MUSIK-KONZEPTE 191: Martin Smolka

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Aus der Reihe: Musik-Konzepte #191
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II Neues und Altes: Remix, Redream, Reflight (2000)


Notenbeispiel 3: Martin Smolka, Remix, Redream, Reflight für Orchester (2000), T. 27–36, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2000

Spannungen zwischen alt und neu, Vergangenheit und Gegenwart prägen auch Remix, Redream, Reflight für Orchester (2000), uraufgeführt vom BR-Symphonieorchester bei der Münchner musica viva. Zu Anfang werden schnell zwischen Registern, Instrumentengruppen und Lautstärken wechselnde Akkordfolgen wiederholt. Die Pattern geraten nur stellenweise durch Verkürzungen oder Einschübe aus dem Tritt. Im Kontrast dazu spielen Bläser und Streicher dann sanfte Moll-, Dur- und Quartsextakkorde, die analog zu den vorigen rhythmischen Verschiebungen durch zeitlich variable Sechsteltonskalen gleiten. Ab T. 21 steigen Flöten und Oboen – letztere ausdrücklich schrill wie ein Dudelsack – legato vom des zu des+ und d– bis zu d und weiter an (Notenbeispiel 3). Die Ausgangstonart b-Moll changiert fließend nach B-Dur. Gesetzte Harmonien geraten ins Fließen, gehen verloren, werden umgeschmolzen, wiedergefunden oder überhaupt neu gebildet. Die Harmonik, Dynamik, Lage und Instrumentation der Akkorde erinnert an bekannte klassisch-romantische Musik. Man hört eine alte Schönheit, deren Magie und metaphorischer Wechsel von Moll und Dur direkt berühren und zugleich als unwiederbringlich vergangen erfahren werden, weil sie zerfließen wie die schmelzenden Uhren auf Gemälden von Salvador Dalí. Laut Smolkas Werkkommentar handelt es sich um Schlussakkorde aus bekannten Orchesterstücken, vor allem von Berlioz, Dvořák, Strawinsky und Schostakowitsch, namentlich Mozarts g-Moll-Sinfonie KV 550, das »Adagietto« aus Mahlers 5. Sinfonie und den a-Moll-Schlussakkord des »Allegretto« von Beethovens 7. Sinfonie. Die aus ihren Zusammenhängen gerissenen Zitate werden wie beim Computersampling neu remixt, montiert, geloopt und verstimmt. Während der schnellen Pattern bleiben sie komplett unkenntlich, lassen während der langsamen Passagen aber »die nostalgische Reflexion des Originals« anklingen.10


Notenbeispiel 4: Martin Smolka, Remix, Redream, Reflight für Orchester (2000), T. 127–136, nur Streicher, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2000

Nach einem ersten Rückgriff auf die schnellen Repetitionen des Anfangs beginnt T. 131 ein neuer Abschnitt »appassionato« (Notenbeispiel 4). Alle Streicher spielen f-unisono eine schnell aufsteigende Geste »espressivo molto« aus Quinte cg, nachfolgendem Viertelton as–, übermäßigem Tritonus d und vierteltönig verengter kleiner Terz f–. Tonales Zentrum ist zunächst ein mikrotonal geschärftes f-Moll. Dann kreisen Erweiterungen des Aufschwungs um c-Moll mit dramatischen Abbrüchen und Generalpausen. Die Melodie ist Smolkas eigene Erfindung, weckt aber sofort Erinnerungen an andere Musik. Wie im Werktitel angekündigt handelt es sich um das »Redream« eines romantischen Topos wie beispielsweise vom solistischen Anfang der Violinen im Adagio-Kopfsatz von Mahlers unvollendeter 10. Sinfonie. Smolka gestattet sich »ein so altmodisches romantisches Ausdrucksmittel wie den expressiven Einklang symphonischer Streicher«.11 Er komponiert unmittelbar expressive Musik und zugleich im Wissen um deren historische Verwandtschaft ›Musik über Musik‹. Eine zweite Reprise der repetitiven Anfangsakkorde ab T. 187 verkehrt insofern die Verhältnisse, als die Pattern jetzt nicht mehr die Regel bilden, sondern die Ausnahme innerhalb eines ständig variierten Gefüges, in dem ab T. 231 auch die expressive Streicher-Melodie wiederkehrt. Der letzte Abschnitt (T. 288–381) besteht dann ausschließlich aus Rückblick – im Werktitel als »Reflight« bezeichnet. Bestimmendes Element sind hier obligate Tonpendel, die zuvor nur vereinzelt auftraten und jetzt um a-Moll zentriert durch alle Register und Instrumente wandern. Dynamisiert wird diese in sich bewegte, äußerlich jedoch statische Textur durch schnell vom pp zum fff anschwellende Repetitionsfolgen der Violinen, die sich teils mikrotonal überlagern und endlich in den aus Beethovens »Allegretto« stammenden a-Moll-Schlussakkord auslaufen. Wie zum Anfangsakkord scheppert dazu blechern ein Peking-Opern-Gong, der während des gesamten Stücks hier zum zweiten Mal seinen verbeult wirkenden Klang hören lässt, als wollte er – wie der Schellenkranz in Mahlers 4. Sinfonie – die dazwischen beschworene romantische Kunstmusiktradition in ironisierende Anführungszeichen setzen, weil alles nur Oper und nicht so ernst gemeint gewesen sei: »Typical for my work […] is to juxtapose against these moods oposite expressions like furore or grotesque.«12 Im Werkkommentar zu Remix, Redream, Reflight gesteht Smolka:

»Ehrlich gesagt, ich bin der zeitgenössischen Musik schon etwas überdrüssig geworden. Und so habe ich versucht, ein Problem zu lösen, das an die Rätsel in Märchen erinnert: Wie kann man Komponist bleiben und weiterhin Musikwerke schreiben, dabei aber alles andere produzieren als zeitgenössische oder Neue Musik?«13

Indem sich Smolka gegen linearen Fortschritt wendet, plädiert er wie einst der junge Wolfgang Rihm gegen ein auf Vermeidungsstrategien basierendes »exklusives« und für ein »inklusives Komponieren«, das vergangene Entwicklungen einbezieht.14 Tonale Harmonik, diatonische Melodik und nicht durch die Popindustrie korrumpierte authentische Volks- und Bluesmusik mit dialektaler Färbung und mikrotonalen Abweichungen verwendet er beispielsweise auch in Walden, the Destiller of Celestial Dews für gemischten Chor und Schlagzeug (2000), uraufgeführt vom SWR Vokalensemble bei den Donaueschinger Musiktagen. Dabei versteht er die »diatonic melodies with ›blue‹ notes and tonal triads detuned by microtones as tool of painful expressivity«.15 Die vertonten Textstellen aus Henry David Thoreaus Walden, or Life in the Woods (1854) bringen Smolkas Liebe zur Natur und deren Schönheit zum Ausdruck sowie seine Kritik an Naturausbeutung, Umweltzerstörung und Skepsis gegenüber Moderne, Zivilisation und Urbanität. In Oh, my admired C minor für Ensemble (2002) huldigt er dem c-Moll-Dreiklang, dessen Terz er vierteltönig zwischen Dur und Moll changieren lässt und dessen Quinte er teils zur verkleinerten Sexte erhöht, sodass mikrotonale Aufrauungen und Reibungen – ähnlich der Musik von Giacinto Scelsi – immer wieder leittönige Spannungen entfalten wie in tonalem Zusammenhang sonst große Septimen oder phrygische kleine Sekunden. Entscheidend für Smolka ist dabei die Gleichzeitigkeit von Fremd- und Vertrautheit der Klänge: »What I enjoyed most was a certain duality: sounds that were simultaneously unheard of and familiar. Familiar and therefore evocative, awakening deep memories or dream-like fantasy.«16

III Klangnatur und Naturklang: Semplice (2006)

Semplice für neue und alte Instrumente (2006) schrieb Smolka für das auf Musik des 20. und 21. Jahrhunderts spezialisierte Freiburger ensemble recherche und das auf Musik des 17. und 18. Jahrhunderts mit historischen Instrumenten konzentrierte Freiburger Barockorchester. Während das erste Ensemble in der modernen Grundstimmung Kammerton a′ = 440 Hz spielt, ist das zweite mitteltönig auf a′ = 415 Hz gestimmt, was dem gis′ in moderner Intonation entspricht. Uraufgeführt wurde Semplice unter Leitung von Lukas Vis bei den Donaueschinger Musiktagen 2006 neben weiteren Werken für dieselben zwei Ensembles: Chris Newmans Piano Concerto No. 2Part 2 (2006) und Wolfgang Mitterers Inwendig losgelöst.17 In der Partitur erscheint das moderne Ensemble I oberhalb des Ensembles II für historische Aufführungspraxis. Sämtliche Tonhöhen sind so notiert, als wären alle Instrumente auf 440 Hz gestimmt. In den Einzelstimmen des tiefer intonierten Barockensembles sind die Tonhöhen daher alle einen Halbton höher notiert, damit sie dann wie in der Partitur klingen. Was auf den ersten Blick einheitlich erscheint, verdankt sich in Wirklichkeit Instrumenten verschiedener Stimmung, Bau- und Spielweise. Bei den zwei Flöten handelt es sich um eine moderne Querflöte in Metallbauweise (auch Pikkolo und Bassflöte) sowie eine barocke Traversflöte aus Holz ohne Klappen. Das Solistenensemble für neue Musik zeigt epochentypische Besonderheiten in Klarinette, präpariertem Klavier und umfangreichem Schlagzeug mit Vibrafon, Röhrenglocken, Steel Drum und Gongs. Dagegen verfügt das Barock-Consort über je zwei Barockoboen und Naturhörner sowie über Fagott, Cembalo, Chitarrone, vier-, drei- und zweifach besetzte hohe Streicher, ein Violoncello und einen Kontrabass, jeweils bespielt mit Barockbögen auf Darm- statt Stahl- oder Kunststoffsaiten. Smolka möchte die beiden Ensembles verbinden und zugleich ihre individuelle Klangkultur erfahrbar machen. Im Werkkommentar schreibt er: »Old instruments should keep their tone culture and their typical baroque articulation, as far as this musical material makes it possible.«

Satz I des sechssätzigen Werks zeigt die für Smolkas Komponieren typische Kombination aus Einfachheit und Komplexität sowie von phänomenalem Zeigen und sprechendem Ausdruck. Während der ersten 20 Takte bestehen sämtliche Einsätze nur aus kleinen Terzen eg in verschiedener Oktavlage, Instrumentation, Dynamik, Dauer und Spielweise. Einst beleuchtete Franz Schubert wiederkehrende Themen durch immer andere Harmonisierungen, nun macht Smolka dies mit einem einzigen Intervall. Statt Variationen über ein Thema komponiert er solche über eine Terz. Der tonalen Konformität eines reduzierten Tonvorrats stellt er einen umso größeren Reichtum an nuancierten klanglichen Individualitäten gegenüber (Notenbeispiel 5). Im langsamem 4/4-Metrum schlägt zunächst der Cembalist die Terz e′′′ – g′′′ mp an. Während die Töne drei Viertel lang verklingen, kommen Violine und Viola von Ensemble I mit derselben Terz eine Oktave tiefer pp col legno battuto hinzu und schlägt der Perkussionist auf zwei entsprechend gestimmte Gongs. So reichen sich gleich zu Anfang typische Instrumente und Spieltechniken der neuen Musik und des Barock unter ausdrücklicher Wahrung ihrer Eigenart die Hand. Nach einer Generalpause beginnt in T. 3 abermals das Cembalo mit der Mollterz, nun jedoch piano und länger gehalten. Die Basslaute Chitarrone – auch Theorbe genannt – folgt mp mit der Oktavspreizung zur Dezime e′ – g′′, zu der sich aus Ensemble I Pizzikati auf den Saiten des Innenklaviers gesellen. Betonte T. 1 die Unterschiede der Aktionen, unterstreichen nun T. 3 und 5 die Verwandtschaft der Saiteninstrumente: Gezupft erinnert der moderne Konzertflügel an das Cembalo und mit der Oktavspreizung an die Theorbe. Deutliche Farb- und Intonationswechsel setzen dann Röhrenglocken und die mit Schrauben präparierten Klaviersaiten e und g. Außerdem bewirken modifizierte Zupfstellen im Innenklavier andere Klangfarben.

 

Notenbeispiel 5: Martin Smolka, Semplice für neue und alte Instrumente (2006), T. 1–11, ohne Streicher von Ensemble II, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2006


Notenbeispiel 6: Martin Smolka, Semplice für neue und alte Instrumente (2006), T. 62–71, nur Ensemble I und Flöte von Ensemble II, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2006

Später führt die Instrumentation der Terz mit Vibrafon, Gong, Röhrenglocke und Steel Drum zu starken Interferenzen, sodass sich die Frage stellt, ob es sich noch um dieselben Töne handelt oder bereits um verschiedene? Schließlich werden die Anschläge einer Triangel durch Eintauchen in Wasser abgesenkt und auf längsseitig mit Glas bestrichener Klaviersaite glissandierende Effekte erzeugt. In T. 20 kommen mit der im Innenklavier gezupften Dezime Ac′ definitiv zwei neue Tonhöhen hinzu, die sich mit den bisherigen Terzen zum ambivalenten a-Moll-Septakkord oder C-Dur-Sixt-ajoutée verbinden. Der erste liegende Klang ega der Streicher entspricht dem harmonikal schwebenden Kernmotiv des Schlussabschnitts von Mahlers Lied von der Erde. Ein vierteltönig vertieftes g– der Geige T. 29 sowie die Töne h und d im Vibrafon T. 34 lassen weitere Akkorde aufblitzen. Behutsam erweitert Smolka das Geschehen zum üblichen musikalischen Tonraum. Doch im gleichen Moment verschiebt er die Kategorien von Kunst und Natur. Demonstrierte er bisher die spezifische Natur der Instrumentalklänge, instrumentiert er nun ab T. 50 ein künstliches Tableau klingender Natur, namentlich ein flirrendes ›Waldweben‹ mit leise tröpfelndem Regenmacher, sanften ppp-Tremoli eines Holzstabs zwischen zwei Klaviersaiten, murmelndem Bisbigliando der Klarinette und Nachtigallen-Gezwitscher, das der Schlagzeuger auf einem mit Wasser gefüllten Pfeifchen hervorbringt (Notenbeispiel 6). Dazu blasen die Naturhörner mit dem achten und elften Oberton rein intonierte Naturterzen eg wie fernen Jagdschall »lontano« und gehen zwischen den Flöten gemäß historischer Hoquetus-Technik lockende Vogelrufe hin und her. Die Querflöte intoniert dabei viertel- oder sechsteltönig tiefer als die Traversflöte. Das tiefere g2– verwandelt die bisherige Terz eg schrittweise zur Terz fisa, mit deren wahlweise weiter oder enger intonierten Rufen die Flöten den ersten Teil (T. 1–86) beenden.

Die Szenerie erinnert an Mahlers Anweisung »Wie ein Naturlaut« zur Einleitung seiner 1. Sinfonie, die zwischen 1885 und 1888 in Prag entstand. Wie in Smolkas Prager Tableau Rain, a window handelt es sich nicht um wirkliche Naturklänge, sondern allenfalls um solche, die Natur kunstvoll imitieren oder denen der Topos des Natürlichen durch jahrhundertelangen Gebrauch zugewachsen ist. So gilt auch für Smolkas künstliche Natur, was Theodor W. Adorno im Hinblick auf Mahlers Sinfonie schrieb: »Die Natur, Gegenbild menschlicher Gewaltherrschaft, ist selber deformiert, solange Mangel und Gewalt ihr angetan werden. […] Natur, versprengt in Kunst, wirkt allemal unnatürlich.«18 Smolka verstärkt die Unwirklichkeit des ›Naturlauts‹, indem er seine imaginäre ›Szene am Bach‹ wieder in die anfängliche Natur des Klangs zurückkippen lässt, als habe er das Fenster seiner Komposition kurz geöffnet und nun wieder geschlossen. Die modifizierte Reprise (T. 87–165) beginnt in erhöhtem Tempo Viertel = 72 mit der obligaten e-Moll-Terz. Die zuweilen als ›naturgegeben‹ ideologisierte Tonalität wird abermals beschworen, doch schnell durch Viertel- und Sechsteltöne zu mikrotonalen Kleinclustern ›denaturiert‹. Erst gegen Ende des Satzes reduziert sich das Geschehen erneut auf die Anfangsterz. Das kitschig übersteigerte Gezwitscher des Nachtigallen-Lockers hat dann – wie auch am Ende des Finalsatzes VI – das letzte Wort, als lache es über die uneigentliche Natur des Stücks.

Wie gegenüber Smolkas artifiziellen ›Naturlauten‹ empfiehlt sich Vorsicht auch gegenüber der vordergründig proklamierten Simplizität. Die höchst differenzierte Behandlung der Moll-Terz ist alles andere denn einfach, obgleich die Konsonanz neo-tonalen Ausprägungen der ›New Simplicity‹ zu entsprechen scheint. Eher auf ›New Complexity‹ deuten dagegen die mikrologisch feinen Instrumentations- und Intonationswechsel sowie die Verklammerung der insgesamt sechs jeweils materiell und strukturell profilierten Sätze untereinander und mit anderen Werken Smolkas. Die stattliche Dauer von einer Dreiviertelstunde deutet ebenfalls mehr auf einen zyklischen Gesamtkomplex denn auf musikalische Schlichtheit. Satz II wiederholt – ähnlich dem Anfang von Remix, Redream, Reflight – als Pattern versetzte ff-Akkorde und Cluster, die dann abrupt durch diatonische Fünftonklänge ppp ersetzt werden. Satz III »aeolian harp« besteht aus natürlichen Flageoletts der Streicher, Saiteninstrumente sowie mit Bogen gestrichenen Vibrafonplatten und Crotales. Satz IV greift die Tutti-Cluster von Satz II im Wechsel mit chromatischen Sekunden auf, die sich zu einem Lamento über tonaler Quintfallsequenz verketten. Satz V besteht aus Tonbeugungen, angefangen bei geringen Intonationsschwankungen und Trillern bis zu mehroktavigen Glissandi, die von wuchtigen Tutti-Clustern wie in Satz II und IV unterbrochen werden. Der Schlusssatz VI greift dann die e-Moll-Terz und ›Naturlaute‹ des Kopfsatzes wieder auf. Satz IV und VI verbindet außerdem dieselbe rasch aufsteigende Melodie, hier in Flöte und Violinen »semplice« (S. 46 ff.), dort in den Tutti-Violinen »angelico« (S. 85 f.). Der über Quinte, Sexte und Dezime zur Undezime sich aufschwingende Sehnsuchtsgesang durchzieht mehr oder minder abgewandelt wie eine ›Idée fixe‹ auch andere Werke Smolkas, etwa Rain, a window (T. 471), Remix, Redream, Reflight (»appassionato« T. 131 ff., Notenbeispiel 4) sowie Wooden Clouds für Ensemble und Partch-Instrumente (2017/18).

IV Nostalgie und Melancholie: Blue Bells or Bell Blues

Smolka ist weder Avantgardist radikal neuer Klangwelten noch Restaurateur alter Schönheitsideale. Jenseits doktrinärer Innovation und naiver Konservation pflegt er einen ebenso sachlich reflektierten wie nostalgisch-schwärmerischen Umgang mit den konkret akustischen und historisch-auratischen Eigenschaften des von ihm verwendeten Klangmaterials. Als Nostalgiker ist er kein ewig Gestriger, der sich sentimental etwas Verlorenes zurückträumt, sondern vielmehr Dialektiker, der um die Opfer des Fortschritts und die unwiederbringliche Geschichtlichkeit verlorener Schönheit weiß. Die nostalgische Sehnsucht nach etwas Vergangenem ist ja gerade deswegen so schmerzlich, weil sie sich vergegenwärtigt, dass sie auf etwas Unerfüllbares gerichtet ist. Ausdrücklich thematisiert Smolka dieses Entbehren in Tesknice/Nostalgia für Orchester (2004) und Slone i smutne/Salz und Traurigkeit für gemischten Chor (2006) auf einen Text von Tadeusz Różewicz.19 Eine nostalgische Suche nach der verlorenen Kindheit verrät auch der Einsatz von Spielzeugen im zurückgezogenen Ibabu III (1992) und von Spielzeuginstrumenten in Rent a Ricercar für Ensemble (1993), wo das Motiv der Suche schon im Begriff ›Ricercar‹ anklingt. In Lullaby für Posaune und Gitarre solo und Instrumentalensemble (1996/97) kündet ein altes mechanisches Grammofon von längst vergangenen Tagen. Nostalgie wecken in Smolkas Werken insbesondere Zitate und Allusionen historischer Musik: »Ein musikalisches Element, das hauptsächlich mit seiner dynamischen Energie wirkt, kann gleichzeitig Nostalgie hervorrufen, weil es tatsächlich eine Erinnerung ist.«20 Vielleicht kommt man dem Nostalgischen von Smolkas Musik auch durch die tschechische Sprache auf die Spur, die für diese Seelenlage ein Wort bereithält, das Milan Kundera folgendermaßen beschreibt:

»Lítost ist ein tschechisches Wort, das sich nicht in andere Sprachen übersetzen läßt. Es bezeichnet ein unermeßliches Gefühl, ähnlich dem Ton einer auseinandergezogenen Harmonika, ein Gefühl also, das die Synthese mehrerer Gefühle ist: Trauer, Mitleid, Selbstvorwurf und Wehmut.«21

In Smolkas Musik zeigt sich Nostalgie bzw. Lítost vor allem in den vielen Abweichungen vom diatonisch-chromatischen System, die sich wie Bitterkeit, Schmerz, Herbst und dunkle Schatten auf tonale Harmonien und Melodien legen.

Ein weiteres Stilmerkmal von Smolkas Musik sind die aus mehreren Tönen, Akkorden, Instrumenten und Stimmgruppen gebildeten repetitiven Patterns, die entweder wiederholt oder minimal variiert werden, sodass sich die Musik immer wieder in Loops verfängt und plötzlich jede dynamische Gerichtetheit verliert, um stattdessen wie paralysiert auf der Stelle zu kreisen. Bei allem gestisch-dynamischen Drängen resultiert rasender Stillstand, die manische Kehrseite depressiver Hemmung. Smolkas Werke sind indes nicht nur persönliche künstlerische Protokolle psychischer Verfassungen, sondern allgemeiner Spiegel gesellschaftlichen Bewusstseins und des perspektivlos in sich gefangenen ›Posthistoire‹. Die hoffnungsvolle Euphorie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 wich spätestens seit den Anschlägen des 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center existenziellen Ängsten vor Terrorismus, Kriegen, Diktaturen, Demokratieverlust, Globalisierung, Digitalisierung, Klimakatastrophe … So wie das Barockzeitalter die schwarzgallige ›malenconia‹ mit Kugeln, Kreisen und den Ringen des Saturn symbolisierte, sind auch Smolkas kreisende Pattern ein Anzeichen von Melancholie.22 Und so wie die Romantiker Melancholie im transitorischen Charakter der Musik erkannten, die immer nur jetzt, jetzt, jetzt sagt, um ihre Vollendung erst in dem Moment zu erfahren, in dem sie bereits verklungen ist, also paradoxerweise eben gerade nicht mehr ist, sondern aus und vorbei, durchströmt auch Smolkas Musik ein schmerzliches »Ungleichgewicht von Sehnsucht auf Erfüllung gegenüber der persönlich empfundenen (mehr oder minder verlorenen) Hoffnung auf Zielerreichung«.23 Glück erscheint bei ihm – wie bei Schubert, Berlioz oder Mahler – lediglich als vergangenes oder abwesendes, nicht als erfüllt oder real erfüllbar, sondern bloß als Vorstellungsinhalt von etwas Vermisstem. Dieses unglückliche Bewusstsein brachte Georg Philipp Schmidt in seinem von Schubert in Der Wanderer op. 4,1 vertonten Gedicht Des Fremdlings Abschied (1808) auf den epochentypisch Leitvers: »Dort, wo du nicht bist, ist das Glück«.

 

Notenbeispiel 7: Martin Smolka, Blue Bells or Bell Blues für Orchester (2011), T. 234–243, © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2011

Eine melancholische Klanglandschaft ist auch Smolkas Blue Bells or Bell Blues für Orchester (2011). Der Werktitel benennt das Anliegen, den in Farbe und Tonhöhe modulierten Klang schwingender Kirchenglocken auf Orchesterklänge zu übertragen. Zudem deutet »Blues« auf einen getrübten Gemütszustand und die Farbe »Blue« auf den Umstand, dass Smolka sein Stück teilweise während eines zweimonatigen Aufenthalts am Meer komponierte, dessen bewegte Oberfläche er – laut Werkkommentar – wie gebannt betrachtete. Das Orchesterwerk beginnt mit einer Klangfläche »wie ein Naturlaut«. Vor dem gekräuselten Hintergrund durchlaufender Tonpendel a′′ – gis′′ der ersten Harfe spielen die Violinen wellenartig wiegende Motive a′′ – gis′′ – h′′, die sich gegenüber den leuchtenden D-Dur-Naturtonflageoletts der tiefen Streicher doppeldominantisch öffnen, die geweckte Spannung und Erwartung jedoch nie auf- bzw. einlösen. Dieselben Töne erscheinen als glockenartig ausschwingende Anschläge von Vibrafon und Pizzikati zweier Harfen. Nach dem ebenso ruhe- wie erwartungsvollen Anfang überlagern die Streicher mikrotonal versetzte Dreiklänge in schneller Folge zu wellenartig an- und wieder abschwellenden bitonalen Akkorden samt Naturton-Dreiklängen der vier Hörner. Eine zweite clusterartige Verdichtung mündet in einen langen Mittelteil »Calmo« Viertel = 60 (T. 180–303). Sämtliche Streicher bilden hier einen stets minimal variierten Hintergrund, dessen rhythmische und mikrotonale Differenzierungen wie die Wellen des Meeres eine äußerlich graue Fläche ergeben (Notenbeispiel 7). Am Rande des Stillstands entsteht eine dumpf brütende Stimmung wie in Andrei Tarkowskis düsteren Endzeit-Filmen Solaris (1972), Stalker (1978/79) oder Nostalghia (1983).

In den dunklen »Bell Blues« der Streicher mischen sich die »Blue Bells« vierteltönig versetzter a-Moll- und F-Dur-Dreiklänge von Klavier und Harfe. Die mikrotonal verstimmten Akkorde ergeben disharmonische Klänge wie von gesprungenen Glocken – auch dies ein Symbol der ›malenconia‹. Analog den ›Blue Notes‹ im Jazz lassen dazu die Bläser liegende Akkorde immer wieder einen Viertelton absacken und dann zurückgleiten. Das Resultat sind obertonreiche Tonbeugungen wie bei schwingenden Kirchenglocken, nur wie unter einem akustischen Vergrößerungsglas verlangsamt (Notenbeispiel 7). Die Akkorde entgleiten und welken, um sich ebenso plötzlich wieder aufzurichten und neu zu erblühen. Ebenso setzen Bluessängerinnen oder Sänger zuweilen Terzen, Quinten oder Septimen eines Akkords zu tief an, um sie allmählich hochzuziehen.24 Den gleichen Effekt haben a-Moll-Akkorde der vier Schlagzeuger, die Röhrenglocken nach dem Anschlag in Wasser tauchen. Smolka verbindet diese Verstimmungen und Mikrotöne mit einer besonderen Expressivität: »Ich fühle darin einen besonderen Ausdruck von Schmerz, Bitterkeit, Sehnsucht, Tränen«.25 Nach einer katastrophischen Kulmination fff kehrt am Ende die sanft gewellte Klangfläche des Anfangs wieder, als sei in der Zwischenzeit nichts geschehen. Das zu Beginn hoffnungsvoll nach oben sich öffnende Dreitonmotiv a′′ – gis′′ – h′′ wird lediglich um seinen letzten Ton verkürzt. Die winzige Änderung im Detail bewirkt eine tiefgreifende Wendung des Ganzen. Denn die erwartungsvoll geöffnete Spannung verkehrt sich nun zum klagenden Seufzer der chromatisch fallenden Sekunde. Die letzte Glocke – das Totenglöckchen? – schwingt aus und verstummt. Das Ende ist undramatisch, ruhig, resignativ. Liegen bleiben schwebende Dreitonklänge ega wie in Satz I von Semplice und dem finalen »Der Abschied« von Mahlers Lied von der Erde, und zwar wie dort in der Instrumentation mit je zwei Flöten, Harfen und Celesta: eine von Herbst, Ende und Tod umflorte, nostalgische Schönheit. Die allerletzten p-Anschläge schwingen dann sanft aus, »until complete silence«. Hoffnung besteht wohl nur noch für die Natur jenseits der Menschen – »The rest is silence«.

1 Friedrich Nietzsche, »Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller«, Fragment 215, in: ders., Menschliches Allzumenschliches (1878), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München – Berlin 1988, S. 175. — 2 Karlheinz Stockhausen, »Arbeitsbericht 1953: Die Entstehung der Elektronischen Musik«, in: ders., Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik. Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, Bd. 1, hrsg. von Dieter Schnebel, Köln 1963, S. 42. — 3 Martin Smolka, »Manifesty«, in: příloha Literárních novinNa hudbu, 11/1996, S. 3-4, zit. nach Reinhard Schulz, »Der umgestimmte Komponist – Der Prager Komponist Martin Smolka«, in: MusikTexte 97, Köln 2003, S. 83. — 4 Martin Smolka, »Ungewöhnliches Ausdruckspotential. Meine Erfahrungen mit Mikrotönen«, in: MusikTexte 97, Köln 2003, S. 87. — 5 Ian Mikyska/Adrián Demoč, »An Interview with Martin Smolka«, in: Czech Music Quaterly, 2020/3. — 6 Vgl. Smolka, »Ungewöhnliches Ausdruckspotential« (Anm. 4), S. 88, und Schulz, »Der umgestimmte Komponist« (Anm. 3), S. 83. — 7 Ganz ähnlich transkribiert auch die gleichaltrige deutsche Komponistin Carola Bauckholt (*1959) Alltagsklänge für herkömmliche Instrumente. — 8 Smolka, »Ungewöhnliches Ausdruckspotential« (Anm. 4), S. 91. — 9 In Lorch pour lorch für Orchester (mit zwölf Posaunen) (1990) transkribierte Smolka die Klänge eines Rangierbahnhofs. Vgl. ebd., S. 89. — 10 Martin Smolka, »Zitat, Musik über Musik«, verfasst im Rahmen von Smolkas Habilitationsschrift an der Musikfakultät JAMU Brno (2007), S. 5, online unter: www.martinsmolka.com/art/cytat.html [letzter Zugriff: 7.12.2020]. — 11 Smolka, »Ungewöhnliches Ausdruckspotential« (Anm. 4), S. 97 f. — 12 Martin Smolka in einer E-Mail an den Autor vom 2.10.2020. — 13 Martin Smolka, Werkkommentar zu Remix, Redream, Reflight, online unter: https://www.breitkopf.com/work/8027/remix-redream-reflight [letzter Zugriff: 7.12.2020]. — 14 Wolfgang Rihm, »Der geschockte Komponist« (1978), in: ders., ausgesprochenSchriften und Gespräche, Bd. 1, hrsg. von Ulrich Mosch, Mainz 1998, S. 51. — 15 Martin Smolka in einer an den Autor weitergeleiteten E-Mail an Frank Reinisch (Breitkopf & Härtel) vom 13.5.2020. — 16 Mikyska/Demoč, »An Interview with Martin Smolka« (Anm. 5), o. S. — 17 Moderne und historische Instrumente kombinierte Smolka auch in zwei älteren Werken: E-Gitarre und Gambe in Nocturne für Kammerensemble (1989) sowie Synthesizer und Dudelsack im zurückgezogenen Csardas für Solo-Schlagzeug und fünf Ensemblegruppen (1995). Die Verwendung historischer Instrumente, Stimmungssysteme und Mikrointervalle steht in einem größeren Zusammenhang der Wiederentdeckung alter Musik seit den 1920er Jahren. Vgl. Stefan Drees: »›… mit ungewohnten Klängen …‹. Bedingungen und Motivationen der kompositorischen Aneignung historischer Musikinstrumente«, in: Die Tonkunst 9 (2015), H. 3, S. 284–296. — 18 Theodor W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik (1960), in: ders., Die musikalischen Monographien, Frankfurt/M. 1971, S. 164 f. — 19 Vgl. Reinhard Schulz, »Das einfach Schöne. Zu Martin Smolkas Chorkomposition ›Slone y smutne‹«, in: Programmheft des musica viva-Konzerts am 23.2.2007, S. 9–12. — 20 Smolka, »Zitat, Musik über Musik« (Anm. 10), S. 2. — 21 Milan Kundera, Das Buch vom Lachen und Vergessen (1978), aus dem Tschechischen von Franz Peter Kümmel, Frankfurt/M. 1983, S. 160. — 22 In Ausnahmen lädt Smolka Loops auch programmatisch auf, etwa bei den quietschenden Fenstern und Türen von Rain, a window sowie im 2. Satz »Montes« des Psalmus 114 für Chor und Orchester (2009), wo der springende Hoquetus zwischen Frauen- und Männerstimmen zum Vers »Die Berge hüpften wie Widder« die hüpfende Freude über die Allmacht Gottes, das Wunder des Exodus aus Ägypten und den Einzug des Volks Israel ins gelobte Land versinnbildlicht. — 23 Roland Lambrecht, Der Geist der Melancholie. Eine Herausforderung philosophischer Reflexion, München 1996, S. 242. — 24 Vgl. Smolka, »Ungewöhnliches Ausdruckspotential« (Anm. 4), S. 87. — 25 Ebd.