Leopardis Bilder

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Funktionale Bildlichkeit – Leopardis Denkbilder

(Frammento XXXIX: Spento il diurno raggio in occidente)

Milan Herold

Einleitung

Leopardis Lyrik ist geprägt von Bildern der Erinnerung, die zugleich Denkfiguren sind.1 Im Zibaldone entwickelt er eine entsprechende Bildlogik, die Bilder nicht als Abbilder von etwas konzipiert. Leopardi bestimmt sie poetologisch als Funktionen bzw. als transzendentale Ordnungen. Das innerhalb der Canti wenig beachtete letzte Fragment Spento il diurno raggio in occidente nimmt wie ein Rahmen eine Vorstufe derjenigen Funktionen der Bilder ein, die die später geschriebenen canti entwickeln. Der letzte frammento steht im Kontext einer Poetik des Erhabenen und ist eine retrospektive Vorwegnahme der Bildlogik der berühmten canti, die, wie etwa das vielbesprochene La sera del dì di festa, eine Entsubstantialisierung der Bilder inszenieren.2 Der hier verwendete Begriff von funktionaler Bildlichkeit lässt sich anhand von einschlägigen poetologischen Überlegungen im Zibaldone erläutern, und Spento il diurno raggio in occidente veranschaulicht weitreichende Aspekte der Bildlichkeit in Leopardis Dichtung. Die Frage nach Leopardis Bildern wird hermeneutisch3 beantwortet mit der Frage, wie Leopardi seine Bildlogik lyrisch umsetzt. Auch wissenschaftliche Sprache bedient sich zwar der Metaphern und der Bilder. Leopardis Unterscheidung4 von parole und termini zieht aber eine relative Grenze zwischen poetischen und unpoetischen Begriffen bzw. zwischen lyrischer und nicht-lyrischer Begriffsverwendung. Leopardi kann durchaus als Modell5 einer anspruchsvollen Poetik des ästhetischen Grundbegriffs der Vagheit in der Epoche der Romantik gelten, was aber umso mehr eine genaue Textanalyse erfordert. In Leopardis Poetik spielen Bilder bzw. immagini wörtlich und poetologisch bereits auf der Makroebene eine Rolle, indem sowohl der Zibaldone6 als auch die Canti7 eine starke (Rück‑) Verweisstruktur aufweisen. Seien es Bilder des Anfangs, des Endes oder der Liebe, immer stehen Bilder im Rahmen einer Grundlogik. Diese trifft auf Leopardis weitläufig besprochenes Gedicht L’infinito ebenso zu wie auf die lyrische Aufarbeitung des Sich-Verliebens, etwa Il primo amore oder Alla sua donna.8 In diesem Zeitraum entsteht auch das etwas ‹versteckte› Fragment Spento il diurno raggio in occidente, das Ergebnis einer zweifachen Überarbeitung ist. Zunächst stellt das Fragment eine Variante von Leopardis erstem Gedicht Appressamento della morte von 1816 dar, dann eine Umarbeitung der ersten 82 Verse, um die Zeit von Teresa Fattorinis Tod, der dann in A Silvia ‹verarbeitet› wird, wobei Leopardi im frammento vor allem die erste Person Singular und das lyrische Ich durch eine junge Frau austauscht.9 Das autobiographisch auslegbare (lyrische) Ich wird getilgt und ersetzt durch eine junge «donna»10 (20). Das frammento wird 1835 in der Starita-Ausgabe in die Canti aufgenommen.11 In der Zwischenzeit entwickelt Leopardi eine wirkliche Technik bzw. Kunst der Verschiebung, die auch mikrotextuell – wie in L’infinito (1819) – und in Zeitbildern – wie in La sera del dì di festa (1820) – gestaltet wird.12 Im Gegensatz zum Appressamento, das erst 1880 Zanino Volta publiziert, wird so gut wie jeder Vers überarbeitet; so etwa bereits der erste: Da Giordani, dem Leopardi das Langgedicht geschickt hat, die Alliteration «la lampa» – als Verweis auf Tageslicht – beanstandet,13 «Era morta la lampa in Occidente» (291, v. 1), ändert sich der Lichtverschluss zu «Spento il diurno raggio», wobei der Verweis auf «occidente» bestehen bleibt (v. 1). Die Aufnahme dieses recht unreifen Jugendgedichts ist aufschlussreich im Vergleich zu Leopardis bekannteren Gedichten. Die auf die ‹offiziellen› canti folgenden Fragmente Odi Melisso (1819), das zu Il sogno bzw. Lo spavento notturno umgearbeitet wird, Io qui vagando al limitare intorno (1817), das auf der Elegia II basiert, und Spento il diurno raggio in occidente (1816) sind ein Spiegel zu den canti. Die Fragmente der Canti sind als gleichberechtigte Antwort konzipiert, als ein «‹rovescio› della poesia»14, was sich auch darin zeigt, dass die Fragmente zeitlich absteigend entstanden sind. Der letzte frammento beruht auf dem ältesten Ausgangstext von 1816. Durch die Abwesenheit eines lyrischen Ichs nimmt das letzte frammento nochmals eine Sonderrolle ein.15

Leopardi entwickelt eine Bildlogik, die im Zibaldone verstreut vorliegt und deren transzendentale Struktur meist unbeachtet bleibt. Diese prägt sich in den Canti aus, und der 39. canto bzw. das letzte Fragment zeigt strukturell deren Genealogie auf. Bilder zu erinnern, wie La sera del dì di festa paradigmatisch veranschaulicht, inszeniert eine transzendentale Erinnerung und ist Teil einer Bildlogik, in der ein lyrisches Ich erinnert, wie ein früheres Ich eine frühere Erinnerung erinnert. Die Denkfigur der Erinnerung eröffnet das Unendliche – in der Form des Fernen, Letzten und Vagen –, das Ziel von Leopardis Dichtung ist. Ein bedeutender Teil der Canti folgt dieser Struktur der Erinnerung und generiert so Denkbilder, die für das Unendliche bzw. für poetische Vagheit einstehen. Diese Bilder sind letztlich immer negative und scheiternde. Die Bildlichkeit der Erinnerung läuft leer, da ihr ein letztes Bild fehlt. Das greift auf die gesamte Erfahrung aus: Sie ist nicht bildgesättigt. Lyrische Bilder bestehen hier in der Suche nach letzten Bildern, die aber prinzipiell unverfügbar sind. Hierauf bauen Erinnerungsgedichte wie Le Ricordanze oder A Silvia auf (Abschnitt 1 Bilder erinnern). Leopardi entwickelt auch weniger komplexe Bilder, die allerdings durch lyrische Kürze und Prägnanz bestechen. Sie weisen eine logisch frühere und recht stabile Struktur auf, die Leopardi im Zibaldone als doppia vista (cf. 2382, Zib. 4418) beschreibt und die paradigmatisch L’infinito ausprägt. Solche Dichtungs-Bilder lassen sich als eine triadische Struktur analysieren, die noch nicht die offene Funktion ad infinitum der dezidierten Zeit-Bilder aufweist. Das Dichter-Ich spaltet sich gleichsam auf und fingiert sich als empirisches Subjekt, das eine ‹transzendente› Variante seiner selbst denkt (Abschnitt 2 Bilder fingieren). Spento il diurno raggio in occidente entspricht noch nicht vollständig der Bildlogik späterer Gedichte. Da es sich um eine Überarbeitung der cantica handelt, des dantesken Langgedichts Appressamento della morte, wird das Defizitäre qua Fragmentierung inszeniert. Auch die Anordnung der Frammenti spiegelt diese Struktur: Der Gedichtband der Canti besteht aus canti und frammenti, und die Frammenti rahmen nicht nur die Canti, sondern setzen sie ins Bild als Lyrik, die erst nach der so genannten mutazione totale in me im Jahre 1819 möglich ist (cf. 1517, Zib. 143sq.), wie etwa im ersten Fragment Odi, Melisso (Abschnitt 3 Bilder beobachten).16

1 Bilder erinnern – transzendentale Erinnerung

Leopardi denkt und dichtet Bilder immer funktional bzw. in Relation zu anderen Bildern. Funktionalität ist der Gegenbegriff zu Substantialität. Insofern Leopardi Bilder funktional und nicht substantial verwendet, gibt es keinen (romantischen) Wesenskern (der Dichtung), sondern (nur) eine Verwendungsweise vom Wort ‹Bilder›. Dadurch verlieren die Bilder ihre Abbildfunktion. Allgemeiner ergibt sich so eine Definition von Kunstwerken, von der gilt, dass «der Ordnungszusammenhang des Werkes […] allererst die Bedeutung seiner einzelnen Momente [stiftet].»1 Dieser «Konvenienzbegriff»2 entgeht klassizistischen Restriktionen und ersetzt den Schönheitsbegriff durch den der Stimmigkeit.3 Leopardi konzipiert eine bildtheoretische Variante dieser reflexiven Struktur.4 Etwas ist schön, d.h. zusammenpassend, wenn eine lyrische Aussage auf ein vergangenes Bild der Einheit verweist. Leopardis Dichtung tarnt also ein (romantisches) Transzendenzstreben als eine (moderne und in sich gewendete) Sprachwerdung; mit L’infinito formuliert: Das Unendliche zu sagen, erfüllt sich nicht nur in einem Scheitern, sondern auch in einem prinzipiell nicht-gegenwärtigen Sprechen. Im Zibaldone versteht Leopardi Erinnerungen als Bilder und diese als Nukleus seiner Dichtung. Innerhalb der weit verstreuten und jenseits einer in sich konzisen Argumentation gibt der Zibaldone Auskunft über Leopardis Bildlogik, die man argumentativ in drei Schritten rekonstruieren kann: (i) Leopardi konzipiert eine poetologische Erinnerung, die funktional und konstruiert ist. Wegen ihrer paradoxen Zeitlichkeit steht am «Anfang der Temporalität […] die transzendentale Erinnerung», damit die «Erinnerung an etwas, das es nie gab.»5 Der Augenblick, in dem man sich an ‹etwas› erinnert, verweist auf eine vergangene Fülle und dichte Erfahrung. (ii) Leopardi formuliert aber einen Einspruch gegen die Vorstellung, dass das Erinnerte auf Vergangenes und Wirkliches Bezug nehme. Der Akt des Erinnerns ruft das vermeintlich Erinnerte nicht nur hervor, sondern produziert es vielmehr. Sich zu erinnern ist ein Schöpfungsakt und damit poietisch. Die Erinnerung bzw. die Retention ist nach Leopardi das primäre Medium jeder Erfahrung und verweist auf die Kindheit, genauer auf Bilder des Kindes:

Così che la sensazione presente non deriva immediatamente dalle cose, non è un’immagine degli oggetti, ma della immagine fanciullesca; una ricordanza, una ripetizione […] della immagine antica. (1587, Zib. 515)

 

Die gegenwärtige Erfahrung wird also durch die Erinnerung vermittelt und die Erinnerung nimmt nicht auf Dinge Bezug, sondern auf Bilder aus der Kindheit. Aber auch diese Bilder wiederholen nur – und hier klingt es zunächst stark platonisch – die ursprüngliche «immagine antica». Damit hat auch jede gegenwärtige Erfahrung keinen unmittelbaren Bezug auf die Wirklichkeit. Erfahrung ist also keine substanzielle Beziehung zwischen Ich und Welt, sondern eine funktionale Relation, die nur im Kontext von Bildern und durch sie besteht. Das Gleiche gilt auch für Leopardis poetisches Material, das sich durch eine vage, unbestimmte, und damit schöne, Bildlichkeit auszeichnet:

[Le] immagini e sensazioni indefinite […] non sono altro che una rimembranza della fanciullezza […]. (1598, Zib. 515)

(iii) Die Struktur der Erinnerung geht allerdings ins Unendliche und nimmt letztlich auf nichts Bezug. Zwei kaum besprochene Überlegungen im Zibaldone führen zu diesem Schluss: Der bambino, der noch kein fanciullo ist, besitzt kaum Bewusstsein, insbesondere keine facultas memorandi, nur eine ursprünglichere facultas imaginandi6: «Il bambino che non può aver contratto abitudine, non ha memoria […;] manca formalmente della facoltà della memoria» (1745, Zib. 1255). Daraus folgt allerdings: «nessuno si ricorda delle cose dell’infanzia» (ibid., M.H.). Jede gegenwärtige Erfahrung bezieht sich auf die Erinnerung, und deren Bilder verweisen immer nur auf Bilder, nicht aber auf die Sache selbst; oder, mit Kant gesprochen, auf das Ding an sich (selbst betrachtet). Damit kommt der «sensazione presente» ihre Abbildfunktion «della immagine fanciullesca» abhanden. Leopardi dekonstruiert somit den Mythos der Kindheit, den er maßgeblich in der italienischen Literatur verankert hat. Dieser Gedankengang erklärt zugleich auf theoretische Weise, dass (fast) alle Canti – eine Ausnahme bildet die Palinodia al Marchese Gino Capponi7 – Erinnerungsgedichte sind.8

Eine paradigmatische Umsetzung der transzendentalen Erinnerung leistet La sera del dì di festa. Die Erinnerung verweist hier auf eine letztlich endlose Kette von Bildern. Es werden Zeitbilder entworfen, die mit der modernen Flüchtigkeit der Zeichen umgehen. Diese liest Leopardi etwa am ephemeren Leben der Bücher ab, spricht sie allerdings mit Pindar9 auch dem Menschen zu, der nur Traum von einem Schatten sei.

La sorte dei libri oggi, è come quella degl’insetti chiamati efimeri (éphémères) […]. (2340, Zib. 4270)

La vie, disoit Pindare, n’est que le rêve d’une ombre […]; image sublime, et qui d’un seul trait peint tout le néant de l’homme. (1988, Zib. 2672)

La vita umana […] non essendo cosa di più sostanza che un sogno di un’ombra. (507, Proposta di premi fatta dall’Accademia dei Sillografi)

Diesem «image sublime» entspricht ein Primat der illusioni gegenüber dem, was man «realtà» nennt. In La sera del dì di festa gibt es gleich fünf Monologpartner, die verschiedene Bildebenen darstellen, auf denen der moderne Erfahrungsverlust besonderer Augenblicke gestaltet wird.10 Die ontologische Fundierung der Bilder nimmt ab. Der Eindruck von objektiver Fülle – der Mond (vv. 1-4) – wird jäh durch die Erinnerung an die unerfüllbare persönliche Hoffnung – die Dame (vv. 4-24) – unterbrochen. Diesem Bild der Trauer widerspricht die Freude der dritten Figur des Anderen, des Handwerkers (vv. 24-33). Er verstärkt aber zugleich die Trauer, da sie mit einem weiteren Bild des Anderen – die Antike bzw. Rom (vv. 33-37) – assoziiert wird, die unendlich weit entfernt ist. Damit schließt sich einerseits der Kreis, denn für Leopardi sind Natur und Antike Beinahe-Synonyme. Andererseits ist der Kreis damit aufgebrochen, da der poetisch-logische Primat jeweils auf dem zweiten Bild liegt: Erst die Erinnerung an die Dame lässt den Mond so hell erscheinen. Die Mondlandschaft, mit der La sera del dì di festa anhebt, evoziert ein Versprechen reinster Gegenwart. Der Einschub der Größe der Antike ist ein erster Abschluss. Das déjà-écouté-Erlebnis des Gesangs des Handwerkers offenbart sich als Bild unvordenklicher Wiederholung:

mi si stringe il core ~ già similmente mi stringeva il core. (123, v. 28, 46)

Der Mythos des Ursprungs wird dekonstruiert und das Ende des Gedichts (v. 46) ist kein wirkliches Ende. Denn der Augenblick, in dem sich das Herz zusammenzog, verweist auf einen anderen Gesang bzw. canto (v. 28), den dieser wiederholt. Diese transitive Funktion von Erinnerungsbildern sinnentleert die Gegenwart. Die ironische Brechung besteht am Ende gerade im erinnerten Bild, da die ästhetische Idee des Festtags und die nachhallende Erwartung einer Erfahrung des Heiligen «non sono altro che una rimembranza della fanciullezza» (v.s., Zib. 515). Die Verdopplung steigert die zeitliche Extension und die gefühlte Intensität des Ausgeschlossenseins. Das profanierte Fest wird zum Bild einer transzendentalen Erinnerung. Der jetzige Gesang entspricht dem erinnerten nur «similmente». Der erinnerte Gesang wird nicht nur im damaligen Jetzt gehört, sondern prinzipiell immer wieder, wie das Imperfekt «s’udi[v]a» anzeigt. Er ist zugleich vager, da er räumlich unbestimmt ist. Die nicht-identische Erfahrung des Verlusts anlässlich eines vergleichbaren damaligen Gesangs mündet in eine abschließende Unbestimmtheit.

Eine vergleichbare Bildlogik transzendentaler Erinnerung prägen Le Ricordanze aus.11 Mit der ambivalenten Distanz des Silvia-Bildes aus dem gleichnamigen, vorherigen canto beginnt und endet das Gedicht –

Vaghe stelle dell’Orsa, io non credea

tornare ancor per uso a contemplarvi

[…] e delle gioie mie vidi la fine. (155, vv. 1-6)

[…] Nerina (158sq., v. 136, 157, 160, 168)

–, zunächst in der ersten Strophe als stellarer Mythos mit einem abstrakten Ende («vidi la fine»), den die siebte Strophe in einem persönlichen Mythos aufnimmt als Ende von «Nerina»12, deren wiederholte Nennung um die Präsenz des Bildes ringt. Diese Entsprechung der rahmenden Strophen findet sich auch in der paradoxen Spiegelung der weiteren Strophen. Die leidvolle, schlechte Vergangenheit in der zweiten Strophe steht der «maraviglia!» der Jugend, die aufblitzt («a somigliar d’un lampo»), der vorletzten Strophe gegenüber (158, v. 126, 131). Die inneren Strophen geben gleichsam den Ermöglichungsgrund an: Die dritte Strophe wird eröffnet mit einem Wind, der Erinnerungen auslöst – wie in L’infinito

Viene il vento recando il suon dell’ora (156, v. 50)

[…] un’immagin dentro

non torni, e un dolce rimembrar non sorga.

[…] ma con dolor sottentra

il pensier del presente […]

[…], e il dire: io fui. (156, vv. 56-60)

–, aber noch steigt kein Erinnerungsbild auf. Das Bewusstwerden der Gegenwart, der «pensier del presente», stellt sich als Epiphanie des Ohrs dar. Es scheint der Wind zu sein, der sich einschleicht («sottentra») und die augenblickliche Gewissheit ausspricht. Das «il dire: io fui» führt eine Distanz in den Diskurs ein, den die letzte Strophe als mythische Vorzeitigkeit inszeniert. Diese Elemente kommen in der letzten Strophe zusammen im Wunder einer plötzlichen Erscheinung, eines Bildes, das aufsteigt. Das horizontale «sottentra» wird ersetzt durch das vertikale «sorga», das die zeitliche Flüchtigkeit arretiert. Nerinas Transformation in ein Erinnerungsbild wird eingeführt als ein ausbleibendes Hörereignis –

O Nerina! e di te forse non odo

questi luoghi parlar? […] (158, v. 136sq.; M.H.)

Più non ti vede […] (158, v. 140; M.H.)

–, dann ausgeführt als Todesbild einer Erinnerung. Die zweite Nennung «Ahi Nerina!» ist bereits eine Klage. Diese wird sprachlich eingeleitet durch die auffallenden Wiederholungen – neben «passasti» vor allem «splendea». Diese unterstreichen den Versuch, durch die Sprache Nerinas Bild in der Gegenwart zu halten. Dieser Versuch wird in den letzten drei Nennungen – «dico: o Nerina», «dico: Nerina mia», «dico: Nerina» (159, v. 160, 164, 168) – noch deutlicher markiert als eine Variation des «il dire: io fui.». Sprachliche Präsenz wird als eine psychische angesprochen – «in cor mio» (156, v. 36), «infra me stesso» (159, v. 159) –, als ein bewegungsloses Bild – «non movi», «non torna» (159, v. 161, 164sq.) – und deutlich als Sprechakt markiert im dreifachen «dico». Im Rhythmus von jeweils vier Versen verliert die Sprachmagie langsam, schrittweise ihre Kraft:

[…] Ahi tu passasti, eterno

sospiro mio: passasti: e fia compagna

d’ogni mio vago immaginar, di tutti

i miei teneri sensi, i tristi e cari

moti del cor, la rimembranza acerba. (159, vv. 169-173)

Im «e fia compagna» ist Nerina wieder nur die Erinnerung an Silvia bzw. an A Silvia («cara compagna» [153, v. 54]). Herzwerk, das die Zeit anhalten konnte, wird in Bewegung gesetzt, und die letzten beiden Worte benennen, was die letzte Strophe und das Gedicht im Ganzen sind: eine negative Epiphanie und ein ‹il dire: ella fu› zugleich. Dieser Sprechakt ist ein auf doppelte Weise an die Vergangenheit gebundener Bildakt bzw. das Gedicht im Ganzen entwickelt eine Bildlichkeit, ein «vago immaginar», dessen lyrische Lebendigkeit und Präsenz sich aus Bildern des Todes und der Erinnerung speisen.

2 Bilder fingieren – doppia vista

Verwandt mit der Struktur der Erinnerung ist Leopardis Poetik der doppia vista.1 In einem berühmten Zibaldone-Eintrag wird diese zusammengefasst.

All’uomo sensibile e immaginoso […] il mondo e gli oggetti sono in certo modo doppi. Egli vedrà cogli occhi una torre, una campagna; udrà cogli orecchi un suono d’una campana; e nel tempo stesso coll’immaginazione vedrà un’altra torre, un’altra campagna, udrà un altro suono. (2382, Zib. 4418)

Andere, nicht wirklichkeitsgesättigte Bilder zu entwerfen, ist also die auszeichnende Fähigkeit der Einbildungskraft. L’infinito, der erste piccolo idillio, verkörpert das entscheidende Jahr 1819 und die inszenierte mutazione totale in me, in der sich der weltgeschichtliche Verlust der Antike im Subjekt ausprägt als Verlust seines früheren Ichs. Dieser Ichverdopplung entspricht eine Welt- bzw. Bildverdopplung gemäß der doppia vista. Diese wird ausgelöst durch die Schließung des Horizonts, durch die Hecke auf dem topischen Feldherrenhügel (vv. 1-3). Die Einbildungskraft soll Dinge konzipieren bzw. Bilder von Dingen, «che non sono»:

Veniamo alla inclinazione dell’uomo all’infinito. Indipendentemente dal desiderio del piacere, esiste nell’uomo una facoltà immaginativa, la quale può concepire le cose che non sono, e in un modo in cui le cose reali non sono. […] Il piacere infinito che non si può trovare nella realtà, si trova così nella immaginazione […]. (1524, Zib. 167)

Im Akt des «io […] mi fingo» (121, v. 7) werden Bilder des Unendlichen gedacht, um – gemäß der teoria del piacere – eine wirkliche Lust zu erreichen, die die Begierde befriedigt. Doch dieses Ideal wird nicht realisiert. Das wird im Bild der ausbleibenden unio mystica ausgedrückt, denn das Herz erschrickt nur fast (v. 7sq.). Die beiden Pole eines empirischen und eines nach Transzendenz strebenden Ichs werden abschließend in einem Bild für die Dichtung, im lustvollen Schiffbruch, reflektiert. Das Dichter-Ich fingiert ein empirisches Ich, das sich Unsichtbares, Zahl- und Endloses, Transzendentes denkt und darin scheitert, Unendlichkeit zu erreichen. Dieses negative Dichtungsbild ist mit der Poetik der transzendentalen Erinnerung strukturell verwandt. Das Scheitern als adäquate Darstellungsform des Unendlichen stellt sich als dialektische Reflexivität dar.