Kultur- und Literaturwissenschaften

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Aus der Reihe: Kompendium DaF/DaZ #7
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1.2.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle

1 Wie behandeln verschiedene Ansätze der Landeskundevermittlung die Beziehung von Sprache und Kultur?

2 Wie erfolgt die Behandlung kultureller Aspekte in inhaltsbezogenen Ansätzen der Sprachvermittlung? Wie hat sie sich historisch verändert?

3 Was versteht Altmayer unter einem Deutungsmuster im Fremdsprachenunterricht?

4 Worin besteht der Unterschied zwischen Alienitiät und Alterität nach Lösch und was bedeutet er für ein modernes, konstruktivistisches Verständnis von Kulturwissenschaft im Fremdsprachenunterricht?

1.3 Interkulturelle Hermeneutik

Jörg Roche

Die interkulturelle Hermeneutik hat sich aus der historischen Verstehenslehre Gadamers entwickelt und wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder als Leitdisziplin für interkulturelle Ansätze des Fremdsprachenunterrichts konstituiert. Sie bietet einen theoretischen Rahmen für das Gelingen des Fremdverstehens und ist daher – in unterschiedlichen Formen – vor allem auf das Verstehen literarischer Texte angewendet worden. Als Grundlage sprachdidaktischer Ansätze ist sie schließlich auch für den Sprachunterricht operationalisiert worden. Wichtige Impulse hat die Entwicklung der interkulturellen Sprachdidaktik nicht zuletzt dadurch bekommen, dass die kommunikative Sprachdidaktik mit ihrer Fokussierung auf das Funktionieren in der Zielkultur an Grenzen gestoßen ist: Ein fremdsprachiger Lerner kann eben nicht wie ein Sprecher der Zielsprache funktionieren, wenn er nicht über das nötige kulturelle Wissen und interkulturelle Vermittlungsstrategien verfügt. Die ihm zur Verfügung gestellten zielsprachlichen (authentischen) Redemittel bleiben Chunks oder unverstandene Phrasen. In der Euphorie der hermeneutischen Weiterentwicklung wurde jedoch oft übersehen, dass das Eigene und das Fremde keine monolithischen und stabilen Größen sind, zwischen denen der Lerner munter hin- und herwechseln kann. Perspektivwechsel sind vielleicht wünschenswerte Kompetenzen, aber vom kognitiven Apparat schwer herzustellen. Es sei denn, man geht davon aus, dass der Lerner eine gespaltene Persönlichkeit haben muss. Daher verfahren viele didaktische Empfehlungen, viele Lehrpläne – die sich weltweit gerne auf interkulturell-hermeneutische Konzepte beziehen – sowie viele Handbuchartikel und andere Veröffentlichungen in Fachzeitschriften stark idealisierend und begrifflich unscharf mit der Thematik. Zudem hat die Lehrpraxis eher ablehnend auf diese Ansätze reagiert, weil sie zu weit von den „eigentlichen“ Themen des Sprachunterrichts abzulenken scheinen. Eine der wichtigsten Fragen bleibt jedoch bestehen: Wie kann man eigentlich Fremdes und Neues verstehen? Gibt es nur ein richtiges Verstehen, das ein Lerner rekonstruieren soll, oder wie viel Spielraum hat er?

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

 die Grundlagen der interkulturellen Hermeneutik kennenlernen;

 die wichtigsten Anwendungen, Ansätze und Konzepte für den Sprachunterricht kennen und kritisch bewerten lernen;

 sich mit der Umsetzung anhand von konkreten Unterrichtsmaterialien und -beispielen vertraut machen;

 erkennen, warum weiterführende Ansätze für das (Fremd-)Verstehen so fundamental sind.

1.3.1 Grundlagen der interkulturellen Hermeneutikinterkulturelle Hermeneutik in der Sprachvermittlung

Als Referenzpunkt vieler interkulturell-hermeneutischer Modelle gilt der hermeneutische Ansatz von Gadamer, der selbst nicht explizit auf sprach- oder kulturkontrastive Aspekte des Verstehens eingeht, aber Hinweise auf Parallelen zwischen diachroner und synchroner Perspektive enthält.

Das Beispiel des Übersetzers, der die Kluft der Sprachen zu überwinden hat, lässt die Wechselbeziehung besonders deutlich werden, die zwischen dem Interpreten und dem Text spielt und die der Wechselseitigkeit der Verständigung im Gespräch entspricht. Denn jeder Übersetzer ist Interpret. Die Fremdsprachlichkeit bedeutet nur einen gesteigerten Fall von hermeneutischer Schwierigkeit, das heißt von Fremdheit und Überwindung derselben. Fremd sind in dem gleichen, eindeutig bestimmten Sinne in Wahrheit alle ‚Gegenstände‘, mit denen es die traditionelle Hermeneutik zu tun hat. Die Nachbildungsaufgabe des Übersetzers ist nicht qualitativ, sondern nur graduell von der allgemeinen hermeneutischen Aufgabe verschieden, die jeder Text stellt. (Gadamer 1975 [1960]: 365)

Diese linguakulturelle Aufgabe des Übersetzers illustriert Vermeer (1987) unter Verweis auf die Übersetzung von Dickens’ Satire auf das englische Bildungssystem, die im 19. Jahrhundert verfasst wurde. Um diese Satire verstehbar zu machen, bedürfe es einer im Grunde ähnlichen Übersetzung für britische Leser von heute und für solche, die des Englischen gar nicht mächtig seien. Die Unterscheidung der Zielgruppen liegt in der Unterscheidung von diachroner und synchroner Perspektive.

Dickens’ bittere Satire auf das damalige englische Schulwesen ist dem heutigen Engländer (als Angehörigem einer ‚anderen‘ Kultur!) oft genug amüsante Lektüre; Dickens’ Gefühle kann er wohl kaum nachfühlen. (Vermeer 1987: 543)

Das Muster des Übersetzens gilt als Grundlage der interkulturellen Hermeneutik. Sie basiert auf der Annahme, dass das Unbekannte / Fremde im Rahmen eines dialektischen Prozesses in Eigenes / Bekanntes überführt, also aufgelöst werden könne. Durch die Kontrastierung des Bekannten mit dem Neuen oder Fremden entstünden Austauschprozesse, die letztlich zum besseren oder „richtigen“ Verstehen führten. Die Gegenüberstellung öffnete damit den „fremden Blick auf das Eigene“ (Lévi-Strauss 1963).

Da „eigene“ und „fremde“ Perspektiven grundsätzlich unvollständig sind und sich zur Vervollständigung ergänzen müssen, setzen interkulturell-hermeneutische Ansätze die kompensatorische, optimierende und maximierende Wirkung mangelnden Wissens voraus. Interkulturelle Kompetenzinterkulturelle Kompetenz ist im Sinne des Ausgleichs unterschiedlicher Wissensbestände daher auch als eine InkompetenzkompensationskompetenzInkompetenzkompensationskompetenz bezeichnet worden (Marquard 1995).

Da die Distanz zum Fremden, die Fremdheit, nichts objektiv Gegebenes ist, sondern sich relativ zum Vorwissen des Betrachters und der Betrachterin beziehungsweise des Lerners verhält, basiert die angestrebte Horizontverschmelzung (fusion of horizons)Horizontverschmelzung (fusion of horizons) von fremder und etablierter Perspektive auf einer normativen Wirkung des vorhandenen Horizonts, der den Maßstab für die zu erwerbenden neuen Kompetenzen bildet.

Mit dem folgenden Modell (aus Roche 2001: 51) lassen sich die in Bezug auf die Verstehbarkeit des Fremden idealisierten Grundprinzipien interkulturell-hermeneutischer Unterrichtsverfahren vereinfacht darstellen. Es geht davon aus, dass Fremdverstehen im Unterricht möglich, erwünscht und zielgerichtet ist.


Abbildung 1.6: Prämissen erfolgreicher interkultureller Kommunikation; L1 = Erstsprache, L2 = Zweitsprache (Roche 2001: 48)


Abbildung 1.7: Vereinfachtes Modell interkulturellen Verstehens im Sinne interkulturell-hermeneutischer Ansätze (Roche 2001: 51)

Ein minimaler Code muss demnach im extremsten Falle außer einer Einigung über den Wert besseren Verstehens und einer grundlegenden Kommunikationsbereitschaft keine weiteren Bedingungen umfassen. Das trifft etwa auf Schülerinnen und Schüler zu, die sich auf Fremdsprachenunterricht einlassen, ohne in der Lage zu sein, eine Relevanz für die eigenen Interessen und Ziele darin zu erkennen. Die Bereitschaft, eine Sprache zu lernen oder mit Fremden zu kommunizieren, signalisiert ein (temporäres) Einverständnis mit den Minimalanforderungen interkultureller Kommunikation. Damit dieses idealisierte Modell funktionieren kann, bedarf es nicht nur eines fremdkulturellen Partners oder Partnerin, sondern auch eines Mediums, das die Bedeutung vermittelt, erkennbar macht oder die Beteiligten in die Lage versetzt, Bedeutung auszuhandeln. Dieses Medium ist in der Regel eine Sprache oder ein anderes Zeichensystem, das zum einen ein Minimum an vermeintlichen Gemeinsamkeiten (als Ausgangsbasis) aufweist, zum anderen sich aber auch für einen offenen Diskurs eignet.

Diese kommunikativen Prämissen sind im Unterricht – und im Alltag – jedoch in Wirklichkeit oft nicht gegeben: Erstens will nicht jeder, der einer fremden Kultur begegnet, sie auch verstehen (lernen), und nicht jeder Lerner, der Fremdsprachenunterricht erhält, hat tatsächlich ein Interesse am Erlernen der fremden, und am besseren Verstehen, seiner eigenen Sprache. Auch will nicht jede „Kultur“ von außen verstanden werden (Ihekweazu 1987; Zimmermann 1991). Im Gegenteil, manche Kulturen verweigern Fremden den Zugang oder verlangen eine Autorisierung des Verstehens durch die „Besitzer“ dieser Kultur (zum Beispiel indigene Kulturen in Nordamerika). Zweitens ist eine möglichst große Korrespondenz zwischen den Zeichensystemen anzustreben zwar das idealisierte Ziel der gängigen interkulturell-hermeneutischen Verfahren, aber wie aufwändig das in der Praxis ist, zeigt die Translationstheorie bei der Herstellung funktionaler Äquivalenzen zwischen Sprachen und bei der Abstimmung von Funktion und Form in Übersetzungen deutlich auf. Gründe für die Schwierigkeiten sind nicht nur die mangelnden interkulturellen Korrespondenzen, sondern auch die große intra-sprachliche Variationsbreite aufgrund von diatopischen, diastratischen, diaphasischen, medialen und anderen Variablen. Vergleiche hierzu die Ansätze der interkulturellen Germanistik bei Wierlacher (1987) und Thum (1993), kritisch dazu etwa die Beiträge von Fan (1999) und Webber (1990), sowie die kritische Würdigung der Entwicklungen in der interkulturellen Hermeneutik in dem Beitrag von Fäcke (2006).

 

Da sich die kommunikativen Prämissen wegen ihrer Komplexität und Zirkularität nicht so leicht einlösen lassen, ist verschiedentlich versucht worden, über die Definition universeller Minimalinventarien von Kommunikationsprinzipien die Grundlagen für erfolgreiche Kommunikation zu etablieren. Zu diesen gehören etwa die Kommunikationsmaximen von Grice (1975) oder das Kommunikationsmodell von Ruben (1987). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass diese Modelle nicht weniger von kulturellen Prämissen beeinflusst sind als andere. Für einen Lerner zumindest ergibt sich daraus, das Problem, dass er bereits über ein vorentwickeltes Niveau an Fremdverstehenskompetenz oder kommunikativem Konsens verfügen muss, um Zugang zur fremden Sprache und Kultur bekommen zu können. Die Minimalinventarien kommunikativer Prämissen sind zudem mit einem methodischen Problem behaftet, das auch die Ansätze des interkulturellen Trainings belastet: dem Problem der interkulturellen Äquivalenz der Definitionskriterien. Die Semantik der Dimensionen, Standards und Orientierungen im interkulturellen Training ist keinesfalls universell einheitlich. Eine semantische Äquivalenz lässt sich auch beim methodischen Inventar nicht durch eine einfache Übertragung der Begriffe in andere Sprachen herstellen, sondern erfordert die Ermittlung der kulturellen Bedeutung (des kulturellen Wertes) der Kriterien. Die ethnozentrische Besetzung der Kriterien spiegelt also nur eine nach einheitlichen Kategorien klassifizier- und steuerbare Kommunikation vor (vergleiche hierzu auch die Kritik von van Es 2004).

Beeman, Hayami und Rabson (1993: 159) veranschaulichen die Problematik der semantischen Übertragbarkeit mit Blick auf die Vermittlung landeskundlicher Inhalte folgendermaßen:

The prime objective of anthropology is to come to an understanding of society from the viewpoint of a native. This is difficult when everything is in translation. Many social and cultural concepts in Japanese have no English equivalents. It is usually necessary, therefore, to use the Japanese terms in explaining these concepts to an English-speaking audience. Confronting this vocabulary in a Japanese setting gives a whole new impact to students’ understanding of the ideas behind the words. Additionally, Japanese writing styles convey a flavor in the material which itself is extremely significant for understanding Japanese culture. This cannot be adequately conveyed in English.

Bei der Ermittlung der kulturellen Bedeutung ergeben sich zwangsläufig unterschiedliche Gewichtungen der durch die Begriffe abgebildeten Werte und Einstellungen, zum Beispiel bei der Konstruktion von Wahrhaftigkeit, die unter den Grice’schen Kommunikationsmaximen eine zentrale Rolle einnimmt. Im Gegensatz zu der Grice’schen Maxime der Wahrhaftigkeit gilt es in manchen Gesellschaften zum Beispiel als höflich und gesichtswahrend, einem Ortsfremden ausführliche Orts-, Richtungs-, Entfernungs- oder Zeitangaben zu geben, obwohl dem Sprecher das sachlich zutreffende Wissen fehlt und er dies auch weiß. Wenn aber selbst einfachste Standards in interkultureller Kommunikation nicht als gesichert gelten können, scheint das gegenseitige Verstehen stark vom Zufall abhängig. Die explizite Kontrastierung von Eigenem und Fremdem bietet dabei nur eine begrenzte Lösungsmöglichkeit.

1.3.2 Innen- und Außenperspektive

Viele Lehrpläne fordern für die Vermittelbarkeit fremder Kulturen nicht nur die Gegenüberstellung unterschiedlicher Perspektiven, sondern auch deren wechselseitige Einnahme durch die Lerner. Die Einnahme der Fremdperspektive (der Innenperspektive des Fremden) liefert dazu die entscheidenden Impulse: „Die Grundstruktur des Verstehens besagt, dass wir uns in Andere versetzen und eine Innenperspektive einnehmen, so dass wir die Welt mit ihren Augen zu sehen versuchen“ (Bredella 2010: 24).

Die Übernahme der Innenperspektive soll Missverständnisse in der Kommunikation abbauen oder verhindern (siehe Bredella 2010: 101). Zum Verstehen des Fremden reiche das Einnehmen seiner Innenperspektive aber nicht aus. Es müsse immer mit dem Einnehmen einer Eigenperspektive (der Außenperspektive des Betrachters und der Betrachterin beziehungsweise des Lerners) einhergehen, mit der wir „die Welt mit unseren eigenen Augen sehen, um auf das, was sie uns zu sagen haben, antworten zu können“ (Bredella 2010: 24).

So entstehe ein dialogischer Prozess, der Rückwirkungen auf das Selbstverständnis eines jeden Einzelnen habe und eine Veränderung des eigenen Vorverständnisses mit sich bringe. Die besondere Bedeutung des Einnehmens der Innenperspektive in diesem Prozess sei dadurch begründet, dass sie verhindere, dass der Andere im Verstehensprozess unter bestehende Wertvorstellungen subsumiert werde. Aufgabe des Unterrichts sei es, diesen Perspektivenwechsel anzuregen. Hierin sieht Bredella die Grundlage für den Einsatz von Literatur im Fremdsprachenunterricht, den er vorwiegend an historischen literarischen Texten illustriert. Der eingängige und auch in der Alltagssprache etablierte Begriff Perspektivenwechsel neigt jedoch zur Verdeckung der Tatsache, dass der beabsichtigte Wechsel mit dem gleichbleibenden Wahrnehmungsapparat erfolgt, in dieser binären, idealisierten Form also kognitionsbedingt kaum möglich ist. Zumal dann nicht, wenn der Lerner / Leser – wie auch bei den Deutungsmustern dargestellt – nicht bereits über das entsprechende Vorwissen verfügt. Bolscho (2005) verweist in diesem Zusammenhang auf die Begrenztheit der Definition von Eigenem und Fremden und führt die intrakulturelle Variationsvielfalt und Binnendifferenz als Gegenevidenz zu binären Fremdheitsmodellen an, wie sie in Arbeiten des Gießener Graduiertenkollegs Didaktik des Fremdverstehens angewendet wurden (Bredella, Christ & Legutke 2000; Bredella & Christ 1995 in Datta 2005; vergleiche auch Brumlik 2006 und Fäcke 2006). Auch würden gesellschaftspolitische Bedingungen der Fremdkulturen nicht thematisiert oder reflektiert (Fäcke 2006: 13). Dass der Lerner durch Kontrastierung verschiedene Perspektiven kennenlernen kann, ist unbestritten, aber ob er sich durch die reine Gegenüberstellung, also ohne den Einfluss seines Vorwissens, willkürlich in die Innenperspektive einer anderen Gesellschaft versetzen kann, ist fraglich (vergleiche Krusche 2002: 389). Es ist empirisch bisher nicht belegt, dass die theoretischen Konzepte in der Lehr- und Lernpraxis funktionieren. Es gibt wenige Studien aus dem Schul- und Studiumsbereich, die interkulturelle Lernziele einer empirischen Überprüfung unterziehen. Hierzu gehören die Arbeiten zur Einstellungsveränderung durch Austauschprogramme. Deren Ergebnisse aber lassen Zweifel daran aufkommen, ob die rein kontrastbasierten, ohne Vermittlungs- und Reflexionsbegleitung auskommenden Austauschprogramme das erreichen, was sie vorgeben. Insgesamt dokumentieren die Studien sogar eher gegenläufige Bewegungen: Ein Mehr an Kontakt und Beschäftigung mit der fremden Kultur führt oft zu einer Verstärkung bestehender Vorurteile und Stereotypen über die fremde Kultur, also einem erschwerten Zugang zur Innenperspektive und einer weiteren Verzerrung der Außenperspektive. Verzerrte Wahrnehmungen der eigenen Kultur sind ein ebenso häufig beobachtetes Ergebnis. Die Verstärkungen bestehender Vorurteile lösen sich unter Umständen erst in späteren Phasen auf, wie eine Forschungsübersicht und die empirischen Ergebnisse der deutsch-japanischen Studie in Sato-Prinz (2011 und Lerneinheit 7.3 in diesem Band) belegen. Durchgängig verweisen die Studien auf die Notwendigkeit guter Rahmenbedingungen und begleitender Vermittlungsprozesse für das Gelingen von Perspektivenwechseln und den Abbau verzerrter Wahrnehmungen (Webber 1996).

Brière (1986: 205) spricht hier von einem explizit interkulturellen Ansatz im Kulturkontakt:

The study of a foreign language does not, in itself, automatically offer a way out of ethnocentrism. It is a mistake to believe that contact with a foreign world automatically brings cultural understanding. On the contrary. As Laurence Wylie pointed out about a survey of some junior year abroad programs, ‘students who were somewhat suspicious of what they were about to experience in France returned francophobes. Those who had been curious and eager about their experience became ardent francophiles. Contact simply deepens the feeling you already have.’ […] An explicit intercultural approach is all the more essential […].

Unter guten Betreuungs- und Vermittlungsbedingungen, wie ihn der interkulturelle Ansatz fordert, stellt Medina (2008) positive Veränderungen in den Einstellungen von Austauschschülerinnen und -schülern bei Aufenthalten in Mexiko gegenüber ihrem Heimat- und dem Gastland sowie ein verändertes Verständnis ihrer eigenen kulturellen Identität fest. Auch Seebauer (2009) verzeichnet ähnliche Verhaltenstendenzen, kann aber keine signifikanten Änderungen vermerken. Coleman (1996) gehört dagegen zu den Skeptikern von Austauschprogrammen. Die Studie zeigt, dass viele Untersuchungen zu vermeintlich positiven Aspekten des Austauschs auf anekdotischer Evidenz basieren (Coleman 1996: 110). Laut Colemans Vergleichsstudie unterschiedlicher Jahrgänge kann davon ausgegangen werden, dass sogar circa 15 % der Studentinnen und Studenten, die im Ausland studieren, mit schlechteren Einstellungen zur fremden Kultur zurückkehren, als sie sie vor der Ausreise hatten. In Lerneinheit 7.3 in diesem Band stellt Manuela Sato-Prinz die neuesten Ergebnisse einer umfangreichen Studie zum Lern- und Veränderungsverhalten von Austauschstudentinnen und -studenten ausführlich dar und diskutiert die gängigen Vorstellungen von Internationalisierungsstrategien kritisch im Lichte dieser Ergebnisse.

Diese Entwicklung deutet jedoch nicht auf eine globale Verschlechterung der Einschätzungen mit zunehmender Kontakterfahrung hin, denn ehemalige Austauschstudentinnen und -studenten weisen auf einen vermehrten Wunsch nach zukünftigem beruflichen Bezug zu Deutschland hin. Es zeigt sich an der Art und Weise der Beschreibungen, dass die Austauschstudenten insgesamt ein differenzierteres Bild des Fremden entwickeln. Das nur auf vermittelten und nicht auf eigenen Erfahrungen beruhende und durch stereotype Annahmen geprägte Ausgangsniveau erweist sich als oft zu positiv besetzt. Sato-Prinz (2011 und Lerneinheit 7.3 in diesem Band) folgert in Anlehnung an Grünewald (2004), dass die Veränderungen mit zunehmendem Kontakt eine realistischere Einschätzung der fremden Kultur und – bedingt auch der eigenen – bewirken (siehe auch Budke 2003). In den Beschreibungen der Studenten offenbart sich allerdings keine allzu große Differenzierung des Eigenbildes durch den Kontrast zur fremden Kultur. Die Definitions- und Wahrnehmungskriterien werden demnach vor allem in Bezug auf das Bild der fremden Kultur verfeinert. Mit Markus und Kitayama (1991) kann also gefolgert werden, dass kulturspezifische und individuelle Faktoren zusammenwirken und konstitutiv – und zu einem gewissen Grade gegen äußere Einflüsse resistent – bei der Konstruktion des Selbst mitwirken:

It is important to note, however, that our initial observations lead us to believe that there is also substantial within-culture variation in the construal of the self. Thus, within each culture, there is likely to be a distribution of people ranging from those who are most concerned with independence to those who are most concerned with interdependence. Moreover, within each culture, there is also likely to be significant divergence in how the self is construed on the basis of gender, ethnicity, religion, region of the country, and according to historical and generational cohort. (Markus & Kitayama 1991: 20)

Die Vorstellung, einfacher Kontakt von Kulturen führe automatisch zu interkulturellem Verstehen, bedarf daher kritischer Betrachtung:

Contrary to popular belief, inter-group contact does not necessarily reduce inter-group tension, prejudice, hostility and discriminatory behavior. Yet one often hears politicians, church leaders and other public figures saying that if only people of diverse cultural backgrounds could be brought into contact with each other, they would surely develop a mutual appreciation of their points of view and grow to understand, respect and like one another. (Bochner 1982: 16)

 

Ein belastbarer Fortschritt lässt sich durch die postulierte Kontrastierung von vermeintlich Eigenem und Fremdem nicht verzeichnen, solange nicht die Bedingungen des kognitiven Apparates berücksichtigt werden. Lerneinheit 7.3 von Sato Prinz zeigt, wie dieser kognitive Apparat mittels Akkommodations- und Assimilationsprozessen die neu gemachten Erfahrungen in bestehende, mehr oder weniger verfestigte Bilder, Einstellungen und Verhaltensformen in Bezug auf die Ausgangs- und die Zielkultur restrukturierend integriert und dabei auch gegenläufige Veränderungen bewirkt, zum Beispiel in Bezug auf Generalisierungs- und Differenzierungsstrategien.