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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

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5 Korpusanalytische Untersuchung

Bevor wir im Folgenden auf das empirische Untersuchungsdesign eingehen, müssen vorab einige grundsätzliche methodische Aspekte hinsichtlich der hier fokussierten Forschungsfrage dargelegt werden. Für Neuzugewanderte in Vorbereitungsklassen liegen weder umfassende empirische Erkenntnisse zu Erwerbsverläufen noch Daten aus Vergleichsarbeiten (bspw. im Sinne von VERA 8)1 vor. Es fehlt somit eine Vergleichsfolie, vor deren Hintergrund sich eindeutig abschätzen lässt, ob pandemiebedingte Schulschließungen tatsächlich zu Lernunterbrechungen und dabei zu Lernverzögerungen oder gar -rückschritten geführt haben. Dieser Umstand muss bei der Interpretation der Daten im Folgenden entsprechend berücksichtigt werden.

5.1 Forschungsfragen

Trotz der methodischen Hürden wird im Folgenden der Versuch unternommen, am Beispiel der Entwicklung der Verbstellung nachzuvollziehen, ob die sprachliche Entwicklung neu zugewanderter Schüler:innen von den pandemiebedingten Schulschließungen beeinflusst wird. Diese Frage wird mithilfe eines Lernertextkorpus angegangen, bei dem Texte zu zwei Messzeitpunkten verglichen wurden. Der erste Messzeitpunkt (T1) umfasst den Lernstand kurz vor den Schulschließungen (Februar/März 2020), der zweite (T2) den nach Wiederaufnahme des (eingeschränkten) Regelbetriebs (Juni/Juli 2021). Wir gehen dabei der Frage nach, ob sich am Beispiel der Verbstellung Unterschiede zwischen den beiden Messzeitpunkten zeigen. Denkbar sind dabei drei Szenarien:

1 In T2 finden sich im Sinne der Erwerbsprogression aus Tab. 1 höhere Erwerbsstufen als in T1. Das Distanzlernen hätte damit keinen negativen Einfluss auf die Sprachentwicklung.

2 In T2 finden sich im Sinne der Erwerbsprogression aus Tab. 1 niedrigere Erwerbsstufen als in T1. Das Distanzlernen hätte damit hypothetisch einen negativen Einfluss dahingehend, dass Lerner:innen ihren Lernstand nicht halten können.

3 In T2 finden sich im Sinne der Erwerbsprogression aus Tab. 1 keine Unterschiede zu T1. Eine solche Stagnation kann dabei entweder auf eine pandemiebedingt langsamere Entwicklung hindeuten oder aber in der individuellen Erwerbsgeschwindigkeit begründet liegen.

Denkbar ist angesichts der großen Heterogenität der Lernvoraussetzungen, dass ein Nebeneinander aller drei Szenarien vorzufinden ist. Dabei ist Szenario (3) im Kontext einer Sprachentwicklungsperspektive grade aufgrund des Vorhandenseins unterschiedlicher Erwerbsgeschwindigkeiten (vgl. Czinglar 2018) dasjenige, das mit Blick auf die Frage, ob und welche Auswirkungen das Distanzlernen auf die Sprachentwicklung hat, am schwierigsten zu interpretieren ist. Langsamere Lerner:innen würden u.U. auch im Präsenzunterricht im Laufe von etwas drei bis vier Monaten, die zwischen T1 und T2 liegen, nicht zwangsweise eine höhere Stufe bei der Verbstellung erreichen. Umgekehrt ist das Erreichen einer höheren Stufe (also Szenario 1) per se ein Entwicklungserfolg, wenn man bedenkt, dass knapp drei Monate ein vergleichsweise kurzer Zeitraum sind. In jedem Fall offenbart sich für Szenario 3 die Problematik der fehlenden Vergleichsfolie, vor deren Hintergrund bspw. abschätzbar wäre, wie lange Lerner:innen im Schnitt zum Erreichen einer bestimmten Stufe benötigen und welche Lernvoraussetzungen den Lernprozess beschleunigen oder verlangsamen. In der folgenden Datenanalyse liegt der Fokus auf der detaillierten Betrachtung individueller Profile für die beiden betreffenden Messzeitpunkte.

5.2 Textkorpus

Das erhobene Textkorpus umfasst frei geschriebene Texte aus zwei Vorbereitungsklassen in zwei Bundesländern. Lehrkräfte wurden gebeten, (weitgehend) frei geschriebene Texte zusammenzustellen, die im Unterrichtsverlauf kurz vor den Schulschließungen (Februar/März 2020 (T1)) und kurz nach Wiederaufnahme des eingeschränkten Regelbetriebs (Juni/Juli 2020 (T2)) geschrieben wurden. Nicht in Frage kamen schriftliche Übungen in Form von Lückentests, Satzbildungsaufgaben sowie Texte, die zuvor in Form von Wortschatz- oder Strukturübungen angeleitet und vorbereitet wurden.1 Eine kontrollierte Erhebung von (ggf. auch mündlichen) Sprachdaten war für T1 aus offensichtlichen Gründen nicht möglich.

Insgesamt konnten 45 Texte von 16 Schüler:innen gesammelt werden, 21 davon für T1 und 24 für T2. Die Texte variierten in Hinblick auf die Aufgabenstellung sowohl zwischen den einzelnen Erhebungszeitpunkten als auch zwischen den Schulen. Neben Berichten zu schulischen Veranstaltungen (Turnier, Wintersporttag) finden sich Erzählungen auf Grundlage von Bildergeschichten (Fahrrad, Vater und Sohn), Beschreibungen (Meine Stadt, Einkaufstasche, Stuttgart), Briefe (Bodensee, Umwelt) sowie Erzählungen zu individuellen Erlebnissen (Reise). Aufgrund der allgemeinen Ähnlichkeit der überwiegend erzählenden Textprodukte kann eine grundsätzliche Vergleichbarkeit der Texte angenommen werden.2

Während aus Vorbereitungsklasse 1 (V1) nur drei Texttypen vorliegen, wurden in V2 insgesamt sieben verschiedene Texttypen gesammelt, wobei nicht jede:r Proband:in zu jeder Aufgabe einen Text verfasst hat (s. Tab. 2). Eine grundsätzliche Problematik des vorliegenden Korpus stellt die Vergleichbarkeit der beiden Erhebungszeiträume T1 und T2 dar. Eine idealerweise wiederholte Erhebung mit gleicher Aufgabenstellung bei T2 war jedoch aus organisatorischen Gründen nicht möglich, da die Lehrkräfte den vergleichsweise kurzen Zeitraum zwischen Wiederaufnahme des eingeschränkten Regelbetriebs und den Sommerferien nutzten, um ‚im Stoff‘ voranzukommen und keine Zusatzaufgaben im Unterricht einbinden konnten.

5.3 Proband:innen

Das Korpus umfasst Texte von insgesamt 16 Schüler:innen, die sich in Bezug auf ihre Lernausgangsbedingungen teils sehr unterscheiden. Sprachbiographische Metadaten, wie Alter, Lerndauer, Sprachkenntnisse oder Beschulungsart, wurden mittels eines Fragebogens erfasst, der von der jeweiligen Lehrkraft ausgefüllt wurde. Das Durchschnittsalter der Schüler:innen liegt bei 15,5 Jahren (SD = 1,15; min. 14, max. 17), die durchschnittliche Kontaktdauer zum Deutschen bei 11,7 Kontaktmonaten (SD = 5,28; min. 2, max. 22). 15 der 16 teilnehmenden Schüler:innen sind mehrsprachig, also entweder bilingual aufgewachsen oder sprachlernerfahren in mindestens einer weiteren Sprache außer Deutsch. Alle Schüler:innen sind zudem in ihrer/n Herkunftssprache/n alphabetisiert und weisen eine – weitgehend – normale Schulbesuchsdauer im Herkunftsland auf (s. Tab. 2).

Die Lehrkräfte gaben in Bezug auf die Lernformate während des Distanzunterrichts an, dass die Schüler:innen während der Schulschließung Pakete mit Lernmaterialien (in V1 digital, in V2 per Post) zum eigenständigen Arbeiten erhielten. In V1 unterstütze die Lehrkraft die Schüler:innen von Beginn der Schulschließungen an durch regelmäßige Videokonferenzen, sowohl in Form von Gruppen- als auch Einzelvideoanrufen; in V2 wurde der persönliche Kontakt via Messenger gehalten. Hinzu kommt in V1, dass die Schule bereits vor dem Lockdown mit einem schulinternen Lernserver gearbeitet hat, den auch die Schüler:innen in der Vorbereitungsklasse (sporadisch) nutzten. Die Arbeit mit digitalen Medien war dort somit nicht gänzlich neu.

5.4 Datenaufbereitung und -analyse

Die erhobenen Texte wurden mithilfe des EXMARaLDA-Partitur-Editors (vgl. Schmidt/Wörner 2014) nach modifizierter HIAT-Konvention (vgl. Rehbein et al. 2004) transkribiert und in satzwertige Äußerungseinheiten zerlegt, wobei Korrekturen berücksichtigt und kenntlich gemacht wurden. Das an Grießhaber (2013) angelehnte Vorgehen orientiert sich dabei nach Möglichkeit an der Interpunktion der Schüler:innen. Anschließend wurden die Transkripte in Hinblick auf die in Tabelle 1 dargestellten Verbstellungsmuster annotiert. Elliptische Strukturen werden dabei in Anlehnung an Grießhaber (2005:12) analog zu vollständig verbalisierten Äußerungen annotiert, wenn die Äußerungen in dieser Form zielsprachlich waren.

Diese Annotation ermöglicht zwei Formen der Auswertung: Zum einen kann für jeden Text im Sinne des profilanalytischen Vorgehens nach Grießhaber die jeweils erreichte Profilstufe ermittelt werden. Zum anderen kann ein Feinprofil des Textes mit der Häufigkeit einzelner Strukturmuster erstellt werden. Während Grießhaber ein Erwerbskriterium von mindestens drei Belegen für Verbstellungsmuster anwendet, um das Erreichen der entsprechenden Profilstufe zu attestieren (Grießhaber 2018: 13), erlauben die Feinprofile auch einen Blick auf die Anteile von Strukturen bzw. die Emergenz von Erwerbsstufen, die unter dem Erwerbskriterium bleiben. Diese in beiden Fällen möglichst deskriptive Annäherung an die schriftsprachliche Produktion von Verb- und Wortstellungsmustern erfolgt im Folgenden jeweils individuell für die einzelnen Proband:innen.

6 Ergebnisse
6.1 Profilstufen vor und nach den Schulschließungen

Zunächst erfolgte ein Vergleich der ermittelten Profilstufen (PS) aller Proband:innen für die Erhebungszeitpunkte T1 und T2. Tabelle 2 zeigt – neben den in Abschnitt 5.3 angesprochenen Metadaten – Anzahl und Typ der Textprodukte der einzelnen Proband:innen sowie eine Zuordnung zu den in Abschnitt 5.1 skizzierten Erwerbsszenarien. Liegen zu einem Erhebungszeitpunkt mehrere Texte eine:r Proband:in vor, die verschiedene Profilstufen aufweisen, wurde für den Vergleich jeweils der Text mit der höchsten Profilstufe zugrunde gelegt.

Bereits auf Grundlage des Umstandes, dass für verschiedene Proband:innen zu einem Erhebungszeitpunkt Texte mit teils unterschiedlichen Profilstufen vorliegen, kommen Fragen nach der Reliabilität der Profilanalyse auf (vgl. zu Fragen der Testgütekriterien der Profilanalyse auch Ehl et al. 2018). Jenseits dieser grundsätzlichen diagnostischen Problematik finden wir eine große Heterogenität der Profile zum Zeitpunkt T1, die weder auf das Alter noch die Kontaktdauer zurückgeführt werden kann. Exemplarisch zeigt sich dies bei den Proband:innen in V1 sowie durch den Vergleich der Proband:innen P5 und P14, die trotz jeweils gleicher Anzahl an Kontaktmonaten sehr unterschiedliche Profilstufen erreichen. Dieser Umstand zeigt u.E. deutlich, dass sich die eingangs skizzierte Heterogenität von Lerner:innen innerhalb einzelner Vorbereitungsklassen auch in unterschiedlichen sprachlichen Erwerbsständen niederschlagen kann.

 

Tab. 2: Übersicht der Proband:innen und Ergebnisse des Profilstufenvergleichs zwischen T1 und T2; PS = Profilstufe; KM = Kontaktmonat (hier: Dauer des Schulbesuchs in Deutschland); ALB = Albanisch, BOS = Bosnisch, ENG = Englisch, GRE = Griechisch, HUN = Ungarisch, HRV = Kroatisch, ITA = Italienisch, KUR = Kurmancȋ, POL = Polnisch, SPA = Spanisch, SRP = Serbisch, THA = Thai, TUR = Türkisch, URD = Urdu

Mit Blick auf die Forschungsfrage und die daraus abgeleiteten drei Szenarien lässt sich durch den Vergleich der Gesamtprofilstufen in T1 und T2 kein klares Bild zeichnen: Bei neun Proband:innen findet sich kein Unterschied der Profilstufen (Szenario 3), bei vier Proband:innen weisen die T2-Texte eine höhere Profilstufe auf als in T1 (Szenario 1) und bei drei Proband:innen findet sich in den T2-Texten eine niedrigere Profilstufe als in T1 (Szenario 2).

Angesichts der beschriebenen großen Heterogenität der Proband:innengruppe ist es kaum überraschend, dass sich kein einheitliches Bild abzeichnet. In Bezug auf mögliche individuelle Einflussfaktoren zeigt sich jedoch, dass die Kontaktaufrechterhaltung während der Schulschließung einen möglichen Einfluss auf die sprachliche Entwicklung hat. Höhere Profilstufen bei T2 finden sich überwiegend in der Klasse V1. Über die Gründe hierfür lässt sich aufgrund der geringen Datenbasis nur spekulieren. In Frage kommt zum einen die Intensität des Kontakts, der in V1 durch regelmäßige und kontinuierliche Videokonferenzen von Beginn der Schulschließung an aufrechterhalten wurde. Ebenso denkbar sind individuelle Faktoren, hier insbesondere die Motivation der Schüler:innen: Alle drei Lerner:innen in V1 sollten nach den Sommerferien in eine Regelklasse wechseln und waren dadurch besonders motiviert, den Anschluss nicht zu verlieren. Denkbar ist auch, dass eine Mischung aus individuellen motivationalen Faktoren und einer intensiven Betreuung durch die Lehrkraft eine potentielle Lernunterbrechung bei Schüler:innen der V1 eher verhindert hat.

Einen starken Einfluss scheint die bei T1 bereits erreichte Profilstufe zu haben. Bei drei von vier Proband:innen, die in T1 eher niedrigere Stufen (Finitum, Separation) erreichen, zeigt sich in T2 eine höhere Profilstufe (P2, P3, P16). Bei Proband:innen, deren Texte bei T1 höhere Stufen erreichen (Inversion, Nebensatz mit Verbletztstellung), finden sich überwiegend keine Veränderungen in der Profilstufe in T2 (P1, P4, P6, P7, P9, P10, P11, P12, P13). Bei Proband:innen, deren Sprachstand bei T1 eher auf den niedrigeren Profilstufen (Stufen 1 oder 2) anzusiedeln war, scheint eine Verbesserung wahrscheinlicher als bei denjenigen, die sich vor den Schulschließungen auf höheren Stufen (Stufen 3 oder 4) befanden. Eine oberflächlich erscheinende Stagnation bei letzteren Schüler:innen kann dabei auch auf eine grundsätzlich längere Verweildauer auf höheren Erwerbsstufen zurückführbar sein. Generell ist es erstaunlich, dass grade diejenigen Lerner:innen, die einen eher niedrigen Sprachstand aufweisen, zu denjenigen zählen, die ihre Fähigkeiten trotz der veränderten und erschwerten Lernbedingungen ausbauen können.

Der erste Analyseschritt hat gezeigt, dass sich mittels eines profilanalytischen Zugangs keine klare Antwort auf die Frage geben lässt, ob und wie das pandemiebedingte Distanzlernen die Sprachentwicklung (am Beispiel des Erwerbs der Verbstellungsmuster) beeinflusst. Dieser Umstand liegt dabei sowohl im verfügbaren Datenmaterial, in der Komplexität der Interpretation der Ergebnisse, aber auch im profilanalytischen Verfahren selbst begründet. So kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Teil der ermittelten Profilstufen das Gesamtbild verfälschen, weil die – in unserer Studie nicht kontrollierbaren – Aufgabenstellungen zu teils unterschiedlichen Ergebnissen führen. Hinzu kommt, dass das profilanalytische Kriterium des dreimaligen Vorkommens einer Struktur die relative Verteilung einzelner Strukturen ausblendet. Um somit ein umfassenderes Bild zu erhalten, betrachten wir im zweiten Schritt die Anteile einzelner Verbstellungsmuster im Verhältnis zueinander.

6.2 Anteil syntaktischer Strukturen vor und nach der Schulschließung (Feinprofile)

Im zweiten Analyseschritt wurde zunächst ermittelt, zu welchen Anteilen einzelne Verbstellungsmuster in den Messzeitpunkten T1 und T2 über einzelne Proband:innen hinweg vorkommen. Darauf aufbauend wurden individuelle Anteile berechnet (vgl. dazu auch De Carlo/Gamper 2015), wobei hierbei auch Strukturen jenseits der Profilstufen betrachtet wurden (so z.B. Verbdrittsätze, nicht realisierte Separationen bei Verklammern, Verbzweitstellung in subordinierenden Nebensätzen, s. Tab. 1), um ein möglichst umfassendes Bild individueller Profile zu erhalten. Abbildung 1 zeigt zunächst, dass die größten Veränderungen zwischen T1 und T2 bei allen Proband:innen beim Finitum (Stufe 1) und bei Inversionen (Stufe 3) zu finden sind. Bei Letzteren sinkt der Anteil von knapp 40 % auf 16 %, bei Ersteren steigt er von knapp 30 % auf gut 50 %.


Abb. 1: Anteil der Profilstufen bei T1 vs T2 in allen Texten (n = 45) aller Proband:innen (n = 16)

Der Befund, dass der relative Anteil niedrigerer Stufen in T2 im Mittel deutlich steigt, bestätigt sich auch auf einer individuellen Ebene (s. Abb. 2), wobei im Folgenden aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht nach einzelnen Texten differenziert wird.


Abb. 2: Individuelle Verteilung von Verbstellungsmustern in T1 zu T2; angelehnt an die Profilstufen nach Grießhaber (s. Tab. 1) unterscheiden wir für die Profilstufe 1: SVX und nicht zielsprachliche Verbdrittstrukturen (ASVX), für Stufe 2 Äußerungen mit komplexen Prädikaten, die nicht separiert (SVVX) oder separiert in Form der Satzklammer vorliegen (SVXV) und für eingeleitete Nebensätze Äußerungen mit Verbzweit- (CSVX) und Verbletztstellung (CSXV(V)).

Wie aus Abbildung 2 hervorgeht, findet sich die Tendenz, in T2 mehr Strukturen der niedrigeren Erwerbsstufen zu produzieren, bei einem Großteil der Proband:innen. Lediglich bei zwei Proband:innen (P1, P14) finden sich hinsichtlich der relativen Anteile nur geringfügige Veränderungen, bei drei weiteren (P2, P3 und P8) lässt sich eine Verbesserung dahingehend ausmachen, dass mehr Strukturen höherer Stufen produziert werden als in T1. Auffällig ist auch hier, dass eine in etwa gleich bleibende Verteilung bzw. höhere Stufen besonders bei Proband:innen der Klasse V1 (P1-P3) auszumachen sind. Besonders deutlich ist dies bei P3: Während sich in T1 noch V3-Strukturen und damit Vorläuferstrukturen zur Inversion finden, produziert die Person in T2 systematisch Inversionen mit Verbzweitstellung sowie bereits Nebensätze mit Verbletztstellung. Letztere treten auch bei P8 erstmals in T2 auf.1 Wie bei den Proband:innen in V1, handelt es sich auch bei Proband:in P8 um eine Person, die kurz vor dem Übergang von der Vorbereitungs- in die Regelklasse stand und von der die Lehrkraft berichtete, dass sie besonders motiviert sei, diesen Übergang trotz Distanzlernens zu schaffen. Das Beispiel verdeutlicht u.E. eindrücklich, wie zentral individuelle Faktoren wie Motivation bei der Sprachentwicklung sein können.

Bei denjenigen Proband:innen, bei denen sich eine teils deutliche Erhöhung niedrigerer Stufen in T2 abzeichnet, findet sich weiterhin die Tendenz, dass Strukturen, die in T1 korrekt realisiert wurden, in T2 nicht mehr korrekt verwendet werden. So finden sich bei P5 in T2 keine Verbletztsätze, obwohl diese in T1 einen hohen Anteil ausmachten. Stattdessen tauchen vereinzelte subordinierende Nebensätze mit Verbzweitstellung auf und damit eine als Vorläuferstruktur zur Verbletztstellung geltende Erwerbsstufe. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich für die Separation der Verbklammer bei Proband:in P12 sowie für die Inversion bei Proband:in P16. In allen drei Fällen ist somit eine Art Rückschritt zu einer vorhergehenden Erwerbsstufe auszumachen, was ein Hinweis darauf ist, dass die jeweilige Struktur in T1 noch nicht gefestigt war und ggf. durch das Distanzlernen ein (leichter) Rückschritt in der Entwicklung eintritt. Weitaus systematischer ist jedoch bei dem Großteil der Proband:innen der stark steigende Anteil einfacher Aussagesätze (Stufe 1), der sich dabei innerhalb der jeweiligen Messzeitpunkte auch über einzelne Texte hinweg findet.

Der stärker deskriptiv angelegte Analyseschritt 2 lässt, mit aller Vorsicht, den Schluss zu, dass sich das Distanzlernen im Zuge der pandemiebedingten Schulschließungen in dem Sinne auf die sprachliche Entwicklung auswirkt, dass eine Verschlechterung der Erwerbsstufen im Vergleich von Messzeitpunkt T1 zu T2 zu verzeichnen ist. Ein großer Teil der Proband:innen (11 von 16, v.a. aus der Klasse V2) zeigt einen höheren Anteil früher und niedrigerer Erwerbsstufen in T2 als in T1, was für Szenario 2 spricht. Die Szenarien 1 und 3 greifen tendenziell unter spezifischen Bedingungen, wie der den Lehrkräften zur Verfügung stehenden Mittel der Kontaktaufrechterhaltung sowie individuellen Lernfaktoren wie dem zentralen Faktor der intrinsischen Motivation.

7 Diskussion und Ausblick

Ziel der vorliegenden korpusanalytischen Untersuchung war es, sich der Frage anzunähern, ob die pandemiebedingten Schulschließungen und damit einhergehendes Distanzlernen die Sprachentwicklung neu zugewanderter Lerner:innen in Vorbereitungsklassen beeinflussen. Die zunächst dezidiert offen formulierte Frage und die daraus abgeleiteten unterschiedlichen Szenarien (Verbesserung, Verschlechterung oder Gleichbleiben der Erwerbsstufen) wurden mittels eines Textkorpus mit 45 Texten von 16 Proband:innen aus zwei unterschiedlichen Vorbereitungsklassen am Beispiel der Entwicklung der Verbstellung untersucht. Ermittelt wurde dazu in Schritt 1 eine übergeordnete Profilstufe je Messzeitpunkt (T1 vs. T2), die mithilfe des profilanalytischen Kriteriums des dreimaligen Vorkommens einer Struktur erfasst wurde. Schritt 2 widmete sich der deskriptiven Darlegung individueller Feinprofile (für T1 und T2), wobei relative Anteile einzelner Profilstufen sowie weiterer Verbstellungsmuster ermittelt wurden, die u.a. als Zwischen- oder Übergangsstufen fungieren.

Die beiden Analyseschritte brachten unterschiedliche Ergebnisse hervor. Schritt 1 zeigt ein eher heterogenes Bild: Zwar zeigt sich bei einem Großteil der 16 Proband:innen (n = 9) keine Veränderung der Profilstufen zwischen T1 und T2 (Szenario 3), für vier Proband:innen lässt sich jedoch eine Verbesserung (Szenario 1) und für drei eine Verschlechterung (Szenario 2) ausmachen. Analyseschritt 2 zeigt dagegen relativ deutlich, dass die meisten Proband:innen (n = 11) einen deutlichen Zuwachs niedrigerer Profilstufen (v.a. der Stufe 1) zeigen und zugleich in T1 systematisch verwendete Verbstellungsmuster ‚zugunsten‘ niedrigerer Stufen zu verlieren scheinen. Scheinbar überwundene Strukturen tauchen somit (wenn auch nicht bei allen Proband:innen) wieder auf. Während für Analyseschritt 1 mehrheitlich Szenario 3 und damit ein gleich bleibender Entwicklungsstand auszumachen ist, lässt sich für Analyseschritt 2 eher das Szenario 2 und damit eine (leichte) Verschlechterung der Leistungen identifizieren. Denkbar ist hier auch die Interpretation, dass die Lerner:innen sich nicht verschlechtern, sondern im veränderten Sprach(erwerbs)kontext auf Strukturen zurückgreifen, in denen sie sich ‚sicher fühlen‘.

Für die zunächst widersprüchlichen Befunde lassen sich unterschiedliche Erklärungen heranziehen. Zum einen kommt das diagnostische Prinzip der Profilanalyse als Erklärung in Betracht, da die Profilanalyse mithilfe eines festgelegten Erwerbskriteriums von mindestens drei Vorkommen einer Struktur das Verhältnis von Verb- und Wortstellungsmustern ausblendet. Dadurch ist es möglich, dass Lerner:innen aus profilanalytischer Sicht eine hohe Stufe erreichen, Strukturen niedrigerer Stufen dabei dennoch dominieren. Die in Schritt zwei unternommene deskriptive Analyse von Lerner:innenprofile ermöglicht deshalb ein genaueres und aussagekräftigeres Bild.

 

Zudem weist – wenn auch nur in leichter Tendenz – unsere Untersuchung darauf hin, dass besonders motivationale Aspekte die individuelle Lernentwicklung entscheidend mit beeinflussen zu scheinen. Diejenigen Proband:innen, bei denen wir eine Verbesserung entlang der Erwerbsstufen feststellen können, sind zugleich mehrheitlich auch diejenigen, die kurz vor dem (vollständigen) Übergang in die Regelklasse stehen. Es liegt nahe anzunehmen, dass dies das ‚Dranbleiben‘ am Sprachlernen begünstigt. Ein weiterer, hier nicht systematisch untersuchbarer Faktor, ist der individuelle Kontakt zwischen Lehrkräften und Schüler:innen. So finden wir in V1 und damit dort, wo sich die Profile der Schüler:innen verbessern oder gleich bleiben, auch einen intensiveren direkten Kontakt zwischen Lehrkraft und Schüler:innen, der mittels regelmäßiger Gruppen- und Einzelvideokonferenzen hergestellt wurde, die wiederum eine Nachbildung schulischen Lernens eher erlaubt als asynchrones und weitgehend selbstständiges Lernen. Ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren (individuelle Motivation, intensiver(er) Kontakt während der Schulschließungen), dies legen die Ergebnisse nahe, kann sich in der individuellen Erwerbsprogression niederschlagen.

Nicht zuletzt ist das Datenmaterial als solches ein weiterer Faktor. Die analysierten Texte sind hinsichtlich der Vergleichbarkeit eingeschränkt, eine solide Vergleichsfolie mit Erwerbsdaten, die sich individuellen Erwerbsgeschwindigkeiten widmen, oder Ergebnisse aus größeren Vergleichsarbeiten fehlen für unsere Untersuchungsgruppe. Dies ist nicht nur ein Problem der vorliegenden Untersuchung, sondern auch ein grundsätzliches Problem bei der Beforschung von Sprachentwicklung unter Bedingungen der Neuzuwanderung im Kontext schulischer Bildung.

Zusammenfassend lässt sich auf Grundlage der vorliegenden Studie in Hinblick auf die Verbstellung im Spracherwerb ableiten, dass für den Großteil der hier untersuchten Schüler:innen die Schulschließungen eine Lernunterbrechung darstellten. Insbesondere die Analyse individueller Feinprofile stützt die Vermutung, dass bereits die erste, knapp dreimonatige Schulschließung (März bis Juni 2020) und der damit einhergehende Verlust des Lernorts Schule zu einer Rückentwicklung entlang der Erwerbsstufen im Bereich der Verbstellung geführt haben. Dort, wo eine solche Rückentwicklung nicht vorzufinden ist, finden wir ein Zusammenspiel positiver lernerinterner sowie -externer Faktoren, die eine Rückentwicklung scheinbar verhindern, wobei diese Faktoren weder ausschließlich lernerintern (wie beispielsweise Motivation) noch durch äußere Umstände (wie etwa die Erreichbarkeit der Schüler:innen im Distanzlernen) ableitbar sind. Sie liegen auch im Erwerbsgegenstand selbst und dem mit bestimmten Strukturen (wie etwa der Inversion) einhergehenden höheren Erwerbsaufwand begründet. Zu betonen ist, dass sich die vorliegende Untersuchung auf einen vergleichsweise kurzen Zeitraum bezieht, wenn man bedenkt, dass im weiteren Pandemiegeschehen spätestens im November 2020 Schüler:innen über mehr als sechs Monate entweder nur eingeschränkten Zugang zur Schule erhielten (in Form von Wechselunterricht) oder vollständig in Form von Distanzlernen unterrichtet wurden. Es ist zu erwarten, dass die Lernrückstände angesichts dieser zusätzlichen pandemiebedingten Maßnahmen eine weitere und weitaus massivere Lernunterbrechung mit entsprechenden Folgen für die Sprachentwicklung neu zugewanderter Schüler:innen bedeutet.

Zu fragen bleibt, wie die hier ausgemachten sprachlichen Rückentwicklungen kompensiert werden können. Grundbedingung ist, dass sich politische Entscheidungsträger:innen der besonderen gesellschaftlichen Verantwortung, die mit der Beschulung neu zugewanderter Schüler:innen einhergeht, bewusst werden. Damit Integration gelingen kann, müssen diese Schüler:innen besonders intensiv unterstützt werden. Dass Vorbereitungsklassen wie Abschlussklassen behandelt wurden, wie es bspw. in Hessen und Berlin (vgl. Lemke et al. i.d.B.) der Fall war, und damit besonders im Herbst 2020 und im Frühjahr 2021 in Präsenz beschult werden durfte, ist begrüßenswert, stellt jedoch nicht den Normalfall dar. Grade deshalb bedarf es eines auf diese Lerner:innen zugeschnittenen Förderprogramms in Form von speziellen Ferienkursen und zusätzlichen sprachlichen und vor allem sozial-integrierenden Förderangeboten. Zugeschnitten müssen diese Programme deshalb sein, weil der Aufholbedarf im Bereich des Deutschlernens bei neu zugewanderten Schüler:innen deutlich grundlegender ist als bei Regelschüler:innen. Angesichts der für jede:n Lerner:in individuell ausgeprägten Lerneinflussfaktoren greifen u.E. auch pauschale Forderungen z.B. nach einer allgemeinen Verlängerung der Aufenthaltsdauer in der Vorbereitungsklasse zu kurz, wie sie in einigen Bundesländern analog zu der Frage, ob bestimmte Schüler:innen das vermeintlich verlorene Schuljahr wiederholen müssten, diskutiert werden. Entscheidungen über solche Maßnahmen sollten vielmehr von individuellen Förderbedarfen und Prognosen abhängig gemacht werden. Um solche jedoch an die Bedarfe der Schüler:innen anpassen zu können, wird einmal mehr ein großes Desiderat der Spracherwerbsforschung und in der Folge auch der Sprachdiagnostik sichtbar: Eine umfassende empirische Datengrundlage, mit deren Hilfe sichere Erkenntnisse zu Erwerbsgeschwindigkeiten und potentiellen -schwierigkeiten sowie eine Identifizierung individueller Einflussfaktoren generiert werden könnten, fehlt. Auf Grundlage dieser wäre sowohl eine fundiertere Diagnostik einzelner Sprachstände als auch eine übergreifende Begleitung des schulischen Zweitspracherwerbs z.B. in Vorbereitungsklassen möglich, die auch eine Bewertung des Einflusses und langfristiger Auswirkungen von Schulunterbrechungen ermöglichen würde, seien diese durch Sommerferien, Schulwechsel oder, wie im vorliegenden Fall, Schulschließungen bedingt.

Bis dahin sind für die betroffenen Schüler:innen vor allem zusätzliche Sprachlernangebote wünschenswert, die eine (zusätzliche) Kompensation der verlorenen Lernzeit ermöglichen. Die durch die Schulschließungen hervorgerufene Lernunterbrechung bedeuten für die betroffenen Schüler:innen nicht bloß eine Lernrückentwicklung, sondern im schlimmsten Fall ein langfristiges Ausgebremstsein. Verursacht wird dies nicht nur durch die Unterbrechung von Lernen, sondern vor allem durch die Unterbrechung von Schule – und damit durch die Schaffung einer Distanz zu einem Lernort, der im Einzelfall maßgeblich für den Zugang zu deutschsprachigem Input und einer Infrastruktur des Lernens ist, die wesentlich für den Spracherwerb sind.