahrungsmittel bekamen. Die täglichen „Polonaisen“ – so Reuschs Bezeichnung für die Lebensmittelschlangen vor den Geschäften – waren die Hauptursache der wachsenden Unzufriedenheit und störten überdies den Straßenverkehr. Die Ausgabe der Kartoffeln wollte Reusch deshalb auf die Schulhöfe verlegen.31 Der Oberbürgermeister reagierte mit dem trockenen Hinweis, dass die Kartoffelverteilung bisher immer gut funktioniert habe.32

 

Rüstungsproduktion

Bis zum Ende des Jahres 1914 stellte die GHH den Stahl- und Walzwerkbetrieb auf den unmittelbaren Kriegsbedarf um. Im Dezember 1914 begannen die Oberhausener Walzwerke der GHH mit dem Walzen von Granatstahl. Sieben Tage in der Woche wurde rund um die Uhr für die Rüstung produziert.


Tabelle 4: Erzeugung und Versand von Geschossstahl der Walzwerke Oberhausen und Neu-Oberhausen 33

* Darin enthalten nicht selbst erzeugter, nur geschnittener Stahl.

Die wichtigste Waffenschmiede der GHH war jedoch das Werk Sterkrade. Dort wurde die Produktion im ersten Kriegsjahr ganz auf Geschosse, Minenwerfer und Geschütze umgestellt. In kürzester Zeit wurde der Raum in den Maschinenbau-Hallen verdoppelt. Bis zum Ende des Krieges verließen insgesamt 25 Millionen Granaten, Schrapnells und Wurfminen die Fabrik in Sterkrade.

Der Brückenbau in Sterkrade, der vor 1914 große Bauwerke in der ganzen Welt errichtet hatte, musste seine Arbeiten in London, Argentinien, Kamerun und Ostafrika abbrechen und fand Ersatzaufträge in der Herstellung von Pioniergerät (Gelenkbrücken, Luftschiffhallen u. ä.). Besonders wichtig waren auch die Aufträge für die Wiederherstellung der zerstörten Brücken in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten in Belgien, Frankreich und „Russisch-Polen“. „Die Bauschwierigkeiten in Feindesland [waren] außerordentlich. Trotzdem wurde z. B. die Maasbrücke bei Anhée in achtzehn Tagen wiederhergestellt, in dreißig Tagen die Maasbrücke bei Anseremme.“34 Eine besondere Herausforderung für die Sterkrader Ingenieure war auch die Wiederherstellung der Memelbrücke bei Kowno. Am 14. April 1916 kam Hindenburg höchstpersönlich, um die Memelbrücke einzuweihen. „Die letzte versilberte Schraube wurde von ihm eigenhändig angezogen.“35


Abb. 4: Diagramm „Gesamtzahl der gepressten Geschosse“

Krankheiten

Hunger und Not wurden ab dem Winter 1916/​17 so groß, „dass in den Kranken- und Unfallziffern die Abnahme der körperlichen Kraft und Widerstandsfähigkeit des Volkes zum erschreckenden Ausdruck kam.“36 Dies hatte bei der Grippeepidemie 1918 verheerende Folgen: Die Zahl der Krankheitstage pro Mitglied der Betriebskrankenkasse verdoppelte sich gegenüber 1913.37 Diese dramatische Entwicklung dürfte bei den anderen Industriebetrieben in Oberhausen ganz ähnlich gewesen sein. Und von der Statistik nicht erfasst sind mehrere Tausend Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, deren Gesundheitszustand bestimmt nicht besser war.


Abb. 5: Die zerstörte und von GHH wieder aufgebaute Brücke bei Anhée

Der Hunger wurde von der Konzernleitung teilweise auch für die Disziplinierung der Arbeiterschaft instrumentalisiert. Paul Reusch ließ ganz gezielt Speckzuteilungen zur Beruhigung und Streikvermeidung in seinen Betrieben einsetzen. Solange ihm seine Untergebenen die Lage im Revier als ruhig beschrieben, ordnete er an, den Speck zurückzuhalten. Für seine Korrespondenz benutzte er ganz stilvoll den Kopfbogen des „Russischen Hofes“ in Berlin – eines Hauses, das sich auch in diesen Steckrübenwintern seiner „anerkannt vorzüglichen Küche“ rühmte. Dann aber drängte Direktor Woltmann, Reuschs Stellvertreter im GHH-Vorstand, u. a. zuständig für die betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen: „Die Sonderzuteilung von Speck ist den Bergarbeitern in der vorigen Woche aufgrund unserer Besprechung zugesagt. Diese Zuteilung bildete eins der Mittel, um die Arbeiterschaft in dieser Woche ruhig zu halten. Wir müssen daher den Speck unbedingt in dieser Woche verteilen.“ Erst danach gab Paul Reusch aus Stuttgart telegraphisch grünes Licht: „Speckverteilung kann vorgenommen werden. Preisfrage ist offen zu lassen.“ In einem unmittelbar folgenden Brief machte er klar, dass der Speck „zum Höchstpreise abzugeben“ sei.38


Abb. 6: Hindenburg an der Memelbrücke bei Kowno „Die letzte versilberte Schraube wurde von ihm eigenhändig angezogen.“

Die Methode der Zurückhaltung bzw. Zuteilung von Speck wurde im April 1917 bei Unruhen auf den Zechen Osterfeld und Jacobi eingesetzt. Auf den Jacobi-Schächten fuhren am 16. April 1917 von 486 Mann 251 Bottroper nicht an. Grund war die Tatsache, dass in Bottrop, wo am 15. April eine Verringerung der Brotzuteilung in Kraft getreten war, den Bergleuten die ursprünglich zugesagten Zusatz-Lebensmittel verweigert wurden. Am 17. April schlossen sich die Osterfelder Kumpel auf Jacobi dem Streik an. Einen Tag später fuhr die ganze Be-legschaft wieder an. An diesem 18. April trat aber ein Teil der Bergleute auf der benachbarten Zeche Osterfeld in Streik. Auch hier stand die Forderung nach ausreichender Verpflegung ganz oben. In Verhandlungen mit dem ▶ Arbeiterausschuss erreichte die Zechenleitung, dass die Arbeiter den Streik am 19. April beendeten. Jetzt war der Funke auf die Zeche Sterkrade übergesprungen. Eine Belegschaftsversammlung forderte dort am 20. April 1917 eine 30-prozentige Lohnerhöhung und mehr Lebensmittel. Auf Hugo in Sterkrade wurden an diesem Tag die gleichen Forderungen gestellt.39

Im Juni und im September 1917 streikten die Arbeiter des Walzwerks Neu-Oberhausen, um „eine 100%ige Zulage für Sonntagsarbeit zu erhalten“. Die Arbeitskämpfe zogen sich lange hin. Die GHH-Direktoren, zweifellos in vollem Einvernehmen mit Paul Reusch, fuhren jetzt eine ganz harte Linie: Wer streikt, kommt an die Front. Woltmann berichtete im November 1917 vom Besuch eines Offiziers, der ihm die Überlegungen des Generalkommandos bezüglich der Einberufung streikender Arbeiter mitteilte. Die Militärs zögerten anscheinend, bevor sie eine so harte Maßnahme durchführten. Woltmann vertrat demgegenüber den „Standpunkt, […] dass eingezogen werden muss“.40

Die Stadtverordnetenversammlung 1918

Der Oberhausener Oberbürgermeister Havenstein war im August 1918 nach Ablauf seiner ersten Amtsperiode von der Stadtverordnetenversammlung einstimmig wiedergewählt worden. Wie setzte sich diese bis zum März 1919 weiter amtierende Versammlung zusammen? In Oberhausen, einer Stadt mit 1911 über 90.000, 1915 rund 103.000 Einwohnern, gab es bei der letzten Vorkriegswahl 1912 folgende Einteilung der Wahlberechtigten. Der I. Klasse gehörten 289 Personen an (das waren 2,7 Prozent der Wahlberechtigten), der II. Klasse 2.285 Personen (21,7 Prozent) und der III. Klasse 7.969 Personen (75,6 Prozent).41

Jede Klasse erhielt ein Drittel der Mandate, wobei die Großfirmen nach internen Absprachen noch in der dritten Klasse regelrechte Quoten für sich beanspruchten.42 Die Werksleitungen nahmen massiv Einfluss auf das Wahlverhalten ihrer Arbeiter.

„Zum Teil wurde unmittelbar in den Betrieben gewählt; aus den Instruktionen an die Meister und Aufseher lässt sich entnehmen, dass man in der Regel den Arbeitern schon vor der Wahl die ‚richtige‘ Wahlkarte gab; wollte der Arbeiter einen anderen Kandidaten als den der ‚Hüttenpartei‘ wählen, so hatte er offen eine andere Wahlkarte zu fordern, was von einem GHH-Beamten, der direkt neben der Wahlurne platziert war, sofort festgehalten wurde.“43

Ergebnis solcher Praktiken war, dass der Oberhausener Stadtverordnetenversammlung bis 1919 keine Sozialdemokraten angehörten und insgesamt nur vier, den christlichen Gewerkschaften zuzurechnende Arbeiter – bei einer Gesamtzahl von 42 Stadtverordneten. Selbst in der dritten Klasse konnten die Großfirmen bis zum Ersten Weltkrieg Direktoren für die Stadtverordneten-Mandate durchsetzen.44 Der Verwaltungsbericht der Stadt Oberhausen listet für die III. Abteilung die folgenden Herren Stadtverordneten auf: den Fabrikbesitzer Karl Fecht, den Hüttendirektor und Kommerzienrat Dr.-Ing. Paul Reusch, den Prokuristen Karl Romeiser, den Hüttendirektor Heinrich Zillessen, den Oberingenieur Friedrich Declerck, den Hüttendirektor und Bergrat a. D. Heinrich Mehner, den Betriebsinspektor Reinhold Wagner, den Hüttendirektor Dr. phil. Arnold Woltmann, den Berginvaliden Friedrich Brandt sowie den Hüttendirektor Dr. phil. Paul Lueg.45 Wohlgemerkt: Der dritten Abteilung waren drei Viertel der wahlberechtigten Männer zugeordnet.

Bilanz

Dies war menschlich die Bilanz der GHH nach vier Jahren Krieg: Von 12.000 Belegschaftsmitgliedern, die zum Kriegsdienst eingezogen worden waren, sind 1.430 gefallen. Eine amtliche Statistik über die Gesamtzahl der Oberhausener Gefallenen und Verwundeten liegt leider nicht vor. Auch die Zahl der Kinder und Frauen, die in den Jahren 1914 bis 1918 an Mangelkrankheiten gestorben sind oder die der Grippeepidemie von 1918 zum Opfer fielen, ist nicht bekannt.

Peter Langer

Oberhausen in der Zeit der Weimarer Republik

1. Revolution 1918
Kriegselend

Als im Herbst 1918 die kaiserlichen Generäle – wohl wissend, dass Deutschland den Krieg militärisch längst verloren hatte – dazu übergingen, sich aus der Verantwortung zu stehlen, um später demokratischen Politikern die Schuld an der Niederlage zuschieben zu können, da wurde in Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld immer noch patriotische Kriegspropaganda verbreitet. Alles was Rang und Namen hatte in Oberhausen, u. a. Oberbürgermeister Havenstein und GHH-Chef Paul Reusch, unterschrieb einen Aufruf zur Zeichnung von Kriegsanleihen, der mit pathetischen Durchhalteparolen getränkt war:

„Unser Volk und Land steht vor dem letzten und schwersten Gang in diesem gewaltigen Kriege. Amerika und England haben heimtückisch fast die ganze Erde in den Kampf gegen uns gezwungen. Deutschland steht vor seiner Schicksalsstunde. […] Unsere Westfront kann von unseren Gegnern trotz aller Anstürme nicht durchbrochen werden.“1

Sätze wie diese verbreiteten den Mythos vom „im Felde unbesiegten“ deutschen Heere und bereiteten auch in Oberhausen den Boden für die Giftsaat der Dolchstoßlegende, den bösen Vorwurf, dass die Niederlage durch die Revolution in der Heimat verursacht, der tapfere deutsche Soldat von hinten erdolcht worden sei.

Die Bereitschaft zur Zeichnung der Kriegsanleihen kann nicht mehr sehr groß gewesen sein. Sonst hätte es der täglichen Beteuerungen über ihre Sicherheit – auch dies z. T. in riesigen halbseitigen Anzeigen2 – nicht bedurft. Der Sterkrader Oberbürgermeister Dr. Most musste die Hausbesitzer bitten, das Kleben der Werbeplakate auf ihre Hauswände zu dulden; die Wände würden später auch wieder gründlich gereinigt. Schaufenster mochten die Kaufleute zu diesem Zweck „nicht gerne hergeben“.3

 

Die Ortsgruppen des Volksvereins für das katholische Deutschland hatten Ende September dem Kaiser ein Ergebenheitstelegramm geschickt. Die Antwort wurde am 3. Oktober veröffentlicht:

„Seine Majestät der Kaiser und König haben von der vaterländischen Kundgebung der dortigen Versammlungen […] mit Freuden Kenntnis genommen und danken herzlich für das Gelöbnis, im Kampfe für Deutschlands Daseinsrecht, Ehre und Freiheit fest und unerschütterlich zu Kaiser und Reich zu stehen. Auf Allerhöchsten Befehl: Geh. Kabinettsrat von Berg.“4

Die Menschen in Oberhausen hatten zu dieser Zeit andere Sorgen: Wie sollten sie den herannahenden fünften Kriegswinter überstehen, ohne zu verhungern? Die nüchternen Bekanntmachungen des Nahrungsmittelamtes lassen dies nur erahnen:

„In der Woche vom 7. bis 13. Oktober haben die […] Bezugsscheine für Lebensmittel für die nachbezeichneten Mengen folgende Gültigkeit: Kartoffeln: 7 Pfund (65 Pfg), Butter: 30 Gramm (30 Pfg), Fett: 30 Gramm Margarine (12 Pfg), Zucker: 125 Gramm, Marmelade: 100 Gramm Kunsthonig (15 Pfg). Nährmittel können in der laufenden Woche nicht zur Ausgabe gelangen, damit für die nächste fleischlose Woche eine Ausgabe von Nährmitteln stattfinden kann. Ferner werden ohne Rationierung ausgegeben: Dörrgemüse, Gerstenkaffee, Atlas-Suppenwürze, Nährhefe, Speisesalz, Viehsalz, Lakto-Eipulver. Fleisch und Fleischwaren werden in der laufenden Woche 200 Gramm […] ausgegeben. Die Rüstungsarbeiter erhalten wieder die regelmäßige Wurstzulage.“5

Und selbst diese Rationen standen z. T. bald nur noch auf dem Papier: Zwei Wochen später gab es statt Butter nur noch Margarine, und es wurde die vierte fleischlose Woche proklamiert.6 Anfang Dezember gab es statt Butter und Fett nur noch insgesamt 55 Gramm „Feintalg“.7

Die Bergleute waren am Ende ihrer Kraft. In einer von 800 Bergleuten besuchten Belegschaftsversammlung der Zeche Osterfeld Mitte Oktober wurde einstimmig die Resolution angenommen, „wonach die Belegschaft sich nur noch imstande fühlt, eine einfache Schicht zu verfahren infolge der unzureichenden Nahrungsmittelversorgung und der niedrigen Löhne, die von der Zeche Osterfeld gezahlt werden“. Dienstags und freitags wurden von den Bergleuten eineinhalb Schichten verlangt.8

Eine der schlimmsten Folgen der Mangelernährung war die Anfälligkeit für die Grippe. Ein Medizin-Professor empfahl bei einem Vortrag in Oberhausen, da es Milch und Käse nicht mehr gab, in der Apotheke 100 Gramm Kalk zu kaufen. „Man löst diesen in sechs Liter Wasser auf und nimmt zu jeder Mahlzeit zwei Esslöffel voll, kleine Kinder die Hälfte.“9 Ob diese Empfehlung wohl viele vor der Grippe bewahrt hat? In der zweiten Oktoberhälfte erkrankten immer mehr Menschen. Die Schulen wurden für zwei Wochen geschlossen. In Sterkrade mussten Lehrerinnen und Lehrer mit den gesunden Kindern in dieser Zeit Bucheckern sammeln, um damit zu Hause dann die karge Kost zu ergänzen.10 Trotzdem starben immer mehr Menschen an den Folgen der Grippe, bis zum Abebben der Epidemie im November pro Woche jeweils mehr als hundert11; die Todesanzeigen für noch recht junge Menschen („nach kurzer schwerer Krankheit“) häuften sich. Am letzten Oktobersonntag gab es in Oberhausen 30 Beerdigungen.12

Wer nicht ausschließlich auf Marken angewiesen war, musste offenbar nicht hungern. Täglich wurden in mehreren Anzeigen Schweine zum Verkauf angeboten. Viele versuchten, die karge Markenkost durch Hamsterfahrten etwas aufzubessern; das Land rund um das Ruhrgebiet würde von „Kartoffelhamsterern“ regelrecht „überschwemmt“. Diese gefährdeten angeblich die Versorgung der Gesamtbevölkerung und sogar des Heeres. Hamsterern wurden deshalb schwere Strafen angedroht; jedermann war aufgefordert, sie anzuzeigen.13


Abb. 1 „Sämtliche Magermilch wird von heute ab rationiert.“ – „Wieder ein Transport Schweine angekommen“. GA vom 8. Dezember 1918