Nationalsozialismus und Holocaust – Materialien, Zeitzeugen und Orte der Erinnerung in der schulischen Bildung

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Herausforderung Geschichtsunterricht an Berufsschulen

Meine eingangs geschilderte Motivation, als neuer Berufsschullehrer die Auseinandersetzung mit historisch-politischer Bildung forcieren zu können, wurde rasch gebremst: Ich unterrichtete nur zwei meiner anfänglichen 16 Wochenstunden das Fach Politische Bildung und musste stattdessen mit Rechnungswesen, Wirtschaftskunde und Englisch Fächer unterrichten, für die ich keinerlei Ausbildung hatte. Ich bekam dabei zwar verlässliche Unterstützung von der Direktion sowie von Kolleginnen und Kollegen, hatte jedoch kaum Gelegenheit, Feedback zu meiner Unterrichtspraxis zu bekommen oder diese zu reflektieren. In den wenigen Stunden, die ich das Fach Politische Bildung unterrichten durfte, waren zahlreiche für Lehrlinge wichtige Themen aus den Bereichen Arbeitsrecht, Interessensvertretungen und Strukturen der parlamentarischen Demokratie zu behandeln. Für Zeitgeschichte, Nationalsozialismus und Erinnerungskultur blieb da meist nicht viel Zeit. Hilfsmittel und zusätzliche Unterrichtsmaterialien, die ich heranziehen wollte, waren oft für mehrere Unterrichtseinheiten ausgelegt und erschienen mir entweder zu sehr an Daten und Fakten orientiert oder zu komplex. So setzte ich mich immer mehr mit der didaktischen Herausforderung auseinander, über Nationalsozialismus und Holocaust in kurzer Zeit so zu unterrichten, dass bei den Jugendlichen ein grundlegendes Interesse an (Zeit-)Geschichte geweckt würde. In dieser Auseinandersetzung stieß ich auf _erinnern.at_ und wurde eingeladen, meine Fragen und Erkenntnisse in das Netzwerk des Vereins einzubringen.

Seit 2018 veranstaltet _erinnern.at_ an Pädagogischen Hochschulen in verschiedenen Bundesländern Workshops für Berufsschullehrerinnen und -lehrer unter dem Titel „Haltung zeigen!?“. Im Rahmen dieser Workshopreihe beschäftigen sich Lehrende mit Nationalsozialismus, Antisemitismus und Rassismus als Themen im Unterrichtsfach Politische Bildung. Die Ausgangsfragen dieser Workshops sind etwa, warum man in der Berufsschule unter diesen schwierigen Voraussetzungen überhaupt über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen sprechen sollte, welches Vorwissen und welche Vorstellungen die Jugendliche mitbringen und welche konkreten Modelle es gibt, die das Unterrichten dieser Themen erleichtern. Ein wichtiger Aspekt der Workshopreihe „Haltung zeigen!?“ sind auch die Unsicherheiten, mit denen sich Lehrkräfte beim Unterrichten über Nationalsozialismus und Holocaust konfrontiert sehen. Diese Fragen, die etwa den Umgang mit Störungen oder problematischen, weil menschenrechtsfeindlichen Haltungen der Lernenden betreffen, fließen in die ständige Weiterentwicklung des Workshops ein. Im Folgenden möchte ich anhand einiger der Erfahrungen und Zwischenergebnisse aus diesen Workshops umreißen, welche Fragen und Herausforderungen sich beim historisch-politischen Lernen an Berufsschulen stellen.

A. „Warum sollte man über Nationalsozialismus und Holocaust überhaupt unterrichten?“

Die Frage ist durchaus berechtigt: geringe Zeitressourcen, unklare Verwertbarkeit historisch-politischen Wissens, keine eindeutige Verortung im Lehrplan und die generelle Unsicherheit mit dem Thema machen eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Berufsschule nicht einfach. Zudem wird oft angenommen, die Schülerinnen und Schüler hätten von dem Thema ohnehin genug. Tatsächlich ist man als Lehrperson oft mit einem unwilligen kollektiven Seufzen konfrontiert, wenn man eine Unterrichtseinheit zum Nationalsozialismus ankündigt: „Schon wieder? Das kennen wir schon!“

In einer Studie unter der Leitung von Philipp Mittnik vom Zentrum für Politische Bildung an der PH Wien wird dem klar widersprochen (vgl. Mittnik, 2021): So können unter 20 Prozent der 15-Jährigen an Berufsbildenden mittleren Schulen eine Kurzdefinition von Antisemitismus angeben. Nur 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Allgemein Bildenden Höheren Schulen (AHS) und nur 4,7 Prozent an Berufsbildenden Mittleren Schulen (BMS) können erklären, was unter dem Begriff „Novemberpogrom“ zu verstehen ist. Grundsätzlich attestieren die Studienautorinnen und -autoren dem unter 15-jährigen Jugendlichen vorherrschenden Geschichtsbild eine ausgeprägte Form der Personalisierung: Die Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus wird vor allem bei Hitler als „personifiziertem Bösen“ gesucht. Es ist also nicht das Wissen über den Nationalsozialismus, wovon die Jugendlichen genug haben. Vielmehr könnte es eine hohe moralische Erwartungshaltung der Lehrerinnen und Lehrer sein, die Jugendlichen die Auseinandersetzung erschwert. Viele wohlmeinende Kolleginnen und Kollegen vermitteln das Thema Nationalsozialismus im Unterricht in enger Verbindung mit den eigenen Wertvorstellungen, selbst gezogenen Lehren aus der Geschichte und normativen Vorstellungen einer angemessenen Haltung zu diesem Thema, die allesamt von den Jugendlichen übernommen werden sollten. Dieses Unterfangen verspricht kaum Erfolg im Sinne eines Erwerbs von historischen Kompetenzen und eines Gewinns an politischer Mündigkeit und führt meist zu Frustrationen bei Lernenden und Lehrenden.

Laut einer Handreichung der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) für Lehrende liegt die Notwendigkeit, über den Holocaust zu unterrichten, zuerst in seiner Beispiellosigkeit als Versuch, unter aktiver Mitwirkung weiter Teile der Gesellschaft eine Gruppe völlig auszulöschen. Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus solle die Folgen des Verfalls demokratischer Werte verdeutlichen und zu einem Verständnis von Prozessen führen, die einem Völkermord vorausgehen. Die Schülerinnen und Schüler sollen dazu befähigt werden, über ihre eigene Rolle und Verantwortung beim Schutz von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten nachzudenken (IRAH, 2020, S. 14). Diese Ziele sind hoch gesteckt – der Weg dorthin sollte mehr von der Lebensrealität und den Fragen der Lernenden als von den Ansprüchen der Lehrperson geleitet sein: „Nicht vorgegebene Ziele, Inhalte und Kompetenzen, sondern das Wissen und die Einstellungen der Schüler[-innen] muss Ausgangspunkt des Lernens sein. Nicht Erziehung, sondern die Selbstbestimmung der Schüler[-innen] muss im Zentrum des Lernprozesses stehen“ (Rosa, 2010, S. 157). Ausgangspunkte in der Lebensrealität der Lernenden können in ihrer regionalen Herkunft, in der Familiengeschichte, der beruflichen Beschäftigung oder in örtlichen Bezügen gefunden werden. Vor allem aber in den historischen Vorstellungen der Lernenden und ihren Fragen zu Geschichte, Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen.

B. „Da weiß ich selbst zu wenig“

„Warum über Nationalsozialismus und Holocaust unterrichten?“ lautete die Ausgangsfrage bei den zuvor erwähnten Fortbildungs-Workshops für Lehrende an Berufsschulen. Meist folgte darauf auf unterschiedliche Weise ein Eingeständnis, dass das Unterrichten eines so komplexen, vielleicht als heikel empfundenen Themas verunsichern kann. Die Unsicherheit bezog sich dabei auf das eigene historische Wissen, aber auch auf den Umgang mit den Fragen, Überlegungen und Zugängen der Jugendlichen. In diesem Kontext gilt es zu bedenken, dass der Geschichteunterricht der Lehrenden zu einer Zeit stattfand, als von Kompetenzorientierung und Schülerzentrierung in der Geschichtsdidaktik noch keine Rede war. Das trifft im besonderen Maß auf Lehrende in Berufsschulen zu, die meist nach langjähriger Berufserfahrung quer in die Lehrtätigkeit einsteigen.

Der Geschichtsunterricht, den die meisten von ihnen in den 1980er- oder 1990er-Jahren erfuhren, bestand aus historischen Daten und Fakten und diente der nationalen Identitätsstärkung und Selbstvergewisserung. Wenn der Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht dieser Zeit ein Thema war, dann in Verbindung mit dem Appell des „Nie wieder“, der Mahnung, sich zu erinnern und der Pflicht, die richtigen Lehren aus den Schrecken der NS-Herrschaft zu ziehen. Diese Art des mahnenden Erinnerns war getragen von den Erfahrungen der Opfer des Nationalsozialismus, der Überlebenden der Konzentrationslager und jener, die Widerstand geleistet hatten. Die Adressatinnen und Adressaten dieses Unterrichts waren Jugendliche, deren Großeltern (und vielleicht sogar Eltern) die NS-Zeit erlebt hatten. Der Geschichtsunterricht trat dabei in Wechselwirkung mit Erzählungen aus der eigenen Familiengeschichte, war vielleicht ein Korrektiv und auf jeden Fall ein institutioneller Beitrag zu einer sehr präsenten gesellschaftlichen Debatte. Die Appelle, Mahnungen und zu ziehenden Lehren repräsentierten in dieser Debatte jene, die die Verfolgung durch den Nationalsozialismus erlebt und überlebt hatten. Die Erfahrungen der meisten gegenwärtigen (Berufsschul-)Lehrerinnen und -lehrer mit der Vermittlung des Nationalsozialismus stammen aus jener Zeit. Dreißig bis vierzig Jahre später ist die Erinnerung an den Nationalsozialismus weitgehend erkaltet und hat fixierte Formen angenommen. Aus einer kritischen Auseinandersetzung, die in der eigenen Familie begann und sich auf die gesamte Gesellschaft erstreckte, wurde ritualisiertes, staatstragendes Gedenken. Für viele Jugendliche heute ist der Nationalsozialismus so weit weg wie das Habsburgerreich, Napoleon oder der 30-jährige Krieg – vor allem bei jenen, die nur wenig Gelegenheit hatten, sich mit Geschichte zu beschäftigen und entsprechende Kompetenzen zu entwickeln. Die Appelle und moralischen Forderungen der Lehrenden bleiben – ohne das entsprechende Vorwissen und einen Bezug zum eigenen Leben – leere Hüllen und stoßen als solche oft auf Ablehnung. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung zu Nationalsozialismus und Erinnerungskultur werde – vor allem aus der Perspektive jener, die sich aus gesellschaftlichen und politischen Diskussionsprozessen als ausgeschlossen wahrnehmen – ohnehin von Expertinnen und Experten geführt. Wird ein „richtiges“ Verständnis vom Nationalsozialismus dann noch als „Schlüssel“ zur Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft vermittelt, ist es wenig verwunderlich, dass Jugendliche diese Auseinandersetzung unter den Voraussetzungen dieser starken Aufladung verweigern (Georgi, 2009).

 

Dazu kommt, dass der den Jugendlichen unterstellte Unwillen, sich mit Zeitgeschichte auseinanderzusetzen, oft bei den Lehrenden zu finden ist: Die Abwehr von Auseinandersetzung mit historischer Schuld und Verantwortung des eigenen Wir-Kollektivs ist unter Lehrenden genauso verbreitet wie im gesellschaftlichen Durchschnitt. Hier ist verstärkt die Ausbildung und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern gefragt. Die Ausbildung von Lehrenden an Berufsschulen unterscheidet sich in einigen wichtigen Punkten von anderen Lehramtsstudien. Stefan Schmid-Heher etwa problematisiert, dass Studierende des Lehramts für Berufsschule am Beginn der Ausbildung bereits eine mindestens einjährige, nicht professionell begleitete Unterrichtserfahrung mitbringen und dass auch nach absolvierter Ausbildung das Unterrichten in Fächern, für welche die Lehrperson eigentlich keine Ausbildung hat, weit verbreitet sei. Dies begünstige ein „handwerklich-praktisches“ Theorie-Praxis-Verständnis und erschwere die Selbstreflexion der Lehrerinnen und Lehrer (Schmid-Heher, 2019, S. 107). Im Bereich der Fortbildung äußert sich dieser Umstand bedauerlicherweise immer wieder darin, dass Seminare zur historisch-politischen Bildung, wenn sie speziell für Lehrende aus dem Berufsschulbereich angeboten werden, nicht zustande kommen. Um genügend Lehrkräfte zur Teilnahme an einem solchen Seminar zu motivieren, braucht es klaren Rückhalt aus dem auf Landesebene organisierten Berufsschulsystem, etwa Direktorinnen und Direktoren, die den Lehrenden an ihren Schulen die Teilnahme an einem bestimmten Seminar nahelegen.

C. „Hitler. Die Juden. Der Junge im gestreiften Pyjama“

Nicht nur die Voraussetzungen des Unterrichtens über den Nationalsozialismus für die Lehrenden haben sich geändert, auch die Erwartungen und Vorkenntnisse der Lernenden. Dies lässt sich anhand jener drei Schlagwörter erklären, die mir von Berufsschülerinnen und -schülern meist als erstes entgegengeworfen werden, wenn ich zum Einstieg in das Thema dazu auffordere, mir Assoziationen zu benennen: „Hitler. Die Juden. Der Junge im gestreiften Pyjama.“

Zuerst kommt – wie auch in der zuvor erwähnten Studie von Philipp Mittnik, Georg Lauss und Sabine Hofmann-Reiter festgestellt – tatsächlich fast immer die Fixierung auf die Person Adolf Hitler und der Versuch, die Verbrechen des Nationalsozialismus durch Halbwissen und Gerüchte aus dessen Biografie zu verstehen. Hitler wird zum geschickten Verführer der Massen und zum Dreh- und Angelpunkt des Nationalsozialismus erklärt. Meist werden die Ausführenden der NS-Verbrechen noch im gleichen Atemzug entschuldigt – sie hätten keine Wahl gehabt, sonst wären sie selbst ermordet worden. An dieser Sicht auf Zeitgeschichte ist bemerkenswert, dass sie sich weitgehend mit einer in der postnazistischen Mehrheitsgesellschaft weitverbreiteten Erzählung über den Nationalsozialismus deckt. Das zweite Schlagwort kommt meist als Antagonismus dazu – die Jüdinnen und Juden, die als wehrlose Opfer meist mit der Person Anne Frank identifiziert werden. Dieses Bild vermischt sich mit Vorurteilen und antisemitischen Gerüchten. Nicht selten wird hier der „Hass Hitlers auf die Juden“ mit deren vermeintlichen Eigenschaften oder Taten begründet und nachgefragt, ob es denn stimme, dass die Juden in Österreich bis heute keine Steuern zahlen. Zuweilen wird dann noch mit den einleitenden Worten „Es ist schlimm, was den Juden damals passiert ist, aber …“ der Konflikt zwischen Israel und den Palästinenserinnen und Palästinensern ins Spiel gebracht. Die Assoziation „Der Junge im gestreiften Pyjama“ wirkt dann schon oft wie eine willkommene Unterbrechung dieser Dynamik. Fast alle Jugendlichen, mit denen ich in der Berufsschule über den Nationalsozialismus rede, haben diesen kitschigen, völlig absurden und gleichzeitig in seiner Ästhetik einen hohen Realitätsgehalt vorspielenden Film in einer der davor besuchten Schulen gesehen. Die in diesem Film vermittelten Vorstellungen, dass ein neunjähriger KZ-Häftling in einem Vernichtungslager herumstreift und einen Spielkameraden sucht, während die Ehefrau des Kommandanten nicht so recht weiß, was ihr Mann dort den ganzen Tag macht, sind tief in der Vorstellung der meisten meiner Schülerinnen und Schüler verankert.

Nun ist diese kurze Schilderung anhand dreier Schlagworte natürlich eine Zuspitzung. Es gibt auch immer wieder Lehrlinge, die sehr viel Wissen über den Nationalsozialismus mitbringen, weil sie familiäre Erzählungen zu dieser Zeit haben, weil sie gute Geschichtslehrerinnen und -lehrer hatten oder weil sie sich aus eigenem Interesse mit Geschichte beschäftigen und ihre Quellen kritisch auswählen. Die im vorgehenden Absatz beschriebenen Bilder und Vorstellungen kommen dennoch in fast jeder Klasse auf die eine oder andere Art zur Sprache. Dies soll keineswegs der Fehlannahme Vorschub leisten, Lehrlinge seien dumm, geschichtsvergessen oder überwiegend antisemitisch. Vielmehr ist es ein Ausdruck des historischen Bewusstseins, das viele 15-Jährige – vor allem jene, denen höhere Schulen verschlossen bleiben – heute mitbringen. Es bleibt zu erforschen, woher diese Vorstellungen und Bilder kommen. Alle drei hier beispielhaft genannten Topoi – Hitler als das absolute Böse, die Jüdinnen und Juden als Opfer und Objekt antisemitischer Vorstellungen und der Holocaust als „KZ-Kitsch“ (Ruth Klüger) – erscheinen mir jedenfalls nicht nur unter Jugendlichen weit verbreitet.

Die vieldiskutierte Herkunft der Lernenden spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Sowohl bei den gut informierten, historisch interessierten Jugendlichen als auch bei den Unwissenden finden sich Schülerinnen und Schüler mit klassisch österreichischen Nachnamen als auch solche, deren Namen auf „Migrationshintergrund“ schließen lassen. Insgesamt lässt sich aber feststellen, dass auch angesichts der Diversität der familiären Hintergründe der Lernenden die alten, nationalen Erzählungen über Geschichte nicht mehr greifen (Borries, 2009). Die Mythen der Nachkriegszeit – der „Geist der Lagerstraße“, die „treue Pflichterfüllung der Soldaten“ oder auch die Idee von Österreich als „erstem Opfer des Nationalsozialismus“ – sind bei Jugendlichen unabhängig von deren Hintergrund nicht mehr wirkmächtig.

Ein Aspekt, in dessen Zusammenhang der familiäre oder religiöse Hintergrund der Jugendlichen immer wieder in den Fokus gerät, ist die Frage nach Antisemitismus. In einer Studie zum Umgang mit Antisemitismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Berufsschule untersuchen Georg Lauss und Stefan Schmid-Heher auch die Verbreitung antisemitischer Vorbehalte (Lauss, 2020). Der Aussage, dass Juden zu viel Einfluss in Österreich hätten, stimmen demnach 19 Prozent der Jugendlichen zu, die zuhause Deutsch sprechen und 55 Prozent jener Jugendlichen, die zuhause Türkisch, Arabisch, Farsi oder eine andere Sprache sprechen, die auf einen muslimischen Hintergrund schließen lassen. Auch andere Studien, die sich nicht ausschließlich mit Lehrlingen beschäftigen, kommen auf ähnliche Ergebnisse. Antisemitismus tritt bei Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund meist in Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinenserinnen und Palästinensern auf. Beide Zahlen – sowohl die Akzeptanz antisemitischer Vorurteile bei mehrheitsösterreichischen Jugendlichen also auch bei Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund – sind besorgniserregend und ein Auftrag an Akteurinnen und Akteure der Politischen Bildung, sich verstärkt mit Ansätzen antisemitismuskritischer Bildungsarbeit auseinanderzusetzen (Peham, 2016, S. 104f.). Die Externalisierung des Problems unter dem Schlagwort „importierter Antisemitismus“ produziert hier jedoch ein mangelhaftes „Anderes“, demgegenüber man sich selbst besonders fortschrittlich fühlen kann. Vielmehr gilt es im Umgang mit Antisemitismus, der von migrantischen Jugendlichen artikuliert wird, auch deren eigene Erfahrungen mit Marginalisierung und Diskriminierung in den Blick zu nehmen. „Für den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus bedarf es einer Aufmerksamkeit dafür, dass mit antisemitischen Äußerungen Zugehörigkeiten und Erfahrungen der Nichtzugehörigkeit verhandelt werden, allerdings oft nicht explizit, sondern vermittelt über die Abwehr bestimmter Geschichtsdiskurse“ (Messerschmidt, 2009, S. 170).

Eine offene Form der Auseinandersetzung mit Geschichte, die ohne fertige Erzählungen und Lehren auskommt, sondern Gelegenheit zu Fragen, Interaktion und das Verhandeln gesellschaftlicher Werte beinhaltet, ist herausfordernd. Ein solcher Prozess erfordert kommunikative und emotionale Intelligenz, Flexibilität und Fingerspitzengefühl. Dabei ist zentral, dass Jugendliche ihre Meinungen und Ansichten einbringen dürfen und so auch problematische Aussagen besprochen werden können. Dennoch sollte eine Unterrichtseinheit zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust nicht zur Stunde über den Nahostkonflikt werden. Obwohl es wichtig ist, Zusammenhänge zwischen beiden Themen zu erkennen, ist es für das Gelingen einer jeden Unterrichtseinheit entscheidend, als Lehrperson einen klaren thematischen Rahmen vorzugeben. Das Thema Nationalsozialismus und Holocaust mit all seiner politischen und normativen Aufladung eignet sich aus Sicht eines Jugendlichen mit Abgrenzungsbedürfnissen sehr gut für Provokation und Profilierung in der Peergroup. Dem sollten Lehrende gelassen, deutlich, mit Respekt vor der Person, aber nicht vor der Aussage, entgegentreten. Wir müssen auch damit leben können, wenn eine Unterrichtseinheit zum Holocaust jahrelang eingeübte und lang tradierte Einstellungsmuster nicht von einem auf den anderen Tag ändert. Eine gelungene Doppelstunde in Politischer Bildung zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust kann jedoch sicher helfen, Nachdenkprozesse in Gang zu setzen.