Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 2

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Die Wirtschaftsstruktur

Die Aufnahme der Verwaltungstätigkeit der Bürgermeisterei Oberhausen begann am 1. Februar 1862 mit der Berufung des Leutnants a. D. Friedrich Schwartz zum Bürgermeister – auf Grundlage der Kabinettsordre der königlich preußischen Staatsregierung zur Bildung der Bürgermeisterei Oberhausen vom 18. November 1861. Bis dahin hatte es weder geordnete Verwaltungstätigkeit noch Raumplanung für ein Gebiet, das aus unbeachteten Peripherien anderer Bürgermeistereien bestand, gegeben. Gleichwohl setzte mit der Anlegung des Walzwerkes Oberhausen der Hüttengewerkschaft und Handlung Jacobi, Haniel und Huyssen (JHH) 1828 bis 1830 eine erste großindustrielle Nutzung des nur an den Heiderändern besiedelten Raumes ein. Die Industrie entwickelte sich dann seit der Anlegung des Bahnhofs der Köln-Mindener Eisenbahn 1846 zur dominierenden ökonomischen und raumbildenden Kraft.

Bis zur Gründung der Eisenhütte Neu-Essen an der Emscher im Osten der Bauernschaft Lirich 179144 gab es im Gebiet der späteren Bürgermeisterei Oberhausen nur Landwirtschaft, die von kleinen Siedlungen am südlichen und nördlichen Rand der Lipperheide aus betrieben wurde. Das waren im Süden Alstaden, Styrum und Dümpten, im Norden Lirich und Lippern. In der frühen Neuzeit wuchsen jene Siedlungen, von denen nur die südlichen den Charakter von Dörfern erlangten, langsam in die Heide hinein, indem sich ▶ Kötter ansiedelten, die ihre Gehöfte in der Peripherie der Heide und in der Nähe der Siedlungen anlegten. Ein Kötter bewirtschaftete einen Kotten, ein kleines Wohnhaus mit Stallraum, und eine kleine landwirtschaftliche Nutzfläche von oft unter einem Hektar Größe. Da der Ertrag für den Lebensunterhalt meist nicht ausreichte, boten die Kötter handwerkliche Dienste an oder arbeiteten tageweise auf Bauern- und Herrenhöfen.

Die Gemeindegrenzen von 1862 schlossen die kleinen Bauernschaften Lirich und Lippern ein, während aus den südlich der Lipperheide gelegenen bäuerlichen Siedlungen nur einige wenige Kötter an die Bürgermeisterei Oberhausen fielen. Den mit 70 Prozent überwiegenden Teil der Gemeinde machte Heidegrund aus, der sich ausschließlich zu extensiver landwirtschaftlicher Nutzung als Schafweide und Feuerholzreservoir eignete. Daher beschränkten sich die intensiven Raumnutzungen durch Ackerbau und Viehzucht auf die schmale Emscheraue mit den beiden Siedlungen Lirich und Lippern im Norden und kleine Flächen an den südlichen Heidegrenzwegen, die 1862 meist die Südgrenze Oberhausens bildeten.45

Weil nicht einmal vollgültige dörfliche Siedlungen vorhanden waren, gab es auf dem Gebiet der späteren Bürgermeisterei Oberhausen vor 1790 keine stetige industrielle oder handwerkliche Wirtschaftstätigkeit oder gar Handels- und Dienstleistungsberufe. Nur zum Eigenbedarf wurden handwerkliche Arbeiten von den Bauern und Köttern ausgeführt. Sporadisch beschäftigten sie umherziehende Lohnhandwerker, die sich das Werkzeug bei ihren Auftraggebern liehen. Somit besaß jener Raum keinerlei zentrale Versorgungsfunktion für die Nachbarschaft. Einzelhandel, Handwerk und Wochenmärkte wurden in den umliegenden Dorfschaften besucht. Dafür standen den „Umwohnern“ der Lipperheide im Norden Sterkrade, Holten, Osterfeld und Bottrop, im Osten Borbeck und im Süden Alstaden, Styrum und Dümpten in Entfernungen von fünf bis zehn Kilometern zur Verfügung. Höchst selten, bei wichtigen An- oder Verkäufen, machten sich die Bewohner auf den Weg in eine der zehn bis zwanzig Kilometer entfernten Städte Mülheim, Essen, Duisburg oder Ruhrort. Die Nähe vieler Dörfer und Städte schuf am nördlichen Heiderand angesichts seiner geringen Bevölkerungszahl von nur etwa zweihundert Menschen keinen Bedarf für die Ausbildung eines Dorfes, geschweige denn eines Marktplatzes, einer Kirche o. ä.46


Abb. 3: Karte der Lipperheide 1823 mit den späteren Gemeindegrenzen Oberhausens (1915 - 1929)


Abb. 4: Styrumer Eisenindustrie in Oberhausen, Postkarte um 1890


Abb. 5: Blick auf die Eisenhütte Oberhausen der GHH, Postkarte um 1900

Verschob sich die Wirtschaftsstruktur bereits durch die Schaffung der Eisenhütte Neu-Essen 1790, so begründeten das Walzwerk Oberhausen (W. O.), errichtet 1829/​30, ergänzt um ein Puddelwerk 1835/​36, und vor allem das ihm 1842 angeschlossene Schienenwalzwerk die Dominanz der Großindustrie. Der Einsatz des soeben in Deutschland eingeführten Puddelofens auf W. O. seit 1836 erlaubte die Verzehnfachung der Roheisenproduktion und bildete die Grundlage für die Herstellung schmiedeeiserner Schienen. Seit 1830 expandierten die verschiedenen Werksanlagen dank stark steigender Nachfrage und des guten Rufes der JHH aufgrund der hohen Qualität ihrer Produkte stetig.47 Als Mitte der 1840er Jahre die Köln-Mindener Eisenbahn durch die Lipperheide gebaut wurde, hatte sich die JHH mit rund 3000 Beschäftigten bereits zum größten Eisenwerk des Ruhrgebiets entwickelt; fast 1000 Menschen arbeiteten in Oberhausen, während das Schwergewicht noch auf den Sterkrader Betrieben der Eisenverarbeitung lag.48 Entscheidend für die Oberhausener Wirtschaftsstruktur erwies sich der kurze Zeitraum zwischen der Erschließung des Raumes durch die Bahn mit der Eröffnung der Station Oberhausen 1847 – sogleich erhielt die JHH ein Anschlussgleis – und dem Beschluss des preußischen Königs zur Gemeindegründung 1861. Bedingt durch Eisenbahn, Nordwanderung des Bergbaus seit Überwinden der Mergelschicht und günstige weltwirtschaftliche Wachstumsbedingungen der 1850er Jahre fand im Oberhausener Raum ein ruhrgebietsweit einzigartiger industrieller Take-off, ein Gründungs- und Wachstumsschub49 statt, in dem sich zwei Prozesse verschränkten: Die Dynamik von Mittelindustrien und Eisenbahnbetrieben um den Bahnhof sowie das eindrucksvolle Wachstum der Betriebe in den Montanbranchen Kohle, Eisen und Stahl.

Der Bahnhof der Köln-Mindener Eisenbahn in freier Heide, die neben reichlich Platz niedrige Bodenpreise bot, zog sowohl die Niederlassung mittlerer und größerer Industrieunternehmen der Zink- und Eisengewerbe (Zinkfabrik Grillo 1854, Zinkfabrik Altenberg/​Vieille Montagne 1857, Styrumer Eisenindustrie 1856) sowie der Zeche Concordia (1850/​51 abgeteuft, bereits 1851 Aufnahme der Förderung) nach sich als auch die ungehinderte Flächenexpansion der Eisenbahnanlagen. Das begünstigte die Bildung des Eisenbahnknotenpunktes mit Anschluss an den Rhein in Ruhrort und mit überregionalen Verbindungen nach Köln und Berlin (1847), nach Arnheim (1856) und über die Bergisch-Märkische Bahn mit den Hellwegstädten Mülheim, Essen, Bochum und Dortmund (1862). Die Eisenbahngesellschaften waren fortan zunehmend bedeutende Arbeitgeber im Oberhausener Wirtschaftsraum. Begünstigt von der Eisenbahn und der Nordwanderung des Ruhrbergbaus erfuhr die Großeisenindustrie der JHH einen enormen Wachstumsschub, der vorrangig in den Betrieben im Gebiet der späteren Gemeinde Oberhausen, weniger in Sterkrade und erst seit den 1870er Jahren auch mit der Zeche in Osterfeld stattfand. Der erfolgreiche Einsatz von verhüttungsfähigem Koks aus Ruhrkohle für die Roheisenerzeugung auf der Friedrich-Wilhelms-Hütte 1849 in Mülheim initiierte den Bau der Eisenhütte I der JHH von 1853 bis 1856 unmittelbar nördlich der Köln-Mindener Eisenbahn an der Essener Chaussee nahe der zukünftigen östlichen Gemeindegrenze. Schon 1855 wurde der erste Hochofen dort angeblasen. Die Steigerung der Eisenerzeugung der JHH im Zuge des Baus der Eisenhütte Oberhausen rief ebenfalls die Abteufung der werkseigenen Zeche Oberhausen von 1854 bis 1857 hervor, womit das Unternehmen zum ersten dreistufig vertikal gegliederten Großbetrieb der Ruhrindustrie wurde. Bei der Gemeindegründung befanden sich in Oberhausen die Steinkohlenförderung und die Eisenverhüttung mit den ersten Verarbeitungsstufen der Stahlerzeugung und des Walzens, während sich in Sterkrade die Weiterverarbeitung des Maschinen- und später Brückenbaus konzentrierte. So war die Oberhausener Wirtschaftsstruktur 1862 eindeutig von Bergbau, Eisenbahn, Mittel- und Großindustrie bestimmt.

Kleinindustrie, Handwerk und Handel vermochten sich nicht gleichzeitig auszubilden. Das sprunghafte Bevölkerungswachstum der überwiegend wenig kaufkräftigen Arbeiter zog nur allmählich die Niederlassung konsumnaher Gewerbe nach sich. Am schnellsten, nämlich bereits in den 1860er Jahren, nahm ein knappes Dutzend kleinindustrieller Betriebe ihre Tätigkeit auf. Als metallverarbeitende Zulieferer der größeren Industrie und des Bergbaus verfügten sie als erste über einen aufnahmefähigen lokalen Markt.50 Lebensmitteleinzelhandel und Handwerk zur Deckung des regelmäßigen Massenbedarfs nahmen von den 1860er Jahren bis zur Jahrhundertwende absolut und im Verhältnis zur Einwohnerzahl zu. Beide erreichten aber, verglichen mit Nachbarstädten am Hellweg, ein nur unterdurchschnittliches Niveau.51 Dennoch expandierte das Handwerk in Oberhausen stark. Dies kam einem dynamischen Aufholprozess auf dem Weg zu „städtischen Verhältnissen“ gleich.52 Eine befriedigende Versorgungsdichte wurde allerdings zunächst nicht erzielt, was gerade im Einzelhandel zuweilen erhöhte Preise und Versorgungsangebote der Großunternehmen bewirkte.53

 

Abb. 6: Altmarkt um 1900

1859 hatte Bauer Wilhelm Stöckmann damals noch der Gemeinde Styrum einen Platz zur Abhaltung von Märkten kostenfrei überlassen. Rund um den Platz und entlang der von der Mülheim-Sterkrader Chaussee auf ihn zuführenden „Marktstraße“ entstand sehr schnell das dominante Geschäftszentrum der Bürgermeisterei Oberhausen. Schon zu Beginn der 1870er Jahre hatte es eine solche Ausdehnung und ökonomische Stabilität erreicht, dass die Absicht des Bürgermeisters zu dessen Verlegung in die Rathausnähe 1872 bis 1875 scheiterte.54 Damit war aber noch keine städtische Zentralfunktion mit entsprechendem Handwerks- und Einzelhandelsangebot geschaffen. Erst seit 1891 meinten die Zeitgenossen, das Oberhausener Geschäftszentrum habe eine der Bedeutung der Stadt angemessene Komplettierung von Angeboten des täglichen wie des gehobenen Bedarfs in Einzelhandel und Handwerk erreicht.55

Geschichte der Stadtsparkasse Oberhausen bis 1939

▶ Angeregt wurde die Gründung einer Sparkasse 1865 von Bürgermeister Friedrich Schwartz und damit schon drei Jahre nach Bildung der Bürgermeisterei Oberhausen. Handfeste öffentliche Interessen sprachen für die Gründung und Förderung von Sparkassen, denn wer für seine alten Tage gespart hatte, fiel nicht der Wohlfahrtspflege zur Last. Eine Rentenversicherung gab es damals schließlich noch nicht. Die Stadt- und Gründerväter der Sparkasse wollten vor allem der breiten Arbeiterbevölkerung, Händlern und Handwerkern die Gelegenheit geben, die Ersparnisse durch Zinsen vor inflationärem Wertverlust zu schützen.

▶ Der erste „Sparkässler“ – Christian Kleindorf – war Sparkassendirektor, Buchhalter, Kassierer und Bindeglied zwischen Kunden und Verwaltungsrat in einer Person. Als Geschäftslokal diente seine Wohnung.

▶ Über die aus den erzielten Überschüssen gebildeten Rücklagen der jungen Sparkasse hinaus fielen Jahresgewinne an, von denen ein Teil seit 1893 für gemeinnützige Zwecke verwendet wurde. Der Bau der ersten Badeanstalt Oberhausens, des heutigen Ebertbades, konnte so mitfinanziert werden.

▶ 1895 wurde die Sparkasse zusammen mit der Stadtkasse im Rathaus an der Schwartzstraße untergebracht. Um die Jahrhundertwende erfolgte die endgültige Trennung von Spar- und Stadtkasse. Die Sparkasse erhielt endlich ein eigenes Domizil: in gemieteten Räumen des Hauses Schwartzstraße 56.


Abb. 7: Das Gebäude der Hauptstelle der Stadtsparkasse Oberhausen von 1912 in der Schwartzstraße 62

▶ Mit der Größe Oberhausens wuchs die Sparkasse. Wichtige Ausbauschritte waren für die Sparkasse 1912 der Neubau der Hauptstelle an der Schwartzstraße sowie die Einführung des Scheck-, Depositen-, Kontokorrent- und Giroverkehrs im selben Jahr.

▶ Nach der großen Inflation von 1918 bis 1923 bestand eine Hauptaufgabe darin, das Vertrauen der Sparer zurückzugewinnen. Tatsächlich schöpften die Bürger neue Zuversicht; die Spareinlagen nahmen allmählich wieder zu.

▶ Im Zuge der ersten Rationalisierungswelle der deutschen Wirtschaft begann die Sparkasse 1928 mit der Umstellung von handschriftlicher auf maschinelle Buchführung.

▶ Im Zuge des Zusammenschlusses der Städte Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld zu Groß-Oberhausen 1929 folgte die Zusammenführung der drei bis dahin selbständigen Sparkassen. Die Bilanzsumme der Sparkasse betrug 1931 insgesamt 36,1 Millionen Reichsmark.

Vor Beginn der von hoher Prosperität bestimmten zwei Jahrzehnte vor 1914 hatte Oberhausen die erste Phase der Hochindustrialisierung durchlaufen. Um 1895 stellten sich die Anteile der drei Wirtschaftssektoren nicht grundlegend anders dar als bei der Gemeindegründung 1862. Das beruhte auf dem nur allmählichen Bedeutungsverlust der Landwirtschaft und dem ebenso starken Wachstum von Bergbau (damals Teil des primären Sektors), Industrie, Handwerk und der Dienstleistungsbranchen. Qualitativ traten dagegen in den ersten 30 Jahren der Oberhausener Wirtschaftsgeschichte schon alle wesentlichen Veränderungen ein, die zu Charakteristika der Dienstleistungsgesellschaft werden sollten. Somit waren im Zeitalter der Industriegesellschaft in Oberhausen seit Mitte des 19. Jahrhunderts bereits die spätere Ausdifferenzierung und das Wachstum der Dienstleistungsgesellschaft im 20. Jahrhundert angelegt. Nicht nur das höherwertige Einzelhandelsangebot partizipierte überproportional am ökonomischen und städtischen Wachstum. Gleiches galt für das freiberufliche Bildungsbürgertum, den öffentlichen Dienst und den Dienstleistungsanteil der Beschäftigung in den Großunternehmen. Die 1873 in Gutehoffnungshütte (GHH) umbenannte und dann 1875 mit ihrer Hauptverwaltung von Sterkrade nach Oberhausen übergesiedelte JHH entfaltete als eines der größten Ruhrgebietsunternehmen eine Spezialisierung ursprünglicher Unternehmeraufgaben, indem sie eine arbeitsteilig arbeitende, stark wachsende Verwaltung an der Essener Straße aufbaute. So wuchs die Angestelltenschaft prozentual schneller als die Gesamtbelegschaft und zeitlich vor der umfassenden Expansion der Kommunalverwaltung. Die Herausbildung der kommunalen Leistungsverwaltung mit enormer Ausdehnung der städtischen Beschäftigten setzte erst in den 1890er Jahren ein. Diese Verschiebungen innerhalb des Dienstleistungssektors wurden dann im Boom von 1895 bis 1914 von einer umfassenden Ausdehnung der Industrieproduktion begleitet, so dass die Relation zwischen beiden Wirtschaftssektoren Produktion und Dienstleistungen annähernd gewahrt blieb. Erst in der Phase „relativer Stabilität“ zwischen 1924 und 1929 stagnierte die Industrieproduktion und das Wachstum der Dienstleistungen schlug sich in der zumindest anteiligen Bedeutungszunahme für das lokale Sozialprodukt nieder.

Vor 1914 hatte sich indes bereits eine deutliche Veränderung der Industriestruktur vollzogen, die als Polarisierung gekennzeichnet werden kann. Einerseits wuchsen die Bergwerksgesellschaften und die Gutehoffnungshütte überdurchschnittlich. Dazu trugen entscheidend die ▶ Kartellierung des regionalen wie nationalen Marktes – also die vom Staat gebilligte Verteilung von Marktanteilen unter den Großunternehmen – und die wachsende Kapitalintensität der Produktion bei. Der hohe Kapitalbedarf war Ausdruck technischer Innovationen. Diese hatten bei verschärftem Wettbewerb über den Preis und immer größeren Stückzahlen positive Mengeneffekte mit zugleich sinkenden Kosten zur Folge.56 Ebenfalls entstand in der dritten bedeutenden Unternehmensgründungsphase der Oberhausener Wirtschaftsgeschichte um die Jahrhundertwende ein neues Großunternehmen, das sensationell wuchs. Die 1898 aus der Schäferschen Dampfkesselfabrik hervorgegangenen Deutsche Babcock & Wilcox Werke erlangten bis 1914 ein Belegschaftswachstum von etwa 60 auf 1.500 Beschäftigte.57 Andererseits gerieten aus denselben Gründen, die die Dynamik der GHH trugen, mittlere und größere Unternehmen der Eisen- und Metallindustrie in eine Krise, die den ersten Strukturwandel der Oberhausener Wirtschaftsgeschichte nach sich zog. Allen voran die Styrumer Eisenindustrie mit um 1895 noch 700 Mitarbeitern stellte 1902 den Betrieb ein. Bis 1914 folgten zwei weitere Unternehmen der Metallverarbeitung mit 350 und 200 Beschäftigten, die Continentalen Röhren- und Mastenwerke 1906 sowie die Stuhlfabrik Terlinden 1909, nach. Entlassungen führten im Boom nicht zu Arbeitslosigkeit, womöglich trugen sie sogar das Wachstum von GHH und Babcock bei verschärftem Arbeitermangel mit.

Die Ansiedlung neuer Betriebe erlangte im Kaiserreich – und übrigens ebenso in der Zwischenkriegszeit – nie große Bedeutung, wenn man von wenigen Einzelgründungen der Boomphase ab 1895 – Deutsche Babcock, Polstermöbelfabrik Hemmers, Lackfabrik Wiegand – und in der Kriegs- wie Revolutionszeit – Chemische Fabrik Rombach (1917) Bauunternehmung Heine (1919) – absieht. Das schnelle quantitative Wachstum der Oberhausener Wirtschaftsleistung in der Hochindustrialisierung seit 1880, dann vor allem seit 1895, bis 1914 wurde weitaus stärker von der Expansion der ansässigen Wirtschaft als von Neugründungen getragen.58

Oberhausens Industrie wies somit zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben den Großbetrieben der Montanindustrie und Babcock etwa ein Dutzend Betriebe mittlerer Größe mit 50 bis zu 500 Beschäftigten auf, die sich allesamt dadurch auszeichneten, ihre Standortwahl aufgrund der günstigen Standortfaktoren Güterbahnanschluss, verfügbares Gelände und wachsende Arbeiterbevölkerung getroffen zu haben. Die Unternehmen der Metallindustrie bildeten mit den Zinkwerken Grillo und Vieille Montagne, mit Sellerbeck und Terlinden als Metallverarbeitern sowie Fitscher Metallguss den Schwerpunkt. Daneben kam den ausgedehnten Werkstätten der Eisenbahnbetriebe der königlich preußischen Staatsbahnen großes Gewicht zu; hier fanden nach 1900 über 1.200 Menschen Arbeit. Doch auch die Konsumgüterindustrie war stark vertreten: mit der Oberhausener Glasfabrik, der Porzellanfabrik Hohmann, der Polsterfabrik Hemmers, der Herdefabrik Phönix, einer Zigarrenfabrik und mehreren Unternehmen der Bauwirtschaft, der Nahrungsmittel- und Bekleidungsindustrie. Schließlich bildete Oberhausen auch schon vor der Grundsteinlegung der Ruhrchemie 1927 auf Initiative mehrerer Montankonzerne, so der GHH und der Rombacher Hüttenwerke als Mutter der Concordia, einen Standort der chemischen Industrie: In den Industrieunternehmen Kempchen, Tedden und Krebber wurden Öle, Kunststoffe und Teere zu Dichtungen, Pappen und Dämmstoffen verarbeitet. Dabei vollzog sich eine stetige räumliche Konzentration der industriellen Nutzungen des Oberhausener Stadtgebietes in einem breiten Gürtel nördlich des Bahnhofs, der von der Cocordia und Babcock im Westen bis zur Gutehoffnungshütte im Osten reichte.59

Schließlich vollzog sich über den Ersten Weltkrieg hinaus als säkularer Prozess bis Ende der 1930er Jahre ein stetiger Bedeutungszuwachs des Dienstleistungssektors. Diese Entwicklung wurde jeweils nur kurzfristig vom Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise unterbrochen. Allerdings nahm sie für die Zeitgenossen nie den Ausdruck eines deutlichen strukturellen Wandels an. Vielmehr blieb diese ▶ Tertiärisierung stets eingebettet in die Stärkung der Zentralörtlichkeit Oberhausens durch eine vitale und urbane, eben großstädtische City. Die Städtekonkurrenz mit den Großstädten am Hellweg stand stets im Hintergrund.

Dennoch erzielte Oberhausen im Ruhrgebietsvergleich zwischen 1890 und 1914 einen Aufholerfolg. Der Aufstieg zur urbanen Großstadt sollte sich bis zum Zweiten Weltkrieg fortsetzen: Schon in der Diskussion um die kommunale Neugliederung des Ruhrgebiets konnte die Oberhausener Stadtverwaltung 1928 konstatieren, Mülheim als Geschäfts- und Einkaufsstadt eingeholt, 1937 dann gar überflügelt zu haben. Oberhausen sei als wichtige Geschäftsstadt neben Duisburg und Essen getreten. Auch hinsichtlich der Beschäftigten im Einzelhandel und im Handwerk wird diese Einschätzung bestätigt. Dem standen aber Defizite bei anderen wichtigen Aspekten von Tertiärisierung gegenüber. Dies galt insbesondere für einen vergleichsweise deutlichen Mangel an Großhandel, Freiberuflern und weiteren privatwirtschaftlichen Bürodienstleistungen. Bei Freizeitdienstleistungen, im Verkehrs- und Kommunikationswesen gab es dieses Defizit dagegen nicht. Ursache dafür war das Gewicht Oberhausens als Standort für Eisenbahn- und Posteinrichtungen.60

Einige quantitative Angaben sind möglich, die abgesehen von den lückenhaften Aussagen der Adressbücher zuverlässig nur für das 20. Jahrhundert vorliegen, da die staatliche Statistik wie die bis 1907 für Erhebungen nachteilige Stadtgrößenklassenzugehörigkeit Oberhausens von unter 50.000 Einwohnern keine präzisen Angaben ermöglichen.61 Für die Zeit der Jahrhundertwende kann der Anteil der Arbeiter an den Erwerbstätigen mit ungefähr 85 Prozent angegeben werden.62 1918 wiesen 92 Prozent aller Erwerbstätigen den Arbeitnehmerstatus auf;63 unter den acht Prozent Unternehmern befanden sich nur noch vereinzelte Landwirte. Etwa 3,5 Prozent der Erwerbstätigen waren selbstständige Handwerker und 2,5 Prozent Einzelhändler. Zwölf Prozent der Erwerbstätigen waren in den Dienstleistungen beschäftigt, so dass nur noch gut 80 Prozent Arbeiter verblieben.64 Nach Inflation und Stabilisierungskrise 1923/​24 stellte die Arbeiterschaft im Juni 1925 lediglich noch 65 Prozent der Erwerbstätigen. Daran ist erkennbar, wie sehr die Krise der Jahre 1923 und 1924 mit dem Wiedereintritt Deutschlands in den Weltmarkt von strukturellen Ursachen industrieller Überkapazitäten begleitet wurde. Schließlich hielt sich zwischen 1925 und 1929 eine strukturell bedingte Sockelarbeitslosigkeit von fünf bis sechs Prozent. Nur noch 42 Prozent der Erwerbstätigen gehörten 1925 Bergbau und Großeisenindustrie an.65 Dominant prägten die Arbeitsplatzverluste in der Schwerindustrie den relativen, jedoch absolut nur geringfügigen Bedeutungszuwachs von Dienstleistungen und Handwerk.

 

Tabelle 1: Wirtschaft und Beschäftigung (Absolut und Anteil der Wirtschaftszweige)

Quelle: Dellwig: Kommunale Wirtschaftpolitik, Bd. 2, S. 707, 709, 715 und weitere Berechnungen

Mit Hilfe eigener Berechnungen und Schätzungen können plausible, jedoch nicht vollständig exakte Daten zur Oberhausener Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur in den Jahren 1883, 1907, 1913 und 1918 genannt werden. Diese illustrieren markant den Entwicklungsgang der jungen Industriestadt Oberhausen (siehe Tabelle Wirtschaft und Beschäftigung). Im Zeitverlauf wies Oberhausen 1883 zunächst eine hohe Erwerbstätigenquote von über 40 Prozent der Stadtbevölkerung auf. Ursächlich dafür war der hohe Anteil lediger junger Männer in den Belegschaften der Industriebetriebe. Erst allmählich dominierten die Familienväter, so dass die Erwerbsquote zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur noch 23,8 und 25,4 Prozent betrug. Das erscheint gegenüber der Gegenwart mit etwa 45 Prozent niedrig, resultierte jedoch aus deutlich höheren Kinderzahlen und einer in der Industriestadt sehr geringen Frauenerwerbstätigkeit von nur etwa fünf Prozent. In Folge der Kriegswirtschaft kletterte die Erwerbsquote 1918 auf 34,5 Prozent und die Bedeutung der Stahlindustrie stieg deutlich an. Zahlreiche Frauen arbeiteten damals in den Betrieben der Metallverarbeitung des Oberhausener Raumes, allen voran bei der Gutehoffnungshütte und der Deutsche Babcock & Wilcox. Vor dem Ersten Weltkrieg waren die GHH mit rund 9.000, die Zeche Concordia mit 5.500, die Deutsche Babcock mit etwa 1.500 sowie die Zeche Alstaden und die Betriebswerkstätten der preußischen Staatsbahn mit je über 1.000 Beschäftigten die größten Arbeitgeber der Stadt.

Die Anteile der Wirtschaftszweige an der Beschäftigung zeigen eindrucksvoll den ersten Strukturwandel, den die junge Industriestadt durchlief: Von 1883 bis 1913 fand eine starke Verlagerung des Schwerpunktes innerhalb der Montanindustrie von der Eisen- und Stahlerzeugung hin zum Bergbau statt. Dies betraf sowohl die Entwicklung innerhalb der damaligen Stadt Oberhausen südlich des 1914 eröffneten Rhein-Herne-Kanals als auch noch ausgeprägter die nördlichen, ebenfalls von der GHH geprägten Nachbargemeinden Sterkrade und Osterfeld. Dort entstanden nach Abteufung der Zeche Osterfeld 1873 seit 1890 mit den Schachtanlagen Hugo, Sterkrade und Jakobi nördlich der bisherigen Siedlungskerne neue Großschachtanlagen, durch die eine Ausdehnung der Besiedlung, getragen von zahlreichen neuen Werkssiedlungen, eingeleitet wurde.

In der Stadt Oberhausen wurden von 1900 bis 1914 nicht nur die Schächte Vondern (GHH) und Concordia III bis V neu abgeteuft; auch die Eingemeindung der südlichen Vororte Alstaden und Dümpten ergänzte Oberhausens Wirtschaft um die Zechen Alstaden und Roland. Doch auch der „moderne“ Strukturwandel hin zu den Dienstleistungen lässt sich aus den Zahlen ablesen. Sowohl die privaten (von 4,3 bis 12,7 Prozent) als auch die öffentlichen Dienstleistungen (von 1,3 bis 5,2 Prozent) expandieren weit stärker als die Stadt insgesamt. Dahinter verbergen sich der Aufstieg der Innenstadt zum Handels- und Geschäftszentrum im Stadtraum sowie die Expansion der städtischen Leistungsverwaltung mit ihren Vorzeige-Einrichtungen Straßenbahn (1894/​97) und Elektrizitäts-Werk (1901) und die Expansion von Post und Eisenbahnwerkstätten.66

Das Verhältnis der Betriebe aus den Handwerken des regelmäßigen Bedarfs (Bäcker, Fleischer, Schneider, Schuhmacher) zu 1.000 Einwohnern betrug 1907 in Oberhausen 6,57; in diesen Betrieben entfielen auf 1.000 Einwohner 16,86 Beschäftigte. Damit lag die Stadt mit klaren Abständen zu „Landgemeinden“ wie älteren Ruhrgebietsstädten im Mittelfeld der Region. Daran wird gegenüber dem Industriedorf ein deutlicher, aber im Vergleich zu Hellwegstädten unvollständiger Aufholprozess erkennbar.67 Auf 1000 Einwohner entfielen im Jahr 1925 sieben selbstständige Handwerker. Neben Homberg mit 8,7 und der alten Stadt Recklinghausen mit 7,2 befand sich Oberhausen damit an der Spitze der nördlichen Ruhrgebietsstädte noch vor Gelsenkirchen (6,7). Dagegen fielen Industriedörfer wie Hamborn mit 4,4 und Buer mit 4,8 klar ab. Und der Rückstand gegenüber Duisburg (7,7) und Essen (7,8) war keineswegs mehr ein Klassenunterschied, nur Mülheim verfügte mit 8,9 noch über einen deutlichen Vorsprung.68 1939 hatte Oberhausen mit einer Relation der Betriebe von 10,6 und der Beschäftigten von 46 auf 1000 Einwohner und einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 4,4 Personen zu Essen und Duisburg voll aufgeschlossen sowie den Abstand zu Mülheim (12,6 – 46–3,8) entscheidend verringert, bei der Beschäftigung dank größerer Betriebe sogar gleichgezogen. Zugleich war es Oberhausen gelungen, alle nördlichen Ruhrgebietsgemeinden bis auf Recklinghausen (12,6 – 53,6 – 4,3) zu überflügeln.69