Milieusensible Pastoral

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2 Glaubenskommunikation im nachmodernen,
postchristlichen Horizont – Herausforderungen

Wenn die hier nur skizzierten Rahmenbedingungen zutreffen, ergeben sich nahezu zwangsläufig die Herausforderungen, vor die sich eine – katholisch gesprochen – „missionarische Pastoral“ heute gestellt sieht:

a) Wo alle Gewinner sind, verlieren Medaillen ihren Sinn

Um ein aktuelles Bild aus der Welt des Sports zu gebrauchen: wo – aus Gründen der Gerechtigkeit etwa im Behindertensport, z.B. bei den Paralympics – sehr viele Klassen angeboten werden und dementsprechend viele Medaillen gewonnen werden können, da gibt es zwar immer mehr „Gerechtigkeit“, mit der man den individuellen Gegebenheiten der Startenden entspricht; da verlieren aber eben auch die Medaillen immer mehr an Wert. „Wo alle Gewinner sind, da verlieren Medaillen ihren Sinn.“ Erkenntnistheoretisch formuliert: Wo alle recht haben, da hat es keine Bedeutung mehr, recht zu haben. Wo jedes Individuum absolute Bedeutung hat und schon aus dem Grund das, was es denkt, sagt, vertritt, die Wahrheit, oder präziser: eine Wahrheit ist, das Prädikat „Wahrheit“ verdient, wo es demzufolge viele Wahrheiten gibt, da verliert die Wahrheit ihre Bedeutung. Das gilt im doppelten Sinne des Wortes: Da meint Wahrheit nicht mehr den einen, allen vorgegebenen Horizont, der den individuellen Wahrheitsansprüchen vorausliegt; da ist die eine Wahrheit pluralisiert zur Fülle individueller Wahrheiten. Diese meine individuelle Wahrheit bedeutet dann aber auch nichts mehr, außer für mich. Aus traditioneller Perspektive muss man dann freilich fragen: Was hat eine Wahrheit für eine Bedeutung, die bloß Wahrheit für mich ist?

Hier stehen wir vor einer ersten Herausforderung, die sich ergibt, wenn wir uns als Christen und Kirchen in einem postmodernen, durch einen programmatischen Wahrheitspluralismus bestimmten Kontext bewegen. Wahrheit kann in einem solchen Zusammenhang nur als etwas gedacht werden, das plural ist. Traditionelle Wahrheitsansprüche versanden hier aber einfach. Sie bedeuten nichts mehr. Natürlich dürfen auch Christen und Kirchen ihre Wahrheit haben; sie müssen gar nicht modern und bescheiden von Wahrheitsansprüchen reden, die sie im kritischen Diskurs der Vernünftigen zur Geltung bringen möchten. Sie haben ja das Recht auf ihre Wahrheit. Aber es ist eben – leider? – nur ihre Wahrheit. Kommunikation des Evangeliums? Der einen guten Botschaft?

b) Behauptung der einen Wahrheit als christlicher Wille zur Macht und als Versuch, sich religiös durchzusetzen

Es gibt natürlich noch eine Alternative. Wir verweigern uns einfach dem Wahrheitspluralismus. Das sieht dann so aus: Wir proklamieren in einem postmodernen Zusammenhang die Wahrheit des christlichen Glaubens, und zunächst hat niemand damit Probleme. Auch Christen, selbst Kirchen dürfen ja ihre Wahrheit haben. Warum denn nicht? So viel Toleranz muss sein. Wichtig ist nur, dass niemand dem anderen seine Wahrheit aufdrängt. Wir bleiben aber bei der uns zugestandenen, „individuellen“ Wahrheit nicht stehen, sondern setzen nach, indem wir insistieren: „Die Wahrheit des christlichen Glaubens ist nicht nur unsere Wahrheit, sie ist die Wahrheit für alle.“ Dieser überindividuelle, allgemeine Geltungsanspruch kann in einem postmodernen Kontext freilich nicht mehr verstanden, er kann nur noch missverstanden werden als Versuch der Selbstbehauptung und der Dominanz einer Position über andere. Selbstverständliche mentale Voraussetzung ist ja: Es gibt nicht nur eine Wahrheit, es gibt viele. In diesem erkenntnistheoretischen Rahmen wird individuelle Wahrheit selbstverständlich zugestanden. Ebenso selbstverständlich gilt aber auch: Wenn es nur individuelle Wahrheiten gibt und dann einer seine – individuelle – Wahrheit als die Wahrheit für alle behauptet, ist das nichts anderes als der Versuch der Selbstbehauptung, der Selbstdurchsetzung einer religiösen Position gegenüber anderen. Behauptung der einen Wahrheit degeneriert in einem postmodernen Kontext zur Selbstbehauptung über eine Wahrheit, die doch bloß eine von vielen ist.

Hier reagieren Zeitgenossen freilich besonders sensibel, weil sie diesen Willen zur Dominanz kennen und sehr viele Menschen sehr darunter gelitten haben, dass christliche Institutionen ihnen das richtige Leben und Denken – lange Zeit im Verein mit staatlicher Macht – vorgeschrieben haben. Kommunikation des Evangeliums als der besten Botschaft, die dem Menschen widerfahren kann?

Um nicht missverstanden zu werden: Die Missverständnisse, denen ein religiöser Wahrheitsanspruch notwendig begegnet, sind kein Grund, auf solche Geltungsansprüche von vornherein zu verzichten. Sie sind aber sehr wohl ein Grund zu fragen, wie sie so artikuliert und „zur Geltung“ gebracht werden können, dass sie nicht von vornherein als Dominanzversuche eingeordnet werden.

c) Exkurs: Postmoderne Aversion gegen universale, exklusive und absolute Geltungsansprüche

Im postmodernen Kontext vollzieht sich demgemäß Religionskritik nahezu nicht mehr als Sachkritik an bestimmten inhaltlichen Positionen. Auch Jungfrauengeburt und leibliche Auferstehung sind keine Probleme mehr. Es darf ja jeder für wahr halten und glauben, was er will. Streng genommen fehlt ja auch der Horizont der einen Wahrheit und der einen Vernunft, der eine Kriteriologie erlauben würde, auf Grund derer kritische Urteile möglich wären. Postmoderne Kritik an Religion geriert sich deshalb nicht sachkritisch, sondern dezidiert religionskritisch. Sie ist sensibilisiert für die Frage, ob Religion (oder Weltanschauung) sich unter dem Deckmäntelchen von (eigentlich überholten) Wahrheitsansprüchen Vorteile zu verschaffen und sich auf dem religiösen Markt durchzusetzen sucht. In diesem Sinne warnen Denker von so unterschiedlicher Provenienz wie Martin Walser, Odo Marquard, Ulrich Beck und Jan Assman vor der Form von Religion, die sie als Inbegriff solcher religiöser Wahrheitsansprüche sehen: dem Monotheismus. Monotheistische Religion, gleich welcher Provenienz, zeichnet sich ja aus durch Geltungsansprüche, die

universal sind: also für alle, nicht nur für einige die Wahrheit sein sollen,

exklusiv sind: also alleine gelten und neben sich keinen (logischen und anderen) Raum lassen,

absolut sind: sich göttlich, durch Rekurs auf eine letzte Autorität begründen, denen gegenüber es also kein Ausweichen, keine Relativierung, keine Einschränkung gibt.

Postmoderne Religionskritik warnt demgemäß

– vor der Monomythie des Monotheismus, der den Menschen mit Haut und Haaren besitzen will (Marquard)5,

– vor der Intoleranz von Monotheismus und dem Konfliktpotential, das aus der monotheistischen Unterscheidung von wahrer und falscher Religion resultiert (Assmann)6,

– vor der Eifersucht des biblisch bezeugten einen Gottes, die sich als Verdrängungsmechanismus: als „Missionarismus“ auch in säkularen Ideologen erhalten hat (Walser)7,

– vor der Gefahr von universalen, absoluten und exklusiven religiösen Geltungsansprüchen, zu denen sich nicht mehr zu bremsende Gläubige zusammenrotten und denen gegenüber nur noch die Individualisierung des Glaubens an einen „eigenen Gott“ hilft (Beck)8.

Bemerkenswert ist, dass alle im Gegenüber zu „Monotheismus als der vielleicht größten Gefahr der Menschheit“9 – wie schon Nietzsche wusste – Polytheismus und also eine Pluralisierung von Religion als Gegenmittel empfehlen. Kommunikation des Glaubens als der rettenden und helfenden Möglichkeit in einem durch Dominanzerfahrungen christlicher Institutionen hoch sensibilisierten und durch Aversion und Abwehr gepolten Kontext?10

d) Verzicht auf die Kommunikation des Glaubens in postmodernen Zusammenhängen?

Es ließe sich freilich eine noch radikalere Lösung unserer Aufgabe eines missionarischen Pastorals denken: der einfache Verzicht auf die Kommunikation des Evangeliums in postmodern, sprich wahrheitspluralistisch verfassten Kontexten. Die Position wäre dann: Man sieht doch: Weitergabe des Glaubens in solchen Lebenswelten geht nicht. Der Grund ist einsehbar. Wir stehen hier vor Entwicklungen und Prägungen, die die christlich-abendländische Tradition verlassen haben und die deshalb für uns nicht mehr erreichbar sind, weil wir keine gemeinsamen Voraussetzungen mehr haben. Vulgo: die anderen, gemeint sind die postmodern eingestellten Menschen, „wollen ja nicht“.

Es gibt sehr viele, auch einflussreiche Christen, die eine solche Position oder Haltung einnehmen. Der Vorteil ist: Man hat sich die Herausforderung postmoderner Glaubenskommunikation mit einem Schlag vom Hals geschafft. Der Nachteile sind freilich ebenfalls viele, und sie wiegen schwer:

– Wir haben unseren missionarischen Anspruch – auch und gerade als Volkskirchen – gegenüber diesem Teil unserer Bevölkerung aufgegeben. Theologisch und geistlich ist dies nicht verantwortbar.

– Da der prämoderne Anteil unserer Gesellschaft, übrigens auch unserer Kirchen nach dem Microm Regio Trend ständig im Schwinden begriffen ist und umgekehrt die postmodernen Anteile stetig wachsen, läuft die o. g. „Strategie“ oder besser Verzichtserklärung auf ein Ja zum Ende des volkskirchlichen Anspruches hinaus.

– Missionstheologisch stehen wir hier vor einer Bankrotterklärung: Entgegen aller Erfahrung der Kirchen – als Missionsgeschichte – würden wir hier die Position vertreten, dass wir das Evangelium eigentlich nur in Kulturen vertreten und kommunizieren können, die schon christianisiert sind, also über die entscheidenden Voraussetzungen verfügen. Was ist dann aber Mission? Was bedeutet dann das sich selbst imponierende, beglaubigende, Wirklichkeit setzende Zeugnis des Heiligen Geistes? Käme es nicht im Gegenteil positiv darauf an, auch im postmodernen kulturellen und mentalen Zusammenhang auf die Aufgabe der Kontextualisierung des Evangeliums zuzugehen? Ist Postmoderne un-christlich oder nicht einfach nur a-christlich? Scharf gefragt: Ist es nicht bloß die Unfähigkeit eines über Jahrhunderte in einer traditionellen Kultur alteingesessenen, saturierten Christentums, sich aufzuraffen und sich neuen missionarischen Herausforderungen zu stellen, die Kirche und Christen weithin unfähig, weil unwillig macht, sich Prozessen postmoderner Glaubenskommunikation zu stellen? Müssten wir hier nicht fair sein? Die prämoderne, traditionsorientierte Mentalität und selbst die moderne Mentalität haben einen über Jahrhunderte andauernden Prozess der Amalgamierung mit Inhalten christlichen Glaubens hinter sich. Es kann angesichts der langen Geschichte der Christianisierung heidnischer Metaphysik nicht verwundern, dass diese heute im katholischen Raum vielen als die christliche Alternative zum postmodernen Relativismus erscheint. Es kann angesichts der mehr als zwei Jahrhunderte dauernden Abarbeitung am Erbe des deutschen Idealismus nicht verwundern, dass vor allem die Ethik und die Erkenntnistheorie und damit im Ergebnis auch die Religionsphilosophie Immanuel Kants als normativer Rahmen (neu-)protestantischer Theologie und speziell Ethik erscheint.11 Aber war das immer so? Hat es hier nicht unendliche Abarbeitungsprozesse und Integrationsbemühungen gegeben, die bis heute nicht abgeschlossen sind? Haben wir demgegenüber Postmoderne als Kultur und Mentalität, als Herausforderung überhaupt schon nennenswert wahrgenommen?

 

– Kann soteriologisch wirklich vertreten werden, dass Menschen, um zu Christus zu kommen, quasi eine doppelte Bekehrung brauchen: eine in eine (prä)moderne Kultur und dann – von da aus – eine zu Christus? Gehört es nicht gerade zur Kernsemantik des Evangeliums, dass es un-bedingt zukommt und gilt?

– Vielleicht noch spannender sind die philosophischen Fragen, vor denen wir stehen. Natürlich hält die Debatte um die Substantialität postmoderner Ansätze noch an. Aber man wird doch mit einigem Recht fragen dürfen, ob nicht postmodernes Philosophieren einen fundamentalen Einschnitt in der abendländischen Philosophiegeschichte bedeutet. Wenn der von Nietzsche prognostizierte Tod des „moralischen“ Gottes12 metaphysisch zu verstehen ist, wenn also das von Nietzsche angesagte und von vielen Denkern des 20. Jahrhunderts wahrgenommene größte Ereignis der Denkgeschichte13 ebendarin besteht, dass sich uns philosophisch die Begriffe „der“ Vernunft, „der“ Wahrheit, „des“ Schönen, Guten, Gerechten zersetzt haben und nicht mehr repristiniert werden können, dann ist christliche Theologie schlicht und einfach gefragt, ob sie philosophisch einen Anachronismus darstellt, m. a. W., ob sie nicht auf Voraussetzungen aufbaut, deren Selbstverständlichkeit nicht mehr einfach unterstellt werden kann.

Wir haben jetzt einige, lange nicht alle Herausforderungen angeschaut, die sich für die Glaubensweitergabe in einem im engeren Sinne postmodernen Kontext ergeben. Dass wir vor noch viel umfassenderen Fragen stehen, zeigt sich dann, wenn wir den weiteren – im Titel des Aufsatzes intendierten – Begriff von Postmoderne zu Grunde legen und uns der mentalen Fragmentierung unserer Zielgruppe stellen.

e) Von der Unmöglichkeit, es allen recht zu machen

Kirchliche und theologische Verantwortung des Glaubens hat es mit sehr unterschiedlichen Lebenswelten zu tun. Wir haben hier noch gar nicht die Vielfalt unterschiedlicher Milieus aufgeblättert. Es reicht schon, wenn wir uns die nicht aufeinander abbildbaren Ansätze der Basismentalitäten vergegenwärtigen. Vergegenwärtigt man sich die – erkenntnistheoretisch gesprochen – Inkompatibilität des Wahrheitsdenkens im modernen, prämodernen und postmodernen Paradigma, wird plausibel, dass die Rede von „Glaubenskommunikation“, Kommunikation des Evangeliums ein Abstraktum bedeutet.

Nehmen wir als Beispiel den Bereich ethischer Weisung. Für ein prämodernes Denken gehört es zum Besten, was christlicher Glauben den Menschen geben kann, dass er ihm verbindliche Normen verkündigt, dass er ihn in einen Horizont hineinstellt, der den Menschen „relativiert“, Norm und Maß gibt und ihn so davor bewahrt, abzuheben. „Ihr werdet sein wie Gott“ – das ist dann die Versuchung der Schlange. Es muss dann dem Menschen gesagt werden, dass es Gebote gibt, die einzuhalten für ihn gut ist. Die Aufgabe der Kirche ist es dann, genau diese Weisungen Gottes auch im Raum der Gesellschaft und wenn möglich mit Unterstützung des Staates zur Geltung zu bringen. Wie anders sieht dagegen der postmoderne Kontext aus! Das Individuum ist – mit Friedrich Nietzsche gesprochen – „etwas Absolutes“14. Ihm kommt absolute Bedeutung zu. Es kann für es keinen übergreifenden Horizont geben, der seinen individuellen Horizont in Frage stellen könnte. Es kann keine umgreifende Wahrheit geben, die seine individuelle Wahrheit in Frage stellen könnte. Normen mit letztem, absolutem, weil „göttlichem“ Geltungsanspruch ermöglichen nicht, sondern bedrohen die Freiheit. Deshalb ist „ihr werdet sein wie Gott“, ihr werdet Subjekte eurer selbst sein, die Verheißung schlechthin.

Aktuelles Beispiel: Was den einen für das Überleben der Gesellschaft unabdingbar zu sein scheint: die Ablehnung von homosexuellen Lebensweisen, ist den anderen Inbegriff einer restriktiven, den Menschen verachtenden Moral, die den einzelnen Menschen einer abstrakten Norm unterwirft.

Kommunikation des Evangeliums? Welches denn?

f) Unterschiedliche kulturelle und mentale Erschließungen des Evangeliums

Wieder könnte sich die Strategie nahelegen, den Konflikt dadurch zu beseitigen, dass der postmoderne Horizont als unchristlich abgelehnt wird. Der Konflikt ist dann ein Scheinkonflikt, weil eben nur die herkömmliche, traditionsorientierte, vor allem in prämodernen Mentalitäten verankerte Form von Kirchlichkeit das Attribut „christlich“ verdient. Gegenüber diesem Versuch der „Problemlösung“ ist an die bereits genannten Argumente zu erinnern. Hinzu tritt aber noch eine weitere Überlegung. Wer genau hinschaut entdeckt:

– (1) Unterschiedliche Kulturen, Mentalitäten, Lebensstile erschließen das Evangelium in unterschiedlicher Weise, was im Umkehrschluss bedeutet, dass keine Mentalität und kein Milieu die Fülle des Evangeliums repräsentiert.

– (2) Was bereits aus der Missionstheologie bekannt ist, bestätigt sich auch für unseren, in der Sache missionarischen Zusammenhang: Das Evangelium ist kein Container, dessen Inhalte an sich gegeben und nun als abstrakte und abstrahierbare Größe nur aus einer Kultur in eine andere übertragen werden müssten.

Ich erläutere beide Sachverhalte:

– (Ad 1) Am gegebenen Beispiel: wer könnte bestreiten, dass die Kommunikation des einen, göttlichen, für alle geltenden Willens Gottes eine ungeheure formierende, Gemeinschaft und Gesellschaft bildende Kraft besitzt; dass es zur Semantik der Ehre Gottes gehört, dass der Mensch ihm gehorcht; dass er Gottes Willen über seinen eigenen stellt. Hier ist ein lange Zeit dominierendes Lebenskonzept grundgelegt, das sowohl den Glauben auslegt wie auch eine ganze Kultur hervorgebracht hat. Hier bildet sich der Mensch, der spezifisch Mensch ist, im Gegenüber zu Gott; der im Gegenüber zur Offenbarung des persönlichen Gottes Geborgenheit, Sicherheit und eine heilvolle Begrenzung findet. Wer wollte umgekehrt bestreiten, dass gerade die Optionenvielfalt, der programmatische Reichtum der individuellen Lebensweisen und Lebenswelten ein kaum zu überbietender Ausdruck dessen ist, dass jeder Mensch ein einzigartiger, individueller Gedanke Gottes ist, der auf individuelle Entfaltung drängt. Uniformität ist nicht das Kleid Gottes. Es kann doch gar nicht bunt und vielfältig genug sein. Und kann es eine herrlichere Repräsentation der Majestät und Größe Gottes geben als den Menschen, der seine Freiheit realisiert und sich zum Herrscher über alles macht?

Und sosehr, wie ein anything goes, ein „lasst uns alles ausprobieren, sind wir nicht Herren über alles“ entgleisen kann, so sehr haben wir ja bereits die Erfahrung gemacht, dass und wie eine prämoderne Gestalt und Erschließung von christlichem Glauben auch entgleisen kann, etwa da und dann, wenn Normen Menschsein nicht ermöglichten und befreiten, sondern Menschen unterjochten und Abweichungen diskriminierten.

– (Ad 2) Wenn biblischer Gottesglaube griechischer Metaphysik begegnet und diese aufnimmt, um sich zu entfalten, wird das Evangelium anders aussehen, als wenn die biblischen Zeugnisse im Rahmen einer letztlich nihilistischen Welt-Anschauung gelesen werden. Ein Glaube, der sich philosophisch in einem umfassenden, theologisch durchwirkten Zusammenhang fundiert, der Gott ontologisch als den über den Menschen stehenden und nicht von ihren Bewegungen getriebenen „unbewegten Beweger“15 begreift, kann dem Gottesglauben eine imponierende Geschlossenheit, Sicherheit, Geborgenheit geben. Der alles wissende, alles wirkende Gott ist dieser Welt omnipräsent, auch wenn wir ihn nicht in allem verstehen. Das Evangelium fasst sich dann etwa in diesem einen Zentralwort „Vater“ zusammen, von dessen providentieller Liebe wir umgeben sind.

Freilich, was ist, wenn die Theodizeefrage nicht mehr einfach ertragen wird; wenn sie zum „Fels des Atheismus“ wird (Georg Büchner: Dantons Tod); wenn es nach Nietzsche ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit ist, für neuzeitlich-moderne Welterfahrung keinen Sinn mehr zu unterstellen16; wenn die Wahrnehmung des Leidens und der Ungerechtigkeit in dieser Welt überwältigend wird und die Mitte des Glaubens verdunkelt wird, weil man die metaphysischen Prädikate der Allmacht, Allwissenheit und Omnipräsenz mit genau diesem Leid und dieser Ungerechtigkeit nicht mehr zusammenbringen kann; wenn die Götter der Vernunft, der Wahrheit, der Gerechtigkeit gestorben sind, weil der Mensch sie missbraucht hat, weil er sie benutzt hat, um sich selbst zur Macht zu bringen, wenn also tatsächlich unter unseren Messern das Schönste und Heiligste gestorben ist, was der Mensch besessen hat,17 wenn – für viele Menschen – nicht mehr vorstellbar ist, wie anders als im Sinne des Machtmissbrauches bzw. ohne moralische Wertung formuliert: wie anders als zum Zwecke des eigenen Willens zur eigenen Macht von „wahr“ und „vernünftig“ gesprochen werden kann, dann stehen wir in einer nihilistischen Konstellation. Nihilismus ist nichts anderes als die Kehrseite eines Wahrheitspluralismus. Logisch ist universaler Wahrheitspluralismus universalem Falschheitspluralismus ja äquivalent. Wenn alles wahr ist (und nichts mehr falsch), dann ist nichts mehr wahr (im modernen und prämodernen Sinne der Auszeichnung einer Position vor anderen); dann gibt es ja nichts mehr, was einen Unterschied machen würde. Dann kann man ja auch alles prädizieren, Wahrheit so gut wie Falschheit.

g) Milieudifferenzierte Kommunikation des Evangeliums

Bisher haben wir uns nur an der sehr groben, wenn auch fundamentalen Unterscheidung von nicht kompatiblen, nicht aufeinander zurückführbaren oder aufeinander abbildbaren Basismentalitäten orientiert. Moderne, Postmoderne und Prämoderne liegen dem Sinus-Milieu-Modell als unterschiedliche Grundorientierungen auf der waagrechten x-Achse der Karte der Lebensweltsegmente zu Grunde. Es ist nur konsequent, wenn wir der Fragmentierung und Segmentierung unserer Gesellschaft noch präziser folgen und auf der Basis des Bisherigen nun die feinere Milieu-Unterscheidung in den Blick nehmen und fragen, was sie für die Kommunikation des Evangeliums bedeutet.

Die vielleicht entscheidende und wichtigste Erkenntnis der modernen Lebensweltforschung besteht in der Einsicht, dass Kirche nur ca. zwei bis drei von zehn Milieus erreicht.18 Unter „erreichen“ versteht die entsprechende Sinus-Studie für die katholische Kirche aus dem Jahr 2005 nicht eine gelegentliche Berührung mit Glaube und Gemeinde, etwa aus Anlass der Teilnahme an einer Kasualie. „Erreichen“ soll in diesem Zusammenhang einen prägenden Einfluss auf die Lebensgestalt eines Menschen meinen. Die Sinus-Kirchen-Studien wirken auch deshalb so provozierend, weil sie empirisch erhärten, was viele zuvor vermutet oder unscharf erahnt haben: Je (post-)moderner ein Lebensstil ist, umso ferner steht er dem verfassten kirchlichen Leben vor Ort.19 D. h., Kommunikation des Evangeliums in postmodernen (im Sinne von nachmodernen, s. o.) Verhältnissen gelingt durchaus, aber eben nur für ein bestimmtes, eingegrenztes Klientel. Verschiedene Untersuchungen haben erhärtet, dass Menschen, die traditionsorientiert leben, Kirche, oder präziser formuliert: dem kirchengemeindlichen, parochial verfassten Leben von Kirche deutlich näher stehen und an ihm signifikant stärker partizipieren als Menschen, die eine moderne Grundorientierung verfolgen und dabei postmaterielle, kritische oder liberale oder auch emanzipative Werthaltungen einnehmen oder aber postmoderne Settings einnehmen: also multioptional orientiert sind, ein Leben in – modern gesehen – Widersprüchen nicht scheuen, sich antibürgerlich verstehen, dagegenleben, versuchen, in ihrem Leben Grenzen zu überschreiten, und ihr Leben als Experiment entwerfen.

 

Kirche20 erreicht Menschen im traditionsorientierten, konservativetablierten und teilweise im Milieu der Bürgerlichen Mitte. Hier gelingt ihr Glaubenskommunikation. In anderen Milieus gelingt sie ihr sehr viel weniger bis gar nicht. Die kulturanthropologischen Grundlagen der Milieu- und Mentalitätsforschung legen einen Zusammenhang nahe, der sehr einleuchtend ist, aber für die missionarische Pastoral immense Konsequenzen hat. Milieu ist deshalb zum Schlüsselbegriff aktueller Lebensweltforschung geworden, weil Menschen sich vor allem in Gruppen Gleichgesinnter zusammenfinden und organisieren. Nicht eine nahezu grenzenlose Individualisierung bestimmt die Lebensstile der Menschen, sondern eine überschaubare Gemeinschaft von Menschen, mit denen einen gemeinsame Überzeugungen, Gewohnheiten, Vorlieben, materielle Möglichkeiten und Bildungsvoraussetzungen verbinden. Konkret äußert sich das in einer sehr ähnlichen Ästhetisierung des Alltags: in einem Musikstil, der verbindet; in Freizeitaktivitäten, die man teilt; in einem Outfit, das man für cool, und genauso wichtig: in der Ablehnung von Kleidung, die man für mega uncool/doof/unangebracht etc. hält. Hier, in dem eigenen Milieu, fühlt sich das Individuum wohl. Hier muss es sich nicht ständig erklären. Hier trifft es in den „Mitbewohnern“ der eigenen Lebenswelt ein Stück weit auf sich selbst. In der Sache bedeutet das,

– dass die Milieus zwar empirisch nicht scharf voneinander getrennt werden können, dass es Übergänge und lebensweltliche Überlappungen gibt,

– dass ein Milieu aber gerade darin seine Funktion hat, dass es ein spezifisches, beschreibbares Profil hat,

– dass dieses Milieu-Profil ebenso – einige – integriert, wie es – viele – abstößt, dass es ebenso inkludiert, wie es exkludiert, – dass Milieus deshalb attraktiv sind, weil sie ein Profil haben, das „zu mir“ passt und zu dem ich passe, dass wir uns genau deshalb in ihnen wohlfühlen,

– dass Milieus deshalb funktionieren und eine so große, für die sozialwissenschaftliche Beschreibung unserer Gesellschaft unverzichtbare Bedeutung erlangt haben, weil diese Passungen Distinktionsgrenzen generieren: Ich fühle mich in einer Lebenswelt, mit einem bestimmten Lebensstil wohl; ich will mein Milieu so, wie es ist. Wer anders ist, soll bitte woanders bleiben; er (oder sie) wird aber vermutlich von selber merken, dass er (oder sie) hier nichts zu suchen hat, hier einfach nicht hinpasst. – Wir reden von unsichtbaren Grenzen, die mental gegeben sind, im Regelfall nicht rational reflektiert werden, sondern intuitiv gelten und unwillkürlich vollzogen werden. Wo über sie nachgedacht wird, ist das im Regelfall ein – typisch modernes – Instrument, sie in ihrer Macht und Bedeutung zu relativieren (wie hier in diesem Aufsatz). Die Grenzen zwischen den Milieus sind nicht abstrakt, theoretisch. Sie besitzen eine enorme, rational nicht aufzufangende auch emotionale Dynamik.

– Zugespitzt kann man formulieren: je mehr sich die einen in einem Milieu „wohl fühlen“, umso mehr werden Andersgeprägte abgestoßen, umso mehr werden die, deren Milieu dominant ist, auch nicht wollen, dass sich die favorisierte Lebenswelt ändert und dass Andersartige an dieser ihrer Lebenswelt partizipieren und diese womöglich ändern.

All diese Einsichten sind für Kirche alles andere als belanglos,

– weil sich die Milieusegmentierung der Gesellschaft in der Kirche wiederholt,

– weil es eben auch in der Kirche Menschen gibt, die sich in ihr sehr wohl fühlen (auch wenn das zu glauben, modernen und postmodernen Menschen eher schwer fällt) und die in ihr eine emotionale und mentale Heimat finden,

– weil es diese Menschen in diesen eher prämodern und traditionsorientiert geprägten Milieus sind, die Kirche einerseits so behalten wollen, „wie sie ist“, andererseits die Milieus, in denen sie sich so wohl fühlen, genau die Andersgeprägten ausschließen,

– weil es – zugespitzt formuliert – in jeder Kirchengemeinde dominante Milieus gibt. Sie können bürgerlich, postmateriell, konservativ oder etabliert sein – in jedem Fall sind sie bestrebt, Veränderungen der Lebenswelt, in der sie „zu Hause“ sind, entgegenzuwirken.

Eine der Strategien des auch in der Kirche zu findenden Milieu-Egoismus besteht darin, die eigene Milieuprägung, das eigene, eigengeprägte kirchliche Milieu mit der Kirche, dem Milieu von Kirche an sich zu identifizieren. Es nimmt nicht wunder, dass interessierte, veränderungsresistente Kreise in der Kirche sich gegen eine Lebensweltforschung wenden, die ihnen so unangenehme Einsichten zumutet und natürlich nach den Konsequenzen fragen lässt.

Diese Einsichten sind hart. Es fällt Christen und Kirchen erfahrungsgemäß nicht immer leicht, diese Sachverhalte einzusehen und zu realisieren, dass auch in der Kirche ganz menschliche Mechanismen walten, auch wenn man noch so missionarisch sein möchte, auch wenn man sich noch so sehr für die Wirkung des Heiligen Geistes öffnen möchte, dabei aber de facto erwartet,

– dass die anderen erst einmal so werden wie man selbst, wenn sie als Christen in „der Kirche“ mitleben wollen,

– dass sie sich gefälligst der gegebenen Kirchengemeinde und ihren Gepflogenheiten anpassen sollen, bevor sie mitmachen.

Mit diesen kritischen Bemerkungen sind wir bei den abschließenden Reflexionen. Was für Konsequenzen ergeben sich aus den formulierten Einsichten? Welche Gestalt hat eine milieusensible Pastoral? Wie kann man Glaubenskommunikation in postmodernen, modernen und prämodernen Lebenszusammenhängen fördern?

Die Antwort auf diese Fragen kann ich hier nur andeuten. Zu diesem Zweck formuliere ich einige Thesen, die an anderer Stelle zu entfalten oder auch schon entfaltet sind: