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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

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Unterbrochenes Lernen?

Eine korpusanalytische Studie zu Auswirkungen pandemiebedingter Schulschließungen auf den Zweitspracherwerb

Julia Schlauch/Jana Gamper

Im Beitrag wird anhand eines Textkorpus (n = 45) untersucht, ob und wie sich die pandemiebedingten Schulschließungen im Frühjahr 2020 auf die sprachliche Entwicklung neu zugewanderter Schüler:innen (n = 16) in Vorbereitungsklassen niedergeschlagen haben. Anhand einer profilanalytisch angelegten Analyse von Verbstellungsmustern wird geprüft, ob und welche Veränderungen im Erwerbsstand zwischen dem Zeitraum vor den Schulschließungen und nach Wiederaufnahme des eingeschränkten Regelbetriebs auszumachen sind. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass pandemiebedingte Schulschließungen nicht pauschal als Lernunterbrechungen eingeordnet werden können. Vielmehr wirken sich unterschiedliche Faktoren darauf aus, ob Lerner:innen den vor den Schulschließungen erreichten Erwerbsstand halten können, von Lernrückgängen betroffen sind oder auch Lernzuwächse verzeichnen können. Individuelle Faktoren und Lernbedingungen prägen mit, wie sich Schulschließungen auf den Sprachausbau niederschlagen.

1 Einführung

Die durch die COVID-19-Pandemie bedingten Schulschließungen gehören mit Sicherheit zu den einschneidendsten Maßnahmen innerhalb des deutschen Bildungssystems der vergangenen Jahrzehnte. Bekannt ist hierbei inzwischen, dass nicht alle Schüler:innen gleichermaßen von Maßnahmen wie temporären Schulschließungen und damit verbundenem Distanzlernen betroffen sind. Für einige Schüler:innen bedeutete dies bloß eine Verlagerung des Lernortes und der Lehr- und Lernbedingungen, für andere jedoch eine potentielle Lernunterbrechung. Gerade neu zugewanderte Schüler:innen, die im Begriff sind, sich die Grundlagen der deutschen Sprache anzueignen, stehen dabei vor ganz besonderen Herausforderungen.

Der folgende Beitrag richtet den Blick deshalb auf neu zugewanderte Schüler:innen in Vorbereitungsklassen und geht der Frage nach, ob das mit den pandemiebedingten Schulschließungen einhergehende Distanzlernen für diese Schüler:innengruppe als Lernunterbrechung betrachtet werden kann und ob eine solch potentielle Unterbrechung sich in der sprachlichen Entwicklung niederschlägt. Im Fokus steht der Erwerb der Verbstellung, ein in der Zweitspracherwerbsforschung besonders gut dokumentierter Erwerbsgegenstand, der sich deshalb als Vergleichsfolie eignet, um potentielle Auswirkungen des Distanzlernens sichtbar zu machen. Anhand eines Korpus von Schreibprodukten aus dem Unterricht zweier Vorbereitungsklassen werden mithilfe eines profilanalytischen Auswertungsverfahrens Sprachstände vor den ersten Schulschließungen (März 2020) und nach Wiederaufnahme des eingeschränkten Regelschulbetriebs (Sommer 2020) verglichen. Ziel ist es, ein möglichst genaues Bild zu der Frage zu erhalten, ob und wie sich das pandemie- und schulschließungsbedingte Distanzlernen auf den Erwerb von Verbstellungsmustern in der Zweitsprache Deutsch niederschlägt.

In Abschnitt 2 wird dazu zunächst eine Verortung der Situation neu zugewanderter Schüler:innen im deutschen Bildungssystem vorgenommen, Abschnitt 3 nähert sich dann der Frage, ob sich für diese Schüler:innen Schulschließungen als Lernunterbrechungen einordnen lassen. Ausgehend von dieser allgemeinen Verortung widmet sich Abschnitt 4 dem Untersuchungsgegenstand und dabei dem Erwerb von Verbstellungmustern. Abschnitt 5 enthält die Darstellung der korpusanalytischen Untersuchung, deren Ergebnisse in Abschnitt 6 präsentiert werden. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion und einem Ausblick in Abschnitt 7.

2 Neu zugewanderte Schüler:innen in Vorbereitungsklassen: Merkmale und Lernbedingungen

Bei neu zugewanderten Schüler:innen, deren Deutschkenntnisse als nicht ausreichend für eine Teilnahme am Regelunterricht eingestuft werden, erfolgt die Beschulung in Deutschland häufig in sogenannten Vorbereitungsklassen.1 In diesen Klassen lernen Neuzugewanderte entweder separiert (bzw. parallel) zum oder in Form einer Teilintegration auch im Regelunterricht. Je nach Modell variiert der soziale und dadurch auch sprachliche Kontakt zwischen Neuzugewanderten und Regelschüler:innen (vgl. für einen Überblick zu Beschulungsmodellen Ahrenholz et al. 2016, Massumi/von Dewitz 2015). Vorbereitungsklassen sollen allen voran grundlegende Deutschkenntnisse auf- und ausbauen sowie schul- und idealerweise auch fachspezifisches Wissen vermitteln. Der Besuch einer Vorbereitungsklasse ist in der Regel auf eine zeitliche Höchstdauer begrenzt (vgl. für einen Überblick Gamper/Schroeder 2021: 65). Vorbereitungsklassen zeichnen sich durch eine hochgradige Heterogenität auf unterschiedlichen Ebenen aus: Neben unterschiedlichen Beschulungsmodellen kommen lernerinterne und -externe Heterogenitätsfaktoren wie das Alter, verschiedene Herkunftssprachen oder der familiäre Bildungshintergrund hinzu, die das (Sprach-)Lernen maßgeblich beeinflussen können (vgl. für einen Überblick Gamper et al. 2020a). Lehrkräfte bringen unterschiedliche theoretische und praktische Erfahrungen im Umgang mit Zweitsprachlerner:innen mit, nicht immer werden sie im Unterricht durch weitere Fachkräfte unterstützt, nicht immer sind sie als vollwertige Mitglieder ins Kollegium eingebunden (vgl. Gamper et al. 2020b).

Trotz dieser teils sehr herausfordernden Ausgangsbedingungen kommt Vorbereitungsklassen eine Schlüsselrolle für eine erfolgreiche Integration neu zugewanderter Schüler:innen zu. Zentral ist dabei die Rolle der Lehrkraft, die oftmals nicht nur ein wichtiges Sprachvorbild, sondern darüber hinaus oft die wichtigste Ansprechperson ist, wenn es um Unterstützung inner- und außerhalb der Schule geht. Auch in Hinblick auf den Ausbau sprachlicher Fertigkeiten im Deutschen nehmen Vorbereitungsklassen eine Schlüsselfunktion ein. Gerade in parallelen Modellen, wo der Kontakt zu deutschsprachigen Mitschüler:innen eingeschränkt ist, findet ein großer Teil des Sprachlernens in den Vorbereitungsklassen selbst statt.

Zusammengenommen können Vorbereitungsklassen als soziale Räume verstanden werden, die sowohl den Spracherwerb als auch das soziale Miteinander unter neu zugewanderten Schüler:innen und ihren Lehrpersonen entscheidend mitprägen. Als solche besonderen Formen schulischen Sprachunterrichts standen und stehen Schüler:innen und Lehrkräfte in Vorbereitungsklassen im Zuge der pandemiebedingten Schulschließungen auch vor besonderen Herausforderungen.

3 Pandemiebedingte Schulschließungen als Lernunterbrechungen

Mit den am 16. März 2020 pandemiebedingt bundesweit eingeführten Schulschließungen bzw. den Beschränkungen des Schulzugangs in Form von Notbetreuungsregelungen, musste auch für die meisten Schüler:innen aus Vorbereitungsklassen das Sprachlernen und -lehren in den privaten Raum verlegt werden. Offen ist bisher, ob und wie sich die Verlagerung des Unterrichts in außerschulische Räume und damit einhergehende Veränderungen von Lehrprozessen auf das Sprachlernen ausgewirkt hat.

3.1 Schulschließungen und ihre Folgen

Im Allgemeinen lassen sich zunächst potentiell positive, jedoch auch einige negative Auswirkungen formulieren, die aus der pandemiebedingt veränderten Lehr- und Lernsituation erwachsen. Als positive Effekte werden oftmals der Zwang zur Digitalisierung und ein damit einhergehender Zuwachs digitaler Kompetenzen bei Schüler:innen und Lehrkräften (vgl. Klein 2020, Eickelmann 2020), ein Zuwachs an Selbstständigkeit beim Lernen sowie eine bessere und effektivere Einbindung von Eltern in den schulischen Lernprozess (vgl. Klein 2020, Porsch/Porsch 2020, Tengler et al. 2020) benannt. Zugleich sind all diese potentiell positiven Effekte an Voraussetzungen wie den Zugang zu digitalen Geräten, die Existenz eines Arbeitsplatzes im privaten Umfeld sowie an ein Minimum an sprachlichen und fachlichen Kompetenzen seitens der Schüler:innen und Erziehungsberechtigten geknüpft. Solch notwendige Ressourcen sind jedoch in hohem Maße abhängig von sozialen Faktoren: ‚Bildungsfernere‘ Familien haben häufiger geringere Ressourcen als ‚bildungsnähere‘ (vgl. Bol 2020, Porsch/Porsch 2020), der familiäre Hintergrund beeinflusst auch den Grad der Selbstständigkeit beim Lernen (vgl. Huber/Helm 2020). Nur ein Fünftel der Lehrkräfte nutzte während der Schulschließungen Videochats oder ähnliche Formate für den gemeinsamen Online-Unterricht (Huebener et al. 2020, Eickelmann/Drossel 2020).1 Die meisten Schüler:innen mussten die auf anderem Wege (z.B. Mail, Messenger oder Post) übermittelten Aufgaben weitgehend selbstständig bearbeiten. Dabei zeichnet sich relativ deutlich ab, dass sich besonders bei leistungsschwächeren sowie Schüler:innen aus nicht-akademischen Familien die Lernzeit insgesamt stark verringerte (vgl. Wößmann et al. 2020).

Erste empirische Studien zu der Frage, ob und wie Schulschließungen sich auf die Lernentwicklung von Schüler:innen niederschlagen, zeichnen ein inkonsistentes Bild. Während Engzell et al. (2021) für Schüler:innen der Primarstufe in den Niederlanden basierend auf Ergebnissen von Schulvergleichsarbeiten aus den Jahren 2017 bis 2020 zum Befund kommen, dass besonders Schüler:innen aus sozial benachteiligten Milieus in allen Kernkompetenzen (Lesen, Sprechen, Mathematik) einen deutlichen Lernrückgang aufweisen, kann ein Lernstandsvergleich des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) in Hamburg dies für die Jahrgangsstufen 4, 5 und 7 nur bedingt bestätigen (Depping et al. 2021). Zwar weisen Schüler:innen in sozial niedrigeren Milieus eine deutlich höhere Dropout-Quote in Lese- und Mathematiktests auf, die durchschnittlichen Leistungen verändern sich bei von Schulschließungen betroffenen Schüler:innen deshalb jedoch nicht. Depping et al. (2021) führen diese gemischten Befunde einerseits auf die veränderte Lernsituation und andererseits auf kompensatorische Maßnahmen wie die ‚Lernferien‘ in Hamburg2 zurück, die u.U. einen starken Lernrückgang verhindert haben.

 

Zusammengenommen machen nahezu alle Studien einen negativen Effekt des familiären Hintergrundes dahingehend aus, dass Schüler:innen aus bildungsbenachteiligten Milieus von Lernrückständen bedroht sind, wenn der Zugang zur Schule unterbrochen wird. Obwohl viele Lehrkräfte gerade bei leistungsschwächeren Schüler:innen aus prekären familiären Kontexten um eine intensive individuelle Betreuung bemüht sind (vgl. Bol 2020, Huber/Helm 2020), befürchtet Danzer (2020), dass sich familiär bedingte Unterschiede in einer zunehmenden Bildungsbenachteiligung niederschlagen.

3.2 Potentielle Folgen für neu zugewanderte Schüler:innen

Welche Erkenntnisse sich aus den bisherigen Befunden für neu zugewanderte Schüler:innen ableiten lassen, lässt sich bisher nur hypothetisch beantworten bzw. ist an dieser Stelle nur unter Rückgriff auf den (problematischen, da verallgemeinernden) Begriff Migrationshintergrund zu konstruieren. Personen mit Migrationshintergrund, zu denen auch Neuzugewanderte zählen, sind in niedrigeren sozio-ökonomischen Milieus überrepräsentiert (vgl. Lüdemann/Schwerdt 2013, Kollender/Nimer 2020) und somit in besonderem Maße von den oben beschriebenen Negativfaktoren betroffen. Zugewanderte Schüler:innen mit eigener Migrationserfahrung bringen geringere digitale Kompetenzen mit als ihre gleichaltrigen Mitschüler:innen (vgl. Eickelmann et al. 2019), haben deutlich seltener Zugang zu Computern oder Laptops (vgl. Emmer et al. 2016, Stapf 2017), ihre generellen Arbeitsbedingungen sind aufgrund beengter Wohnverhältnisse und geringeren materiellen Ressourcen (vgl. Geis-Thöne 2020) erschwert. Hinzu kommt unter Umständen eine enorme psychische Belastung, teils aufgrund der Aussetzung des Familiennachzugs, teils aufgrund drohender Abschiebungen angesichts eines (pandemiebedingt zusätzlich) erschwerten Zugangs zum Ausbildungsmarkt, der nach dem Schulabschluss Voraussetzung für ein Bleiberecht ist (vgl. Kollender/Nimer 2020).

Schüler:innen in Vorbereitungsklassen sind zudem in hohem Maße auf ein soziales Miteinander und aus den Vorbereitungsklassen heraus wachsende soziale Netzwerke angewiesen, die maßgeblich das sprachliche Lernen bedingen. All dies bricht genauso weg wie der für diese Schüler:innen so essentielle persönliche Kontakt zur Lehrkraft (vgl. Primdahl et al. 2020, Popyk 2020). Die beschriebenen herausfordernden Faktoren werden bei dieser Lerner:innengruppe ganz besonders durch die Tatsache erschwert, dass sie sich mitten im elementarsten Sprachlernprozess befinden. Ein Minimum an sprachlichen Kompetenzen ist jedoch Voraussetzung für (selbstständiges) Distanzlernen.

Zusammengefasst lässt sich folgern, dass Distanzlernen angewiesen ist auf sprachliche, materielle und familiäre Ressourcen, die vor allem für neu zugewanderte Schüler:innen oft nicht verfügbar sind. Insgesamt haben neu zugewanderte Schüler:innen in Vorbereitungsklassen nach bisherigem Erkenntnisstand denkbar ungünstige Voraussetzungen, um das Lernen im Allgemeinen und das für sie zentrale Sprachlernen im Besonderen trotz Schulschließungen aufrechtzuerhalten. Es lässt sich deshalb vermuten, dass für viele der Neuzugewanderten Schulschließungen eine Form der Lernunterbrechung darstellen, da die gewohnten lernförderlichen Strukturen und Rahmenbedingungen, die Sprachlernen überhaupt erst ermöglichen, wegbrechen.

3.3 Lernunterbrechungen im Kontext der sprachlichen Entwicklung

Lernunterbrechungen sind per se keine Ausnahmeerscheinung. Bei Neuzugewanderten und hierbei besonders bei Geflüchteten findet (manchmal) eine migrationsbedingte Unterbrechung des schulischen Lernens statt. Man spricht in diesen Fällen von students with interrupted formal education (SIFE) bzw. von students with limited or interrupted formal education (SLIFE; vgl. z.B. Dooley 2009, Hos 2016, Miller et al. 2005) und damit von Lerner:innen, die über einen meist längeren Zeitraum keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen hatten, etwa weil sie in Flüchtlingsunterkünften untergebracht waren, ihr Bleiberecht unklar war und/oder sie in ihren Herkunftsländern keinen oder nur eingeschränkten Zugang zur Bildung erhalten haben. Diese Lerner:innen sind häufig in Hinblick auf (schrift-)sprachliche Kompetenzen nicht ‚altersgemäß‘ entwickelt, wobei sich Abweichungen einer altersgemäßen Entwicklungen sowohl für die Erst- als auch für die Zweitsprache ergeben. Bei SIFE/SLIFE hat eine Lernunterbrechung damit bereits vor dem Eintritt in ein neues Schulsystem stattgefunden.

Innerhalb des Schulsystems wird besonders bei längeren Ferien (d.h. v.a. im Sommer) ein sog. Ferieneffekt (auch: summer setback oder summer learning loss) ausgemacht. Ein ferienbedingter Lernrückgang (bspw. im Bereich des Lesens oder in Mathematik) oder eine Lernstagnation wird hierbei besonders bei sozial benachteiligten bzw. lernschwächeren Schüler:innen (vgl. z.B. Alexander et al. 2007, Menard/Wilson 2013) sowie bei Schüler:innen mit Migrationshintergrund (vgl. Becker et al. 2008) ausgemacht, wobei eine Interferenz beider Faktoren wahrscheinlich ist (vgl. Siewert 2013). Auch Faktoren wie Wohnort und dabei besonders spezifische Stadtteile (vgl. Siewert 2013) sowie der individuelle vorherige Lernzuwachs (vgl. Kuhfeld 2019) können die Existenz sowie das Ausmaß eines Ferieneffekts beeinflussen. Zur Abmilderung von Ferieneffekten für betroffene Schüler:innen haben sich Sommer-/Ferienlernprogramme als hilfreich erwiesen (vgl. u.a. Stanat et al. 2005, Kowoll et al. 2013). Solche Sommerlernangebote wurden, teils gezielt für lernschwächere Schüler:innen oder solche mit geringen Deutschkenntnissen, in einigen Bundesländern im Sommer 2020 als Reaktion auf die pandemiebedingten Schulschließungen angeboten (z.B. in Berlin und Nordrhein-Westfalen). In den meisten Fällen basierte jedoch sowohl die Ausrichtung von Ferienprogrammen durch die Schulen als auch der Besuch entsprechender Kurse auf freiwilliger Basis, sodass auch hier vermutlich erneut familiäre und materielle Ressourcen die Teilnahme mit beeinflusst haben.

Zusammengenommen können pandemiebedingte Schulschließungen zwar nicht pauschal als Formen der Lernunterbrechung verstanden werden, bei neu zugewanderten Schüler:innen kumulieren sich die Risikofaktoren jedoch insofern, als Schulschließungen auch (zeitweise) Lernunterbrechungen bedeuten. Sprachlernen hat somit u.U. für die Schüler:innen nicht oder nur stark eingeschränkt stattgefunden. Betrachtet man diese Annahme im Kontext von Lernunterbrechungen im Allgemeinen, so drängt sich die Vermutung auf, dass die Unterbrechung gerade aufgrund der oben beschriebenen ungünstigen Ausgangsbedingungen zu einem Lernrückgang oder einer Lernstagnation beigetragen haben kann. Diese Annahme soll im Folgenden mithilfe einer Korpusstudie überprüfen werden. Wir konzentrieren uns dabei auf die Entwicklung von Verbstellungsmustern.

4 Verbstellungsmuster im Zweitspracherwerb

Die Entwicklung von Verbstellungsmustern im Deutschen gehört in der Zweitspracherwerbsforschung zu den am umfassendst beforschten Gegenständen. Grund dafür ist neben der Komplexität des Gegenstandes, also die im Deutschen je nach Satztyp variierende Position des Finitums, die Annahme, dass das Verb eine zentrale Funktion im Erwerb von Satz- und Wortstellungsmustern und in der gesamtsprachlichen Entwicklung einnimmt (vgl. Settinieri/Spaude 2014). Eine solche Stellvertreterfunktion des Verbs wird auch in inzwischen etablierten diagnostischen Verfahren wie der Profilanalyse nach Grießhaber (z.B. 2013) angenommen, bei der die Verbstellung einen Indikator für bspw. Entwicklungsverläufe im Bereich der Nominalflexion, des Wortschatzzuwachses oder des Gebrauchs kohäsionsstiftender Mittel im Bereich des Schreibens von Texten darstellt (vgl. Grießhaber 2005, 2013).

Weitgehend gesichert in Hinblick auf die Entwicklung von Verbstellungsmustern ist die Erkenntnis, dass sie in aufeinander aufbauenden (graduellen) Etappen erworben werden. In Tabelle 1 sind die Profilstufen, wie Grießhaber sie beschreibt, in erwerbskonzeptioneller Reihenfolge aufgeführt.


Profilstufen Beschreibung Verbstellungsmuster Beispiele
0 Bruchstücke - Aber die Biene nicht weg Der Wintersporttag (Überschrift)
1 Finitum SVX ASV(X) Er nimmt den Teller. Dann Vater war sehr sauer
2 Separation SVV SVXV Wir haben gegessen Der Zug ist um 12 Uhr gekommen
3 Inversion AVX(V) Morgen ist das Wetter kalt
4 Nebensatz CSVX CSXV(V) dass er muss seinen Kopf benutzen Wenn ich in New York wäre, … …, weil es sehr schön ist

Tab. 1: Profilstufen nach Grießhaber (2018: 8), ergänzt um zugehörige Verbstellungsmuster und Beispiele aus dem Untersuchungskorpus; S = Subjekt; V = Verb; X = nominale oder präpositionale Konstituente; A = Adverbial; C = Konnektor (v.a. Konjunktionen)

Ergänzt werden diese durch eine Darstellung der zugrunde liegenden Verbstellungsmuster sowie entsprechenden Lerner:innenäußerungen aus dem Untersuchungskorpus, darunter v.a. Verbdrittsätze (ASV(X)), nicht separierte Verbklammern (SVV) oder Verbzweitstellung bei subordinierenden Nebensätzen (CSVX), die in Lerneräußerungen durchaus frequent sind, aber in der Profilanalyse nicht im Detail berücksichtigt werden, obwohl sie teils als eigenständige Erwerbsstufen betrachtet werden können (vgl. z.B. Czinglar 2014).

Diese Erwerbsetappen scheinen weitgehend robust gegen Faktoren wie beispielsweise das Alter (vgl. Czinglar 2014), die Herkunftssprache (vgl. Haberzettl 2005) oder die Unterrichtsprogression zu sein (vgl. z.B. Ellis 1989). Während sich die Erwerbsetappen als ‚überindividuelle‘ Erwerbsmerkmale einordnen lassen (vgl. Dimroth 2019), finden sich teils deutliche individuelle Unterschiede in der Erwerbsgeschwindigkeit. Faktoren wie die Quantität und Qualität des deutschsprachigen Inputs sowie der familiäre Hintergrund und damit einhergehende Literalitätserfahrungen von Lerner:innen können einen starken Einfluss auf die Erwerbsgeschwindigkeit haben (vgl. Czinglar 2018).

Für jugendliche Lerner:innen in Vorbereitungsklassen liegen u.W. bisher keine systematischen Erkenntnisse zur Sprachlernprogression im Allgemeinen sowie zum Erwerb von Wort- und Verbstellungsmustern im Besonderen vor. Erschwert werden entsprechende empirische Arbeiten durch die enorme Heterogenität der Lerngruppe (vgl. Gamper et al. 2020a), welche es außerdem erschwert, potentielle Auswirkungen von Schulschließungen auf die Erwerbsprogression greifbar zu machen.