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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

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4.1 Vorgehensweise: Strukturierung des Lernalltags

Das saLzH begann in der Wiko-Klasse zunächst in analoger Form.1 Die Lehrkraft erstellte einen Hefter mit Arbeitsaufträgen und Materialien, die die Schülerinnen und Schüler bearbeiten sollten. Während die Schülerinnen und Schüler die Arbeitsmaterialien in der ersten Woche persönlich mitnehmen konnten, wurden ihnen die Materialien für die folgenden Wochen per Post zugesandt. Schnell stellte sich aber heraus, dass das ausschließlich selbstständige Erarbeiten der Aufgaben für diese Klasse nicht funktionierte. Von den Schülerinnen und Schülern kam keinerlei Rückmeldung der Aufgabenlösungen, lediglich, dass die Arbeitsaufträge zu schwer seien. Im Anschluss an einen digital durchgeführten Ferienkurs wurde daher dieses Format für die Klasse übernommen, sodass synchroner Distanzunterricht per Web-Konferenzsystem stattfinden konnte, der fortan eine Lernbegleitung ermöglichte.

Auch in der befragten Alpha-Klasse2 wurden digitale und analoge Mittel getestet, um in erster Linie den Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern zu halten, sie zu informieren und die aktuelle Pandemielage mit ihren neuen „Regeln“ zu erklären und den Schülerinnen und Schülern Sprechanlässe für das Deutsche zu geben. Erst im Anschluss daran konnte die Vermittlung des eigentlichen Unterrichtsinhalts – die Alphabetisierung – im saLzH angegangen werden. Aufgrund fehlender Lese- und Schreibfertigkeiten der Schülerinnen und Schüler stellte der Zugang zu Videotools, die synchronen Onlineunterricht ermöglicht hätten, eine nicht zu überwindende Hürde dar. Anders als bei den von Boeckmann et al. (2020: 12) untersuchten Schülerinnen und Schülern der Primarstufe haben die Lernenden der Alpha-Klasse meist keine unterstützende Person, die ihnen beim Einrichten eines Videostreams o.Ä. behilflich ist, sondern sind auf sich gestellt. Daher kristallisierte sich für die Alpha-Klasse schnell ein Messenger-Dienst als sinnvollstes Kommunikationsmittel heraus, den die Schülerinnen und Schüler auch privat und in ihrer Erstsprache nutzten. Dabei wurden von der Lehrkraft Sprachnachrichten mit Kommunikationsimpulsen gesendet, auf die die Schülerinnen und Schüler ebenfalls mit Sprachnachrichten antworteten. Die Alphabetisierung wurde von der Lehrkraft durch das Versenden selbsthergestellter Videos zu Schwungübungen und Buchstabenschreibungen angeleitet. Darüber hinaus waren die Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse in dieser Zeit angehalten, ihren Deutscherwerb selbstständig durch Übungen in den bereitgestellten Kursbüchern voranzubringen. Die Lehrkraft versuchte während des Lockdowns, die Schülerinnen und Schüler zu motivieren, wenigstens sporadisch Deutsch zu sprechen oder zu schreiben.

Die drei befragten Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse berichten auf die Eingangsfrage hin, was und wie sie in der Zeit des Lockdowns3 gelernt haben, dass ihnen das Selbststudium schwerfiel, weil sie mit den gegebenen Möglichkeiten nicht zurecht kamen:

(1) Selbststudium im Distanzunterricht

A3: Hallo, (…) während der freien Tage saß ich zu Hause und habe Sachen übersetzt und mit dem Buch gelernt. Ich habe versucht online zu lernen, aber ich habe es nicht verstanden. Es war schwierig. Es war für uns alle schwierig online. […] ähm, online war es schwer für mich. Ich konnte nichts verstehen. Und als ich zur Schule gegangen bin, verstand ich alle Wörter. (husten) Online konnte ich die Wörter nicht gut verstehen und insbesondere am Telefon habe ich nichts verstanden.

Auch die befragten Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klasse berichteten von Schwierigkeiten, ein konzentriertes Lernumfeld zu Hause zu schaffen:

(2) Strukturierung des Lernens

W7: In der Schule kann sehr gut verstehen und ähm du kannst ein bisschen konzentrieren, aber zu Hause ist anders. Du kannst nicht so einfach so sitzen und ja du kannst alles machen. Du kannst einfach so dein Handy dalegen und essen. So einfach so es passiert mal. Aber in der Schule man darf nicht das. Man darf nur in der Pause essen. Zu Hause ist es manchmal laut oder so. Wie gerade.

Die Umstrukturierung des Lernalltags wirkte sich nicht nur auf die Arbeitsweise einiger Schülerinnen und Schüler, sondern auch auf die Lehrkräfte aus, da durch das saLzH die Unterrichtszeiten neu verhandelt werden konnten. Im asynchronen Unterricht der Alpha-Klasse orientierte sich der Austausch zwischen der Lehrkraft und den Schülerinnen und Schülern am individuellen Arbeitsverhalten dieser, das sowohl im Umfang als auch den Arbeitszeiten sehr unterschiedlich ausfiel.

4.2 Technische Ausstattung und räumliche Situation

Wie Rude (2020) und die Befragung des BAMF zur Wohnsituation der geflüchteten Menschen (vgl. de Paiva Lareiro 2019) gezeigt haben, ist die räumliche Situation und technische Ausstattung gerade dieser Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme an digitalem saLzH nicht selbstverständlich. Vier von sieben Schülerinnen und Schülern der Wiko-Klasse gaben an, einen Computer für den Unterricht zu nutzen. Eine Schülerin/ein Schüler berichtet, dass das Lernen zu Hause anfangs dadurch erschwert wurde, dass die Familie nach einem Umzug noch keine Stühle hatte und sie am Boden arbeiten musste. In der Alpha-Klasse erschwerten sowohl die räumliche Situation als auch eine fehlende technische Ausstattung eine lernförderliche Umgebung. So berichtete eine Schülerin/ein Schüler der Alpha-Klasse von beengten und ablenkungsreichen Wohnverhältnissen:

(3) Ablenkendes Wohnumfeld

A3: Für mich hat sich vor allem geändert, dass ich nur noch zu Hause saß. Vor allem, dass ich mit meinem Vater in einem Zimmer saß. Da bin ich einfach nicht wirklich vorangekommen. Es lief ständig der Fernseher und ich hatte auch einfach keinen Platz, wo ich mich in Ruhe hätte hinsetzen können. Unsere Wohnung ist nur ein Raum. Das hat mich davon abgehalten irgendwas von der Sprache zu verstehen.

Während knapp die Hälfte der Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klasse über einen Computer dem Unterricht folgen konnten, hatten die drei Befragten der Alpha-Klasse ausschließlich über ihr Telefon Zugang zum Lernen. Schülerin/Schüler A3 berichtete beispielsweise, dass ihre/seine Bemühungen einen Computer zu bekommen, scheiterten:

(4) Technische Ausstattung

A3: Ich hatte nur mein Handy. Ich habe kein Laptop. Ich habe versucht eins zu beantragen, aber mein Antrag wurde abgelehnt.

4.3 Präferenzen der Unterrichtsformen

Im Zusammenhang mit der Schilderung der veränderten Unterrichtssituation begannen die Schülerinnen und Schüler der befragten Klassen, ihre präferierte Unterrichtsform zu nennen und zu begründen. Dabei erfolgte meist ein gegenseitiges Abwägen der einzelnen Formate zueinander. Im Folgenden werden nach der Darstellung der Vorteile des Online-Unterrichts dessen Nachteile und die Vorteile des Präsenzunterrichts aus Sicht der Schülerinnen und Schüler aufgezeigt.

4.3.1 Vorteile begleiteten Online-Unterrichts

Die Vorteile des Online-Unterrichts sahen die Schülerinnen und Schüler aus drei Perspektiven. Eine Schülerin/ein Schüler führte den ökologischen Aspekt an, da beim Online-Unterricht weniger Papier genutzt wird. Eine weitere Schülerin/ein weiterer Schüler berichtete von negativen Erfahrungen während der Pausen, die im Online-Unterricht wegfallen. Die Mehrheit stufte zwar den synchronen Online-Unterricht im Vergleich zu anderen Distanzformaten während des saLzH, wie zugesandte Arbeitsblätter, als besser ein, jedoch schlechter als den Präsenzunterricht in der Schule:

(5) Vorteile Online-Unterricht

W4: Aber online ist auch gut.

I: Online ist auch gut? Also das heißt der Online-Unterricht ist auf jeden Fall besser dann als gar kein Unterricht, ne?

W4: Ja.

I: Oder die em Arbeitsblätter. Ihr habt ja am Anfang Arbeitsblätter bekommen, mit einem Brief, alles okay oder war das dann schwierig?

W4: em es war bisschen schwierig für mich. Also mit online ist besser.

Schülerin/Schüler W1 sieht die Gründe für die Schwierigkeiten, die sie/er mit dem anfänglichen analogen saLzH (Arbeitsblätter) hatte, in ihrem/seinen Sprachniveau im Deutschen begründet:

(6) Fehlendes Sprachniveau zum Selbstlernen

W1: Es war noch nicht so leicht wie jetzt. Ich habe noch nicht genug (niv?) Sprachniveau, um alles allein zu verstehen. Aber ich habe/ich habe ja versuchen vielleicht noch nicht/vielleicht nicht (zu?) genug viel geübt ja. Ich glaube, dass wahrscheinlich in diesen zwei Monaten, dass ich hier zu Hause war/wenn ich/wenn ich in diesen zwei Monaten zu Hause mehr gelernt hätte oder ja ich kann wahrscheinlich könnte ich jetzt mehr sprechen.

Auch die Schülerinnen und Schüler der Alpha-Klasse sahen Vorteile im unmittelbar durch die Lehrkraft begleiteten Distanzunterricht im Gegensatz zum Selbstlernen. So betonte Schülerin/Schüler A1, dass die Videoanweisungen der Lehrkraft per Messenger-Dienst hilfreicher waren als eine Alphabetisierungs-App, die die Klasse ausprobiert hatte:

(7) Vorteil begleiteter Distanzlehre

A1: Als ich mit dem Handy gelernt habe, mit dem neuen Programm, was sie mir gegeben haben, hatte ich das Gefühl, dass das nicht viel bringt. Nicht besonders doll. Aber es war ok. Zum Beispiel haben wir die Lehrerin über die Kamera gesehen. Das war nett. Ich kann nicht sagen, dass das schlecht war. Es war gut.

4.3.2 Vorteile Präsenz/Nachteile Online

Alle befragten Schülerinnen und Schüler sahen im Präsenzunterricht in der Schule fast ausschließlich Vorteile. Demgegenüber wurden als Nachteile des Online-Unterrichts zwar selten die im Distanzunterricht fehlenden Kontakte, der geringere bzw. ausbleibende Kontakt zur deutschen Sprache und die im Distanzunterricht fehlende Motivation genannt. Noch seltener wurden der fehlende Spaß, Ablenkung und die mangelhafte räumliche Situation zu Hause sowie mangelnde technische Ausstattung und fehlendes Feedback der Lehrkraft angeführt. Am häufigsten wurde von den Schülerinnen und Schülern das bessere Verständnis der Unterrichtsinhalte als Vorteil des Präsenzunterrichts benannt:

 

(8) Vorteile Präsenzunterricht

W4: Also ich glaube in der Schule ist besser, weil man kann besser verstehen. (…)

I: Findest du das in der Schule dass man dass das dann Sachen besser erklärt werden?

W4: Ja. Weil hier1 manchmal versteht man nichts. Also alles.

(9) Vorteile Präsenzunterricht 2

A2: Es gibt einige Wörter/es gibt Wörter, die ich meistens falsch ausspreche und niemand ist da, um mich zu unterrichten. Ich war immer in der Schule. Es ist besser, meine ich. Es war sehr viel besser, weil ich schnell Sprechen und Schreiben gelernt habe.

Zudem wurde dem Präsenzunterricht in der Schule eine hohe motivierende Wirkung zugeschrieben:

(10) Fehlende Motivation

W9: Immer wenn wir zur Schule gehen, dann werde ich schon so motiviert so wach zu werden. Wenn ich hier bin, zu Hause, dann manchmal werde ich einschlafen und sowas.

Hierbei stellte sich die häusliche (soziale) Umgebung als ein besonderer lernhemmender Faktor heraus (s. Kap. 2.1.4, s. Bsp. 1, 2, 3).

Alle Schülerinnen und Schüler bemängelten am Distanzunterricht, während des Lockdowns nicht mit ihren Klassenkameraden und Freunden interagieren zu können, wie Schülerin/Schüler W2 berichtete:

(11) Soziales Miteinander in der Schule

I: Also, was ist besser in der Schule als jetzt? Onlineunterricht.

W2: In der Schule kann man mit Freunden rede. In der Pause oder im Unterricht ein bisschen quatschen. Also, man darf nicht in der Unterricht mit anderen reden. Man muss sich konzentrieren.

I: Aber man macht das trotzdem, ja?

W2: Ja. (lacht)

Mit dem Wegfall dieser sozialen Kontakte im Unterricht gingen auch sinkende Sprechanlässe im Deutschen einher, die die befragten Schülerinnen und Schüler als entscheidend für ihren Lernfortschritt ansahen (s. Kap. 4.4 und 4.5).

4.4 Sozialer Austausch und Kontakt zur deutschen Sprache

Die Kontaktbeschränkungen und pandemiebedingten Schließungen gesellschaftlicher und sozialer Einrichtungen brachten für die Schülerinnen und Schüler in Vorbereitungsklassen starke Einschränkungen der sozialen Kontakte und insbesondere zur deutschen Sprache mit sich. Ihnen blieben wenige einzelne Kontakte zum Deutschen, die sich in der Häufigkeit des Austauschs, aber auch im Grad der Sprachbeherrschung stark unterschieden und auch abhängig von den Wohn- und Lebensumständen waren. Während eine Schülerin/ein Schüler mit einem Familienmitglied (L1: Deutsch) täglich Deutsch sprechen konnte, gaben drei andere Schülerinnen/Schüler an, während des Lockdowns lediglich mit anderen Lernenden (Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klasse, Freunde und Geschwister) Deutsch gesprochen zu haben (s.a. Bsp. 14).

(12) Fehlende Kontakte zum Deutschen

A2: Meine Freunde, also ich habe keine deutschen Freunde. Meine Freunde sind Syrer oder andere Araber. Deutsche Freunde habe ich nicht. Ich wollte mich bei einem Sportverein anmelden, aber man muss sich für mindestens zwei Jahre anmelden und mein Aufenthaltstitel ist nur ein Jahr gültig. Ich brauche den permanenten Aufenthalt, damit ich mich registrieren kann. Ich spreche Deutsch mit jemandem im Bus oder mal mit einem Freund. Wo immer ich hingehe, spreche ich Deutsch mit den Leuten. Auch wenn ich zum Alexander Platz gehe. Ich meine, ich spreche Deutsch, wenn ich da jemanden treffe.

Zwei der drei befragten Alpha-Schülerinnen und -Schüler haben sich in dieser Zeit selbst um das Aufrechterhalten von Kontakten zu Deutschsprechenden bemüht, wie folgendes Beispiel zeigt:

(13) Soziale Kontakte zum Deutsch sprechen

A3: Ich habe meistens mit einem Mädchen zu tun gehabt. Sie war eine Freundin von mir. Sprachlich hat mich das sehr weitergebracht. Ich habe versucht die Wörter von ihr aufzuschnappen. Sie spricht nur Deutsch. Sie spricht kein Arabisch. Sie war meine engste Freundin. Wir haben uns gut verstanden. Ich versuchte ihre Wörter zu verstehen und ich fragte sie nach Wörtern. Aber im Moment haben wir keinen Kontakt. Wir hatten einen Streit und ich weiß nicht/. Ich habe keine Bezugsgruppe, um die Sprache zu lernen. Sie war wie /. Um die Sprache zu lernen, brauche ich jemanden, der die Sprache spricht, damit ich von ihm/ihr lernen kann. Aber ich habe niemanden hier. Meine Freunde sprechen alle Arabisch und ich lerne nichts von ihnen.

Die befragten Schülerinnen und Schüler sahen den Verlust ihrer sozialen Kontakte zur deutschen Gesellschaft vor allem in Zusammenhang mit verminderten Sprechanlässen und einem damit eingehendenden Verharren des Deutscherwerbs bzw. sogar Verlust von Kompetenzen im Deutschen.

4.5 Selbsteinschätzung von Lernfortschritten in Sprache und Schrift

Sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrkräfte empfanden die Umstellung und die damit verbundene Neukonzeption des Unterrichts als hemmend für das Deutschlernen. Die Lehrkräfte berichteten, dass den Schülerinnen und Schülern die Selbstorganisation für den Unterricht schwerfiel oder gar nicht möglich war (s. Kap. 4.1), und die Schülerinnen und Schüler hatten ebenfalls das Gefühl, durch die Umstellung von Präsenz- auf Distanzunterricht im Erwerb nicht bzw. sehr langsam vorangeschritten zu sein:

(14) Lernhindernisse

W1: […] wenn ich in diesen zwei Monaten zu Hause mehr gelernt hätte oder ja ich kann wahrscheinlich könnte ich jetzt mehr sprechen. Ja, weil hier allein zu Hause mit mein Familie soll ich meine/soll ich nicht Deutsch sprechen. So mein Vater ist der Einzige, das richtig Deutsch kann und aber mit mein Schwester wir sprechen ja zu Hause soll ich nicht auf Deutsch sprechen ja.

Von den insgesamt elf Äußerungen, die den Zusammenhang zwischen dem Lernfortschritt und den Kontakten zur deutschen Sprache herstellen, stammen acht von den Alpha-Schülerinnen und -Schülern und nur drei von den Schülerinnen und Schülern der Wiko-Klasse. Besonders deutlich wird der Effekt der verminderten Sprechanlässe im Deutschen auf den erlebten Lernfortschritt von den Schülerinnen und Schülern der Alpha-Klasse hervorgehoben.

(15) Gefühl zurückzuentwickeln

A3: Jetzt habe ich einfach niemanden mit dem ich sprechen kann. Jetzt ist mein Deutsch wieder schlechter geworden. Es gibt Wörter, die ich einfach vergessen habe. Manchmal verstehe ich sie auch was sie bedeuten. Aber ich beherrsche sie einfach nicht richtig. So ist es. Aber als ich angefangen habe zu lernen und einen Menschen gefunden hatte, der mit mir sprach und mir alles beigebracht hat, wurde alles für mich viel leichter und ich war froh. Aber so, wie es jetzt ist, habe ich das Gefühl, mich zurückzuentwickeln.

Nachdem die Schülerinnen und Schüler wieder in den Unterricht in die Schule kommen konnten, erlebte dieselbe Schülerin/derselbe Schüler einen Aufschwung des eigenen Lernfortschritts:

(16) Lernfortschritt in Schule

A3: Als ich wieder in die Klasse gegangen bin, fühlte ich mich gut und ich verstand wieder mehr. Wir haben uns unterhalten und alle Schüler waren glücklich, dass wir zurück in der Klasse sind. Wir hatten zwei Klassen, am Morgen und am Nachmittag. Wir waren sehr glücklich und ich habe mich wohl gefühlt.

Lediglich Schülerinnen und Schüler, die über die Möglichkeit verfügten, im häuslichen Umfeld oder im Freundeskreis in deutscher Sprache zu kommunizieren, erlebten die Erwerbsprogression auch während des Lockdowns als tendenziell weniger problematisch. So berichteten zwei Schülerinnen und Schüler der Wiko-Klasse, dass sie auch während des Lockdowns zu Hause Deutsch sprechen konnten und daher keine Stagnation ihres Lernfortschritts wahrnahmen:

(17) zu Hause Deutsch sprechen

I: Also, sprecht ihr Deutsch nur eigentlich dann in der Schule.

W5: Wir reden auch manchmal zu Hause Deutsch. Weil mein Bruder und meine Schwester lernen auch. Deswegen sprechen auch zu Hause Deutsch.

Es wurde jedoch auch gleichzeitig deutlich, dass das Deutschlernen für die meisten hauptsächlich in der Schule stattfindet oder durch die Schule induziert wird. Eine Alpha-Schülerin/ein -Schüler berichtete, wie sie/er sich während der Zeit des saLzH explizit zusätzliche Lernhilfe gesucht hat und diese intensiv nutzte, um nicht zu starke Lernrückschritte zu machen:

(18) Hilfe beim Deutschlernen

A1: Also, um mich zu unterstützen, die deutsche Sprache zu erlernen, öffne die Schule und hilf mir in der Schule. Lehre mich Lesen und Schreiben. Ich will nichts Anderes. Als ich zu Hause war und Hilfe brauchte, habe ich meinen Bruder angerufen oder ich bin zu ihnen gegangen und sie haben mir geholfen.

Ähnlich problematisch für den Lernfortschritt im Deutschen sahen auch die Lehrkräfte beider Klassen den Lockdown. Diese gaben an, dass besonders das Schreiben in der Zeit des Lockdowns deutlich zu kurz kam.

Es lässt sich aufgrund der Selbsteinschätzungen der betroffenen Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Lehrkräften nur prognostizieren, welche Auswirkungen saLzH während des Lockdowns auf den weiteren schulischen Verlauf, Spracherwerb und Lernmotivation haben wird.

(19) Lockdown und Zukunft

A1: Was mich betrifft, wie soll ich es sagen, hat sich die Situation sehr, sehr doll auf meine Zukunft ausgewirkt. Ich bin seit zwei Jahren in Deutschland und ich beherrsche die Sprache noch nicht. Ich sollte in zwei Jahren die Sprache beherrschen. Aber jetzt will ich erstmal B1 machen und andere Sachen erreichen, wie das C1 Level. Ich habe so viele Sachen in Bezug auf die Sprache zu tun. Ich sollte die Sprache schon längst beherrschen. Also, Gott ist gnädig, das wird schon.

5 Fazit

Die COVID-19-Pandemie und mit ihr in Verbindung stehende Auswirkungen haben neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler besonders hart getroffen, da sie durch die zeitweiligen Schließungen von Schulen und den damit verbundenen Unterrichtsausfall das Gefühl hatten, in ihrem Lernen teils weit zurückgeworfen worden zu sein. Dies wurde auch in den Interviews deutlich. Die Schule und der Unterricht in Präsenz bedeuten für die neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler das Vorhandensein eines sozialen Raums, einer geschützten Lernumgebung und insbesondere eines Ortes des Spracherwerbs. Die Bedeutung der Schule scheint umso größer zu sein, je größer der Bedarf am Erwerb des Deutschen ist. Insbesondere für Alpha-Schülerinnen und -Schüler fungierte die Lehrkraft als Mittlerin für gesellschaftliche Ereignisse und Regeln, die während der Schulschließungen auftraten. Wie in der Theorie beschrieben und in den Interviewdaten, insbesondere bei den Alpha-Schülerinnen und -Schülern, aufgezeigt, ist für diese Gruppe Partizipation ein wichtiger, wenn nicht sogar der Weg zur Sprache. Ein fortschreitender Spracherwerb begünstigt wiederum die gesellschaftliche Partizipation. Dem kann saLzH im digitalen Modus nur bedingt nachkommen, da begrenzter technischer Zugang, eine ungünstig ausgestattete oder störanfällige Lernumgebung sowie fehlende soziale Interaktion abseits eines Präsenzunterrichts und die selbstständige Strukturierung des Lernalltages demotivierend wirken können oder gar ein Lernen verhindern. Auch darf der Erhalt von sprachlernförderlichen Bedingungen nicht ausschließlich vom persönlichen Engagement der einzelnen Schülerinnen und Schüler abhängen, da diese in einer extremen Abhängigkeit zur agierenden Umwelt stehen, wie z.B. bestehende Bereitschaft sozialer Kontakte, diese Aufgabe zu übernehmen. Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler, die vor einem Übergang in eine Regelklasse stehen, werden vor diesem Hintergrund wohl kaum Chancen haben, diesen Zustand allein auszugleichen. Insbesondere hinsichtlich des zeitlichen Faktors stehen die Schülerinnen und Schüler unter hohem Druck, da sie angesichts ihres Alters und der rechtlichen Rahmenbedingungen zu Schulbesuch und berufsqualifizierenden Abschlussmöglichkeiten in kurzer Zeit hohe (sprachliche) Leistungen erbringen müssen. Dieser hat sich durch die pandemiebedingte Situation verschärft. Hier zeigt Berlin bereits erste Ansätze, diesen Druck durch bildungspolitische Vorgaben zu senken, indem die Gruppe priorisiert hinsichtlich der Rückkehr zu einem Präsenzunterricht behandelt und mehr Zeit z.B. beim Nachteilsausgleich (LISUM 2021) oder einem längeren Verweilen in Vorbereitungsklassen oder Klassenstufen gewährt wird. Inwiefern diese Maßnahmen ausreichend sind, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Dass die Schülerinnen und Schüler ihre Situation und Bedarfe reflektiert einschätzen können, zeigte sich in den Interviews deutlich. Politik, Verwaltung und Wissenschaft sollten daher darauf bedacht sein, diese Gruppe stärker einzubinden und zu Wort kommen zu lassen.