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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

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2.3 Veränderung der Sprachbegleitung unter COVID-19-Bedingungen

Infolge des ersten COVID-19-Lockdowns im Frühjahr 2020 mussten Bildungseinrichtungen ihre Lernangebote kurzfristig umstellen, sodass viele Bildungsangebote in den digitalen Raum verlagert und Sprachkurse für Geflüchtete abrupt abgebrochen wurden. Vor diesem Hintergrund wurde die Sprachbegleitung Geflüchteter neu ausgerichtet. Während vor dem Ausbruch der Pandemie Studierende ihre Sprachpartner*innen beispielsweise beim Einkaufen begleiteten, sie in Präsenztreffen bei der Aufbereitung schulbezogener Inhalte unterstützten oder gemeinsam gekocht wurde, waren solche Aktivitäten im Lockdown nicht mehr möglich. Stattdessen wurden nun Video- und Telefongespräche genutzt, um beispielsweise alltagsrelevante Themen (wie Wohnungs- und Arbeitssuche, Bus- und Bahnverkehr) zu besprechen, das Führen von Gesprächen im Rahmen von Arztbesuchen zu üben oder gemeinsam rezipierte Filme und Hörbücher zu diskutieren. Neben diesen synchronen wöchentlich stattfindenden Videocalls erfolgten auch asynchrone Aktivitäten. Hier wurden v.a. E-Mails und WhatsApp-Nachrichten ausgetauscht. Des Weiteren probierten Studierende und Sprachpartner*innen gemeinsam digitale Sprachlernmöglichkeiten aus (z.B. das VHS-Lernportal1).

Damit verfolgte das Projekt trotz der veränderten Bedingungen weiterhin das Ziel, den Geflüchteten je nach individuellen Bedürfnissen Sprachbegegnungen und Zugänge zur Sprachaneignung zu ermöglichen. Da einige Geflüchtete deutlich den Wunsch nach Deutschunterricht äußerten, entwickelten manche Studierende neben den individuellen sprachbegleitenden Konzepten auch sprachunterrichtsähnliche Ansätze, obwohl sie sich v.a. aufgrund ihrer Teilnahme am Begleitseminar darüber bewusst waren, dass sie keine professionellen Sprachlehrkräfte sind und dass Sprachunterricht für Geflüchtete eigentlich nicht deprofessionalisiert werden darf. Die Studierenden sowie die Projektleitung befanden und befinden sich somit in einem Konflikt, der immer wieder zum Thema des Begleitseminars gemacht und reflektiert wird.

An der Sprachbegleitung im Sommersemester 2020 nahmen insgesamt 31 Geflüchtete teil, von denen viele aufgrund des Lockdowns einen gerade begonnenen Deutschkurs unterbrechen mussten und aufgrund ihrer Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften vom Zugang zur deutschsprachigen Gesellschaft weitgehend abgeschnitten waren. Begleitet wurden sie von insgesamt 14 Lehramtsstudierenden unterschiedlicher Schulformen und -fächer; jede*r der Studierenden begleitete zwei oder drei Personen.

Die Sprachbegleitung im Sommersemester 2020 fand überwiegend digital statt. Gegen Ende des Semesters wurde das Kontaktverbot aufgehoben, sodass es in einigen Fällen auch zu persönlichen Treffen zwischen den Studierenden und Geflüchteten kam.

3 Forschungsstand zu (digitalen) sprach(lern)begleitenden Projekten
3.1 Sprachbegleitung als Brücke zwischen Ehrenamt und institutionellem Lernen

Da Geflüchtete häufig Ausgrenzung erfahren und nicht immer Zugang zu kommunikativer Praxis haben (siehe Abschnitt 2), soll die (digitale) Sprachbegleitung ebensolche Zugänge ermöglichen. Obwohl in den letzten Jahren ein bemerkenswerter Anstieg ehrenamtlichen Engagements in der sog. „Flüchtlingshilfe“1 zu verzeichnen ist (vgl. Schiffauer et al. 2017) und sich der größte Teil dieser ehrenamtlichen Tätigkeiten auf den Sprachunterricht Geflüchteter bezieht (vgl. Kleist 2017: 27; Stein/Weingraber 2019: 8), ist der Bereich der (digitalen) Sprachbegleitung als Brücke zwischen Ehrenamt und institutionellen Deutschlern-Angeboten bisher wenig erforscht. Insbesondere zum Kontext des vorliegenden Projekts, der Sprachbegleitung Geflüchteter durch Studierende, die einerseits keine professionellen Sprachlehrkräfte sind, andererseits aber im Rahmen des Begleitseminars auf diese Tätigkeit vorbereitet und begleitet werden und damit keine ausschließlich ehrenamtlich Tätigen sind, liegt nur in sehr eingeschränktem Umfang Forschung vor.

Zu erwähnen ist in diesem Kontext die Studie von Massumi (2016), die die Bedeutung eines BFP für die Professionalisierung von Lehramtsstudierenden untersucht, die „Sprachförderung“ für geflüchtete Kinder und Jugendliche gestalten, die sich in Notunterkünften befinden und keinen Schulzugang haben. Während dieses BFP ähnlich konzipiert ist wie das hier untersuchte Projekt, so liegt der Fokus jener Analyse jedoch auf der Lehrer*innenbildung: Die Analyse der E-Portfolios der Studierenden zeigt, dass die reflexive Auseinandersetzung mit ihrer Tätigkeit vor allem die „eigene Sensibilisierung für das Thema Flüchtlinge sowie die Bedeutung ihrer Erfahrungen im BFP für ihre Rolle als zukünftige Lehrkraft“ (Massumi 2016: 207) betrifft.

Somit bleiben die Perspektiven der Geflüchteten und das Potenzial des Projekts für ihre Teilhabe und den Zugang zu kommunikativer Praxis bislang unerforscht. Um die Sprachbegleitung durch Studierende trotz der eingeschränkten Forschungslage greifbar zu machen, weiten wir den Blick im Folgenden auf die Bereiche Ehrenamt und Patenschaften aus, die vielfache Berührungspunkte mit dem vorliegenden Projekt aufweisen. Denn im Gegensatz zum Themenfeld der Sprachbegleitung Geflüchteter durch Studierende liegen zu den Potenzialen und Wirkungen ehrenamtlicher Tätigkeit im Bereich von sog. Sprachunterricht2 zumindest einige wenige Erkenntnisse, Erfahrungsberichte und Empfehlungen vor, die herangezogen werden können.

Eine empirische Studie zu den Potenzialen und Wirkungen ehrenamtlicher Arbeit mit Geflüchteten stellt Kleist (2017) zur Verfügung, in der er die Ergebnisse einer Online-Befragung von mehr als 4000 ehrenamtlich Tätigen präsentiert. Mit seiner Befragung will er Einblicke in die soziodemografische Zusammensetzung der Gruppe der ehrenamtlich Tätigen gewinnen und „Faktoren und Motive des ehrenamtlichen Engagements für Flüchtlinge“ (Kleist 2017: 28) untersuchen. Seine Ergebnisse zeigen, dass unterrichtliche Angebote, insbesondere in Form von Sprachunterricht, eine der häufigsten Tätigkeiten von Ehrenamtlichen sind. Darüber hinaus zeigt er, dass Ehrenamtliche erwachsene und junge Geflüchtete mit Sprachunterricht, Integrationskursen und Nachhilfeunterricht auf ein „partizipatives Zusammenleben mit der aufnehmenden Gesellschaft vor[bereiten]“, „soziale Beziehungen […] bereit[…]stellen“ und damit soziales Kapital produzieren können, was wiederum eine wichtige Voraussetzung für Teilhabe am Bildungssystem ist (Kleist 2017: 30). Er schlussfolgert, dass ehrenamtliches Engagement „Zugänge zur Gesellschaft schafft und Institutionen dazu bringt, sich für Neuankommende zu öffnen“ (Kleist 2017: 30).

Eine spezifische Form der ehrenamtlichen Tätigkeit stellen Patenschaften dar. Diese zeichnen sich gerade auch durch ihre Orientierungsfunktion sowie dadurch aus, dass sie Zugänge zu Bildungs- und Freizeitangeboten schaffen, die auf Stärkung von Selbsthilfe und Empowerment abzielen (vgl. Huth 2017: 11). Die Beziehung in der Patenschaft ist konzeptionell kooperativ und ‚auf Augenhöhe‘ angelegt. Dabei unterstützen Pat*innen zugewanderte Personen in ihrem Alltag durch persönliche Beratung, Begleitung und konkrete Hilfestellung (vgl. Huth 2017: 10) und fungieren so als Sprach- und Kulturmittler*innen. Somit können Pat*innen „eine einzigartige Beziehung zu Flüchtlingen aufbauen, indem sie gezielt auf Menschen zugehen, persönliche Berührungspunkte herstellen und mit den Flüchtlingen eine ganzheitliche Begegnung erleben“ (vgl. Han-Broich 2015: 45). Gleichzeitig unterstützen Pat*innen Geflüchtete dabei, eigenständige Bewältigungsformen in ihrem neuen Lebensumfeld zu entwickeln und diese neue Umgebung aktiv mitzugestalten (vgl. Häseler-Bestmann et al. 2019: 169ff.).

Auch wenn bislang generell nur wenige wissenschaftliche Studien zu Lotsen-, Patenschafts- und Mentoring-Projekten vorliegen (vgl. Gesemann et al. 2020: 9), kann somit festgehalten werden, dass ehrenamtliche Projekte im Allgemeinen und Patenprojekte im Besonderen einen Beitrag zur Partizipation leisten, insbesondere wenn es um Sprachaneignung und (Aus-/Weiter-)Bildung geht (vgl. Heckmann 2015: 16). Die Charakteristiken und Zielsetzungen von ehrenamtlichen bzw. Patenprojekten greift auch die Sprachbegleitung Geflüchteter auf, wobei das besondere Augenmerk auf der Frage liegt, inwiefern das digitale Format Zugänge zu kommunikativer Praxis und gesellschaftlicher Teilhabe schaffen kann.

3.2 Sprachvermittlung und -begleitung im digitalen Raum

Während der Bereich der digitalen Sprachbegleitung bisher kaum erforscht ist, so wird das Unterrichten von Fremd- und Zweitsprachen mittels digitaler Medien im Rahmen der Computer- bzw. Mobile-Assisted-Language-Learning-Forschung intensiv untersucht (vgl. Falk 2019: 21ff.). Sowohl im Bereich der Forschung als auch der Bildungspolitik wird in diesem Kontext der Einbindung (mobiler) Technologien, sozialer Netzwerke und Anwendungen (Apps) aus dem Alltag der Lernenden in den Sprachunterricht schon seit einiger Zeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Falk 2019: 26ff.; Schiefner-Rohs 2017). Auch im Rahmen eher informell gestalteter Lernprozesse, wie sie im hier betrachteten Projekt stattfinden, kommt dem Einbezug der alltäglichen Mediennutzung der Lernenden eine bedeutende Rolle zu, da sie Sozialisierungsprozesse und soziale Teilhabe unterstützt und so nicht nur hohe alltagsweltliche, sondern auch lernbezogene Relevanz besitzt. Auffällig ist dabei, dass die Einbindung digitaler Medien in den Sprachunterricht vorrangig in fremdsprachlichen Kontexten untersucht wird und hierbei vor allem der Einbezug textbasierter Formen der computergestützten Kommunikation (z.B. E-Mails, Blogs, Chats) in den traditionellen Präsenzunterricht fokussiert wird (vgl. Drumm et al. im Druck). Zudem wird betont, dass trotz des vielfach attestierten Mehrwerts digitaler Medien im Sprachunterricht der didaktisch-methodischen Vorbereitung und Begleitung der digitalen Mediennutzung durch die Lehrkraft eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. Zink 2019: 30).

 

Der vorliegende Untersuchungskontext weicht jedoch in mehrfacher Hinsicht von der aktuellen Studienlage ab: Wir betrachten nicht nur die außerunterrichtliche, eher informelle Unterstützung von Zweitspracherwerb und Partizipation, sondern bewegen uns aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen im Bereich der audio-/videogestützten Interaktions- und Lernkontexte. Einige der grundsätzlichen Vorteile dieser Interaktionsform umfassen: die Möglichkeit, die dynamische Face-to-Face-Interaktion über große Distanzen hinweg simulieren (vgl. Milojković 2019: 99) sowie diverse Medien, Lernmaterialien und Informationsquellen einbinden zu können; die Unterstützung des selbstregulierten und -engagierten Lernens (vgl. Sama/Wu 2019: 92); und eine zumeist positive Einstellung der Lernenden gegenüber videogestützten Lernformen (vgl. Drumm et al. im Druck; Yanguas 2012: 523). Zudem zeigen Hoshii und Schumacher (2016, 2020), dass Videokonferenzen die interaktionale Kompetenz bei Lernenden und angehenden Lehrenden fördern können und die Akteur*innen die videogestützte Kommunikation als authentisch und motivierend empfinden. Zugleich erweisen sich diese Lernkontexte als problematisch hinsichtlich der notwendigen Voraussetzungen auf Seiten der Lernenden und Lehrenden, die nicht nur über entsprechende Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien, sondern auch über (stabilen) Internetzugang und eine technische Ausstattung verfügen müssen (vgl. Giglio 2019: 25; Steininger 2020: 70). Als Herausforderung erweist sich außerdem die Schaffung von informellen Interaktionsmöglichkeiten (vgl. Drumm et al. im Druck), die gerade im Rahmen von sozialer Teilhabe von großer Bedeutung für die Sprachlernenden sind.

An ebendieser Stelle setzen Projekte wie die Sprachbegleitung Geflüchteter und weitere Angebote im Bereich Deutsch als Zweitsprache an, von denen zwei exemplarisch beleuchtet werden sollen. Zum einen ist der Live Online Sprachkurs Deutsch für Geflüchtete, ein Kooperationsprojekt der Leuphana-Universität Lüneburg, zu nennen, der sich an geflüchtete Studieninteressierte und v.a. solche mit unsicherem Aufenthaltsstatus und aus dem ländlichen Raum richtet (vgl. Janca 2019: 151). Dozierende von Partnerhochschulen vermitteln theoretische Grundlagen ausgewählter Studienrichtungen auf Englisch, während parallel synchron geführte Online-Sprachkurse für Deutsch aller Niveaustufen angeboten werden. Als Herausforderungen des Programms erweisen sich v.a. technische Aspekte hinsichtlich Ausstattung und Umgang sowie unterschiedliche Erwartungen von Lernenden und Lehrenden bzgl. der Lerninhalte. Die Lernenden empfinden jedoch gerade das angebotene Konversationstraining als Vorteil des Programms gegenüber traditionellen digitalen Selbstlernangeboten (vgl. Janca 2019: 162f.). Ein zweites digitales Projekt, das sich speziell an jugendliche Geflüchtete im Raum Bremen richtet, ist die Entwicklung der mobilen App Moin, „that enables and motivates both local and migrant teenagers to meet for social events and provides some assistance with contextual language learning“ (vgl. Ngan et al. 2016: 522). Mittels dieser App können Nutzer*innen Events erstellen oder an diesen teilnehmen, um so andere Nutzer*innen mit ähnlichen Interessen zu finden und Gelegenheiten zum informellen Sprachenlernen und sozialer Teilhabe zu nutzen. Zusätzlich bietet die App Wortschatzübungen an, die sich an möglichen Events, Aktivitäten und kulturellen Besonderheiten in Bremen ausrichten. Erste Nutzertests zeigen dabei, dass die Geflüchteten eher Probleme mit der Nutzung der App berichten als die nicht-geflüchteten Nutzer*innen (vgl. Ngan et al. 2016: 524), was abermals Herausforderungen bzgl. Technik und Teilhabe unterstreicht.

Auch wenn die Daten- und Studienlage hinsichtlich der hier vorgestellten Projekte und in diesem Forschungsbereich allgemein eher gering ist, so zeigt sich, dass schon vor dem pandemiebedingten Ausfall von Präsenzangeboten die Notwendigkeit erkannt wurde, die traditionellen Sprachlern-, Bildungs- und Teilhabeangebote für Geflüchtete durch digitale Optionen zu ergänzen, um Aspekte der Benachteiligung auszugleichen und die Mediennutzungsgewohnheiten der Zielgruppe(n) einzubeziehen. Überdies sind gerade im Zuge der COVID-19-Pandemie weitere Angebote entstanden, zu denen z.B. das vom Stifterverband ausgezeichnete Projekt DaZ-Buddies: Kau mir ein Ohr ab! zählt, das sich speziell an Schulkinder richtet und von der Universität Augsburg durchgeführt wird1. Auch das ebenfalls vom Stifterverband ausgezeichnete Projekt Vielfalt stärken – Sprachbildung digital der Universität Paderborn2 zählt zu diesen Projekten. Des Weiteren ist das Projekt digitaler Sprachpatenschaften der Tür an Tür Integrationsprojekte gGmbH in Augsburg anzuführen, bei dem ehrenamtliche Dozierende gering literalisierte und lernungewohnte Geflüchtete durch videobasierten Sprachunterricht unterstützen (vgl. Waggershauser/Lier 2021). Waggershauser und Lier (2021) zeigen dabei die Bedeutung von digitalen Medien auf und veranschaulichen anhand empirischer Beispiele digitale Praktiken von Kursteilnehmenden. Die Erforschung dieses besonderen Lernkontextes im Rahmen der Ermöglichung von Zweitspracherwerb und sozialer Teilhabe ist somit besonders dringlich.

4 Forschungsdesign

In einem ersten Schritt wurden 18 iranische und fünf afghanische Geflüchtete mittels Fragebögen befragt, um erste Erkenntnisse über ihre (Sprachlern-)Biografien, technischen Rahmenbedingungen, Erfahrungen mit der digitalen Sprachbegleitung, Interaktion mit den Sprachbegleitenden und ihr Deutschlernen in Lerngruppen zu erhalten. Der Fragebogen wurde in den Erstsprachen (Dari/Farsi) der Geflüchteten verfasst und ausgefüllt. Wie hierbei ermittelt werden konnte, nahmen viele der Geflüchteten mithilfe ihres Mobiltelefons an der Sprachbegleitung teil; nur wenigen stand ein Tablet oder Computer zur Verfügung. Die Teilnehmenden hatten sich mehrheitlich für das Projekt entschieden, weil sie keine andere Möglichkeit hatten, Deutsch zu lernen und weitgehend von Teilhabe am gesellschaftlichen und Arbeitsleben abgeschnitten waren.

Die Auswertung der Fragebögen stellte die Grundlage für die Auswahl der drei Proband*innen dar, die an den Interviews teilnahmen. Die Auswahl richtete sich nach der Strategie der maximalen Variation (vgl. Flick 2011: 165), um ein möglichst breites Spektrum an (sprachlern-)biografischen Hintergründen und Erfahrungen mit dem Projekt abzudecken, wobei neben der Einbindung in soziale und bildungsbezogene Strukturen auch das Alter, der (Aus-)Bildungsstatus, Sprachlernerfahrungen und die allgemeine Lebenssituation als Kriterien herangezogen wurden.

Bei dem Interview handelte es sich um ein semi-strukturiertes Leitfaden-Interview, das in Anlehnung an das episodische Interview konzipiert wurde. Hierbei werden mittels gezielter Erzählaufforderungen und Fragen narrative und argumentative Elemente elizitiert, um so bedeutsame Situationen und Erfahrungen, aber auch Generalisierungen, Abstraktionen und Zusammenhänge aus Sicht der Teilnehmenden zu beleuchten (vgl. Flick 2011: 270f.; Lamnek 2005: 362). So wurden die Teilnehmenden fortlaufend zu ausführlichen Erzählungen aufgefordert; zugleich wurden mittels zielgerichteter Nachfragen allgemeinere Zusammenhänge thematisiert. Um möglichst dichte Narrationen zu erhalten, wurden die Interviews von einer Muttersprachlerin auf Dari/Farsi geführt und anschließend transkribiert (soweit möglich nach CHAT-Konventionen, vgl. MacWhinney 2021) und ins Deutsche übersetzt. Die Interviews variierten in der Länge zwischen ca. 45 und 80 Minuten und wurden im Februar und März 2021 mittels Videokonferenz durchgeführt und aufgezeichnet. Für zwei der Interviewten (Amira1, Saeeda) lag die Teilnahme an der Sprachbegleitung zum Zeitpunkt des Interviews ca. 6 Monate zurück (Teilnahmezeitraum: 04–07/2020); der dritte Interviewte (Sami) nahm weiterhin an der Sprachbegleitung teil (Teilnahmezeitraum: 04–07/2020 sowie 10/2020–02/2021).

Das Interview fokussierte die Partizipationserfahrungen und -möglichkeiten im Alltag sowie an Bildung, die Wahrnehmung der Projektteilnahme allgemein und hinsichtlich der digitalen Umsetzung, die Interaktion mit den Sprachbegleitenden sowie die Sprachlernsituation vor und nach der Projektteilnahme.

Die Auswertung der Interviewdaten richtete sich nach den Prinzipien der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2010). Dabei wurden die Interviewtexte induktiv nach den folgenden Hauptkategorien strukturiert: 1) Alltag und soziale Teilhabe der Teilnehmenden, 2) ihre Sprachverwendung und ihr (Sprachen-)Lernen sowie 3) ihre Erfahrungen und Bewertungen hinsichtlich der Sprachbegleitung Geflüchteter. Innerhalb dieser Hauptkategorien wurden Unterkategorien gebildet, die sich einzelnen Teilaspekten widmeten; z.B. bestand Hauptkategorie 2 aus den Unterkategorien: Sprachverwendung im Alltag; aktuelle Sprachlernsituation; Einschätzung der Sprachaneignung; Erfahrungen mit institutionellem Lernen; Lernziele. Um die Lebenssituation und Erfahrungen in Breite und Tiefe erfassen zu können, wurden anschließend Darstellungen zu jedem Teilnehmenden erarbeitet (siehe Abschnitt 5). Zum Schluss wurden die wichtigsten Ergebnisse innerhalb der Hauptkategorien übergreifend zusammengefasst und diskutiert (siehe Abschnitt 6).

5 Ergebnisse der Untersuchung
5.1 Sami

Sami ist zur Zeit des Interviews 19 Jahre alt. Als Teil der (sprach-)lernbiographischen Informationen gab er im Fragebogen an, dass er etwa 6 Jahre zuvor als unbegleiteter Minderjähriger aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet ist. Seine Erstsprache ist Dari. Er spricht auch Farsi und Usbekisch. In seiner Heimat hat er keine Schule besucht und als Bauer gearbeitet. In Deutschland angekommen, besuchte er zuerst eine Hauptschule, die in der Region ausschließlich für neu zugewanderte Schüler*innen eingerichtet wurde. Die Schüler*innen werden dort ca. zwei Jahre beschult und anschließend an andere Schulen verwiesen. Anschließend absolvierte er an einer beruflichen Schule einen Hauptschulabschluss. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet er sich im ersten Jahr einer beruflichen Ausbildung und lebt im Umland der Stadt Paderborn in einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete. Seine Wohneinheit teilt er sich mit einer weiteren Person. Er kann aufgrund seines Aufenthaltstitels seinen Wohnort nicht frei wählen.

In Bezug auf die Verhältnisse, die sein Leben bestimmen, äußert Sami während des Interviews, dass er mittlerweile sein Leben selbstständig bewältigen kann, worauf er stolz ist:

(1) Aber ich schaffe es alleine und mache alles selbstständig, ohne Vater, Mutter. (.) Ich bin endlich ein Mann geworden (Sami, Z. 281–283).

Als weniger positiv bewertet er seine Wohnsituation und technische Ausstattung; er hat nur ein geliehenes Laptop. Bedingt durch die COVID-19-Pandemie ist Sami zum Zeitpunkt des Interviews bereits seit zwei Monaten im Homeschooling und empfindet Monotonie, Langeweile und Einsamkeit.

Vor der Pandemie bestehen seine Zugänge zu sozialen Praktiken darin, dass er Sport in diversen Sporteinrichtungen treibt und Unternehmungen in der Stadt macht. Seit der Pandemie ist das Sporttreiben in Sportstätten, das ihm sehr wichtig ist, nicht möglich, sodass er nicht nur von seinem Hobby, sondern auch von seinen (Deutsch sprechenden) Sport-Freunden abgeschnitten ist. Sami sucht daher Kontakt zu anderen geflüchteten Jugendlichen in seiner Unterkunft, die aber seine Interessen nicht teilen und deren mangelnde Deutschkenntnisse er als Barriere wahrnimmt. Er fühlt sich in seiner sozialen Teilhabe eingeschränkt und stellt fest, dass ein Auto oder eine Wohnung in Paderborn (statt im Umkreis) diese Einschränkungen verringern würden.

In Bezug auf seine Bildungsteilhabe berichtet er, dass es für ihn schwierig ist, am berufsschulischen Fernunterricht teilzuhaben, dass er sich bei Fragen und Problemen aber an seine Lehrer*innen wenden kann, wenn auch pandemiebedingt nur über Anrufe. Insgesamt empfindet Sami das Lernen in der beruflichen Schule als recht unpersönlich und als wenig auf seine individuellen Bedürfnisse ausgerichtet.

Eng verwoben mit der sozialen und Bildungsteilhabe ist der Zugang zu kommunikativer Praxis. Sami berichtet, viel und häufig mit seinen Freunden auf Deutsch zu sprechen und zu schreiben.

 

Mittlerweile beherrscht Sami die deutsche Sprache aus seiner Sicht so gut, dass er auch herausfordernde Situationen gut bewältigen kann. Er strengt sich darüber hinaus an, seine Kompetenzen auch weiterhin zu verbessern, worauf er stolz ist. Als Ziele seines (weiteren) Deutschlernens beschreibt Sami, dass er seine Ausbildung erfolgreich abschließen möchte.

Sami nimmt zum Zeitpunkt des Interviews bereits im zweiten Semester an der Sprachbegleitung Geflüchteter teil. Im ersten Semester, in dem die Sprachbegleitung digital beginnt und gegen Ende der Sprachbegleitung in Präsenz stattfindet, ist ein etwa gleichaltriger Student sein Sprachbegleiter, der Wirtschaftswissenschaften und Deutsch für das Lehramt an beruflichen Schulen studiert. Im zweiten Semester findet die Sprachbegleitung ausschließlich digital statt und seine Sprachbegleiterin ist eine Studentin. Samis Äußerungen zur Sprachbegleitung beziehen sich überwiegend auf seine Teilnahme im ersten Semester, möglicherweise aufgrund der engen Beziehung, die er zu dem ebenfalls männlichen Sprachbegleiter aufbauen kann (vgl. Zitat 6), mit dem er ein Interesse für Sport teilt.

Durch die Sprachbegleitung wird Samis Zugang zu kommunikativer Praxis in der deutschen Sprache gestärkt, es werden Möglichkeiten für deutschsprachige Interaktionen geschaffen:

(2) Ich habe noch jemanden kennengelernt (.) das war auch gut (.) ein neuer Mensch (Sami, Z. 96–97).

Im Rahmen der Sprachbegleitung hat er die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Sprachbegleiter im digitalen Austausch seine Bewerbungen zu schreiben und schlussfolgert:

(3) Er hat mir geholfen, sonst hätte ich keine Ausbildung finden können (.) mit seiner Hilfe habe ich eine Ausbildung gefunden (Sami, Z. 115–116).

Des Weiteren unterstützt der Sprachbegleiter ihn bei seinen Hausaufgaben und dem Lernen für die berufliche Schule sowie in Bezug auf den Umgang mit dem Computer:

(4) Denn meine Lehrer geben mir Hausaufgaben. Sie sagen mir aber nicht, wie ich sie machen soll (.) das kann ich wiederum mit dem Sprachbegleiter üben.

[…]

Mir hat geholfen, wie ich mit dem Computer umgehe (.) die technischen Sachen hat er mir beigebracht (.) zum Beispiel konnte ich keine E-Mail oder Bewerbung schreiben […] (Sami, Z. 185–203).

Dabei äußert er das Ziel, dass er seine Hausaufgaben gern selbstständig bearbeiten können möchte, aber nicht gern allein lernt.

Systematisches Deutschlernen findet im Rahmen der Sprachbegleitung nicht statt, nur punktuell gibt der Sprachbegleiter Hilfe bei sprachlichen Problemen, indem er Sami beim Formulieren von Sätzen hilft und Aussprache mit ihm übt. Dennoch berichtet er, dass sich seine Deutschkompetenzen durch die Sprachbegleitung verbessern. Seine Interaktion mit dem Sprachbegleiter beschreibt er als offenes und vertrautes Miteinandersprechen, obwohl die Sprachbegleitung überwiegend digital stattfindet:

(5) Der erste war ein Junge, ich bin auch ein Junge, also haben wir sehr frei gesprochen. Jetzt ist es auch kein Problem (Sami, Z. 214–215).

Sami beschreibt die Sprachbegleitung als verlässlich und auf seine Bedürfnisse abgestimmt. Nachdem er seinen Sprachbegleiter zunächst als Lehrer wahrgenommen und auch so angesprochen hat, nimmt er ihn nach und nach eher als Freund und Unterstützer wahr, der Hilfe im Alltag, beim Lernen für die berufliche Schule und der Ausbildungssuche leistet und Zugang zu kommunikativer Praxis in der deutschen Sprache schafft. Sein Sprachbegleiter ist ein Peer, mit dem man außerdem gemeinsam Dinge unternehmen kann. Das beste Erlebnis im Rahmen der Sprachbegleitung ist für Sami ein gemeinsames Grillen am Ende des Semesters.

Als Vorteile dieser digitalen Sprachbegleitung betrachtet Sami es, dass keine umständliche Anreise aus seinem abgelegenen Wohnort erforderlich ist und dass es einfacher ist, pünktlich zu sein. Er empfindet den Zugang zu den Gesprächen als einfach und effizient. Die Nachteile der digitalen Sprachbegleitung bestehen für ihn darin, dass die Sprachbegleiterin ihm beispielsweise beim Lernen oder bei technischen Problemen nicht schnell und unmittelbar helfen kann, weil sie nicht neben ihm sitzt. Sami beschreibt des Weiteren, dass das digitale Kennenlernen des Gegenübers als Person schwierig ist, weil man nur einen kleinen Ausschnitt der Person sieht und die physische Präsenz fehlt:

(6) Man konnte nicht verstehen, was für ein Mensch er ist, wie er tickt. […] Man konnte nur sein Gesicht sehen (.) das störte wieder etwas (Sami, Z. 139–141).

Außerdem sind in der digitalen Sprachbegleitung keine spontanen Aktivitäten mit den Sprachbegleitenden möglich. Zudem erwähnt Sami die schlechte Internet-Verbindung und Ablenkung durch sein Handy als Nachteile der digitalen Sprachbegleitung.