Kontakt als erste Wirklichkeit

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II. Dialektik und Psychoanalyse

Fritz Perls’ Verbindung zum Marxismus, sein erster »Guru« Salomo Friedlaender (a. a. O., 73 f.), ein Philosoph und expressionistischer Groteskenschreiber (Pseudonym Mynona) im Berlin der Zwanziger-Jahre, sowie seine Lehrzeit bei Wilhelm Reich brachten ihn in Kontakt mit der Tradition des dialektischen Denkens, die scheinbare Gegensätze als sich notwendig ergänzende Polaritäten betrachtet. Diese Tradition in der europäischen Geistesgeschichte ist alt und lässt sich, was die Einflüsse auf Perls angeht, neben der für ihn zentralen Figur Friedlaender/Mynona (vgl. Frambach 1996; Frambach & Thiel 2013) bei Schelling, Goethe, Nietzsche und Marx finden, aber auch in den Weisheiten des Taoismus, mit denen die beiden Perls’ ebenfalls früh in Berührung kamen. Die dialektische Methode, »ein Denken, das mit fließenden Prozessen zu tun hat« (W. Reich 1937, 14), ist für Perls der wertvolle Kern der dialektischen Theorien, deren metaphysische Folgerungen er ablehnt. Er wendet sich gegen »Hegels dialektischen Idealismus als einen philosophischen Versuch, Gott durch andere metaphysische Begriffe zu ersetzen«, (F. Perls 1942/1991, 15) und auch die Mischung von wissenschaftlicher Forschung und Wunschdenken, die er bei Marx mittlerweile sieht, ist für ihn »kein dialektischer Realismus« (a. a. O.), dem er folgen kann. Für Perls, wie für seinen Berliner Lehrer Reich, ist von Bedeutung, dass das Leben in Bewegung, im Fluss ist, sich die Einheit, ein stabiler Zustand, immer wieder in Gegensätze polarisiert, die sich ergänzen und die wieder zur Integration/Synthese kommen müssen. Dies ist ein alter romantisch-naturphilosophischer Gedanke, der praktische Folgen für die gestalttherapeutische Arbeit und ihre Sicht vom Menschen gehabt hat. Perls bezieht darüber hinaus den dialektischen Gesichtspunkt12 sowohl auf die Begrifflichkeiten der Psychoanalyse (wie er das auch noch später mit der Paarung Über-Ich/Top-Dog und Unter-Ich/Under-Dog getan hat) als auch auf die Gegensätze innerhalb der psychoanalytischen Bewegung. Der letzte Punkt unterscheidet ihn von den linken Berliner Analytikern (Bernfeld, Fenichel, Reich etc.), für die etwa die Verbindung zwischen Marxismus und Psychoanalyse im dialektischen Charakter beider Ansätze bestand, die als Psychoanalyse aber lediglich die Freud’sche Schule gelten ließen. Als Beispiel für die Dialektik innerhalb der psychoanalytischen Bewegung zieht Perls die zu seiner Zeit offiziellen Unvereinbarkeiten zwischen dem historisch denkenden »Epimetheus« (a. a. O., 101) Freud und dem futuristisch denkenden »Prometheus« (a. a. O.) Adler heran.

In Bezug auf Alfred Adler, dessen Individualpsychologie ja eigentlich Ganzheitspsychologie heißen müsste, möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass er historisch als erster einige notwendige Ergänzungen zu Freuds Ansichten entwickelt hat. Dass Adlers soziale, ich-psychologische und dialogische Ansätze immer wieder bei den Dissidenten der Freud’schen Psychoanalyse und ihren jeweiligen Schulen auftauchten, hängt mit der notwendigen Wiederkehr des Verdrängten zusammen. Die heutige Individualpsychologie (Antoch 1989, Heisterkamp 1993), die sich in Deutschland wieder als Psychoanalyse versteht, weist in ihrer Theorie und Praxis Überschneidungen mit der Gestalttherapie auf, was nicht zuletzt in gemeinsamen theoretischen Quellen (Gestaltpsychologie, Smuts Holismus, Lebensphilosophie) begründet liegt. Perls:

Leider bekämpfen Freudianer und Adlerianer einander, oder sie verbergen ihre gegenseitige Verachtung hinter einer pseudotoleranten, aber blinden Haltung, leben also in der besten Tradition des Sektierertums. Obwohl beide daran gewöhnt sind, in Gegensätzen zu denken – Freud generell, Adler gelegentlich (oben-unten; männlich-weiblich; überlegen-unterlegen) – weigern sie sich, sich selbst als Gegensätze zu sehen, die einander in vieler Hinsicht wechselseitig ergänzen. Außer mit der Betrachtung der Dialektik in der psychoanalytischen Bewegung, können wir uns auch mit der Dialektik der Psychoanalyse selbst befassen. Ausgehend vom Wort Psychoanalyse schlagen wir folgendes Ergänzungsschema vor:


(F. Perls 1942/1991, 79)

Diese Herangehensweise, divergierende therapeutische Ansätze als dialektische Ergänzungen zu betrachten, wird später in der New Yorker Diskussion fortgesetzt. Zu den inakzeptablen Spaltungen in der Theorie gehören für die Autoren folgende Gegensatzpaare: Körper und Seele, Selbst und Außenwelt, emotional/subjektiv und real/objektiv, infantil und reif, biologisch und kulturell, Poesie und Prosa, spontan und absichtlich, persönlich und gesellschaftlich, Liebe und Aggression sowie bewusst und unbewusst (vgl. Perls et al. 1951/1991, 24 f.).

Der gestalttherapeutische Entwurf von 1951 ist ein gelungener Versuch, unterschiedliche Strömungen der psychoanalytischen Bewegung, die sich auf bestimmte Bereiche der menschlichen Realität konzentriert hatten und voneinander abgrenzten, als sich ergänzende Polaritäten zu begreifen und ihre als wertvoll erachteten Erkenntnisse zu integrieren. Entsprechend heißt es zu den verschiedenen Schulrichtungen der Psychoanalyse: »Im großen und ganzen sind ja die verschiedenen Theorien logisch nicht unvereinbar, und häufig liefern sie sich gegenseitig nur gefällige Ergänzungen und indirekte Bestätigung« (a. a. O., 65). An anderer Stelle, nach der Auflistung der Kernpunkte des eigenen neuen Therapieansatzes, wird betont, »dass jedes der hier genannten Elemente in der Geschichte der Psychoanalyse bekannt ist«, (a. a. O., 19) und zurzeit ein Trend zur Synthese dieser Elemente besteht. Dann wird darauf verwiesen, dass Freuds Übertragungskonzept letztlich, wie die Gestalttherapie, mit der »Struktur der augenblicklichen Situation« (a. a. O.) arbeitet, ebenso wie die Vertreter der interpersonellen Schule und Reich mit seiner Charakteranalyse das tun. Weiterhin wird (feldtheoretisch) auf die »Integrität der augenblicklichen Situation« hingedeutet, der soziokulturelle, animalische und physische Faktoren innewohnen und deren zumindest teilweises Ernstnehmen sich in der Beachtung der psychophysischen Einheit (Reich) und der Einheit von Gesellschaft und Individuum (Sullivan) zeigt. Sodann wird hingewiesen auf »experimentelle Methoden« (a. a. O.) wie Ferenczis »Aktive Methode« (a. a. O.), Reichs körperbezogene charakteranalytische »Vegetotherapie« (a. a. O.) und Morenos Psychodrama, sowie auf Rank, Jung und die Pädagogen der »Progressive Education« (a. a. O.), die den »schöpferischen Ausdruck« (a. a. O.) als Mittel der Reintegration betrachten. Im Laufe einer Therapie ist es nötig,

den Ansatz zu verlagern, vom Charakter zur Muskelspannung, von da zum Sprachverhalten, dann zur emotionalen Verbindung mit dem Traum und wieder zurück. Wir sind der Überzeugung, dass es möglich ist, ein zielloses Kreisen zu vermeiden, wenn man sich gerade mittels der Zulassung aller Ansätze- um der Vielfalt des Kontextes willen – konzentriert auf die Struktur von Figur und Hintergrund und dem Selbst offene Chancen verschafft, nach und nach das Selbst zu integrieren. (a.a.O., 28 f.)

III. Kontaktpsychologie und Tiefenpsychologie

Dies führt zum nächsten wichtigen Punkt, nämlich zum Neuen, das durch den Integrationsprozess entstanden ist. Ich habe schon das Konzept der schöpferischen Anpassung erwähnt und will hier darauf zurückkommen. In der Gestalttherapie wird versucht, (dies ist eins ihrer anarchistischen Elemente), für den hilfesuchenden Klienten keine Norm aufzustellen in Bezug darauf, was das allgemeine und so auch für ihn gültige Therapieziel zu sein hat.

Das heißt, wir vermeiden das psychologische Vorurteil, was »normal« beziehungsweise »abnorm« sei; und von daher ist die Psychotherapie keine Methode der Korrektur, sondern vielmehr eine des Wachstums (a. a. O., 20).

Psychotherapie ist für die Gestalttherapie keine Krankenbehandlung im Sinne des herrschenden medizinischen Weltbildes und auch nicht auf eine solche reduzierbar, ohne ihre Identität zu verlieren (vgl. Bocian 1992b, Portele 1988). Wachstum bedeutet kreative Auseinandersetzung mit der Welt, bedeutet, nicht nur sich der Umwelt anzupassen, sondern auch, sich die Welt passend zu machen, verändernd auf sie einzuwirken und wieder verändert zu werden. Es bedeutet auch, es auf die eigene, individuell angemessene Art und Weise zu tun. Hiermit hängt das positive Verhältnis der Gestalttherapie zur Aggression zusammen (vgl. Blankertz 1990, 51 f., Dreitzel 1992, 66 f.), die für das Wachstum und die Destrukturierung (das Durchkauen und passend machen) des Wachstumsmaterials aus der Umwelt notwendig ist. Ein weiterer Punkt ist die neue Theorie vom Selbst oder vom Ich, der Kraft, die diese schöpferische Anpassung bewerkstelligt. An diesem Punkt kommt es zur Einbeziehung von Theorien außerhalb der Psychoanalyse. Die Bewusstseinstheorie der Psychoanalyse ist nicht ihre Stärke, in vielen orthodoxen Arbeiten bleibt das Bewusstsein, das Ich, letztlich rezeptiv, und, eingezwängt zwischen Es und Über-Ich, von der Umwelt isoliert, statt auch ein aktiver und erfinderischer Kontaktmacher zu sein, wie Goodman das ausgedrückt hat. Die Ergänzung bilden die Erkenntnisse

der gestalttheoretischen Revolution, die im Wesentlichen eine Rückkehr zu den Auffassungen der Antike war. … Wahrnehmung, Abstraktion und Problemlösung wurden nun als gestaltete und sich gestaltende Ganzheiten verstanden, als Erfüllung unerledigter Aufgaben oder Bedürfnisse. Man hätte nun eine sofortige Annäherung zwischen Gestaltpsychologie und Psychoanalyse erwarten sollen, eine Synthese zwischen Kontakt- und Tiefenpsychologie und damit zugleich eine funktionale Theorie von Selbst, Es, Ich und Persönlichkeit. Dies trat nicht ein. (Perls et al. 1951/1991, 193)

 

Es gab zwar Bemühungen von beiden Seiten, insbesondere von Seiten der Psychoanalyse (vgl. Waldvogel 1992), aber den konsequentesten Integrationsversuch haben meiner Ansicht nach die Perls’ und Goodman unternommen. So hat die Gestalttherapie auch an diesem Punkt die Weiterführung eines Projektes betrieben, das innerhalb der psychoanalytischen Bewegung begonnen wurde.

Mein Anliegen ist es, die Gestalttherapie, die sowohl tiefenpsychologisches wie systemisch-kontextuelles Arbeiten und Denken zu vereinen sucht, vom psychoanalytischen Hintergrund her zu betrachten. Die Polarität Gestalttheorie zum Hintergrund zu nehmen, ist genauso fruchtbringend und führt ebenfalls zu einer Vertiefung und Präzisierung der gestalttherapeutischen Figur. Hierher gehört der ganze Reichtum der mit der Gestalt-/Kontexttheorie verbundenen Feldtheorien, gehören die modernen System- und Selbstorganisationstheorien, der Konstruktivismus sowie deren Beziehung zu den östlichen Erkenntnistheorien des Buddhismus und Taoismus. Für diesen Kontext wird die Bedeutung der Ideen von F. Perls, von denen manche ihrer Zeit voraus waren, zunehmend erkannt und gewürdigt. Zudem gibt es fundierte Bemühungen, den Gestalt-Ansatz innerhalb dieser neuen Paradigmen zu definieren und erkenntnistheoretisch zu untermauern (vgl. grundlegend Portele 1989, 1989a, 1992, sowie Fuhr/Gremmler-Fuhr 1995, Klatte 1997, Mehrgardt 1995, Parlett 1992). Perls hat zunehmend innerhalb eines systemischen Paradigmas gedacht und gearbeitet, und Gestalttherapie kann durchaus schwerpunktmäßig als systemischer Ansatz betrieben werden, der »Störungen im Feld« (Perls et al. 1951/1991, 146 f.) behandelt (Gruppen- und Familientherapie, alternativ-pädagogische Projekte, Organisationsentwicklung etc.).

IV. Zur Revision der Triebtheorie
Hungertrieb und Triebzyklus

Wie viele der kreativen Psychoanalytiker (etwa Ferenczi, Rank, K. Landauer) geht auch F. Perls auf frühe Konzepte von Freud zurück, in diesem Fall auf die gegen 1910 von Freud vertretene Polarität selbsterhaltende Ich-Triebe versus selbsterweiternde Sexualtriebe. In einer der Schriften aus dieser Zeit spricht Freud (in Heigl-Evers, A. et al. 1993, 5) von Hunger und Liebe, als den beiden Elementarbegriffen, was an Schillers Verse aus »Die Weltweisen« erinnert:

Einstweilen, bis den Bau der Welt

Philosophie zusammenhält,

Erhält sie das Getriebe

Durch Hunger und durch Liebe (in a.a.O.)13

Im gestalttherapeutischen Konzept wird aus Freuds eher dualistischer Sichtweise ein monistisch-dialektischer Ansatz, der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung als einheitlichen Prozess fasst. »Das Grundgesetz des Lebens ist Selbsterhaltung und Wachstum.« (Perls et al. 1951/1991, 64) Zu diesem Wachstumsprozess gehört für Perls notwendigerweise Destrukturierung, Aggression, Durchkauen und Durcharbeiten. Entsprechend wird das Verhältnis von Aggression und Todestrieb anders eingeschätzt als bei Freud. Der grausam-mörderische Thanatos, der Todestrieb, Freuds später Monopolist für Aggression und Destruktion, meldet sich aus Sicht der Gestalttherapie als Resultat von Wachstumsblockaden, als gewaltsames Klopfzeichen verschütteten Lebens, wenn der kreative Eros des Selbst Repression erfährt oder ins Leere stößt. Dass Aggression auch ein Phänomen der Selbsterhaltung bei Bedrängung und Bedrohung ist und nicht lediglich Abkömmling des biologischen Todestriebes, wie beim späten Freud, haben innerhalb der Psychoanalyse nicht erst Kohut und die Säuglingsforschung entdeckt. Dies findet sich schon bei den Berliner Analytikern Ernst Simmel (1993, 228) und W. Reich sowie bei der Washingtoner Kulturschule. Reichs Formulierung, dass Aggression Teil jedes Triebes ist, wurde von Perls aufgegriffen (vgl. Bocian 1993), sodass Aggression nicht nur der Selbsterhaltung im Sinne von Abwehr dient, sondern auch der Selbsterweiterung im Sinne von Destrukturierung des für das Wachsen notwendigen Umweltmaterials. Nicht die Umwelt schlucken und introjizieren, sondern beißen, durchkauen, passend machen, kreativ assimilieren.

Das Triebleben wird von Perls von Anfang an als interaktionell verstanden, das innere Bedürfnis organisiert die Wahrnehmung, und die Umwelt kommt mit ihrem Aufforderungscharakter (Valenz) entgegen. Freud ist mit seiner Besetzungstheorie, nach der sich das Triebbedürfnis die benötigten Objektziele aus der Objektwelt durch Besetzung mit Libido schafft, für Perls (1942/1991, 45) der Figur-Hintergrund-Sichtweise der Gestaltpsychologie nahegekommen. Fritz Perls spricht von der »Gleichzeitigkeit von Trieb und Realität« und für ihn sind Aktion und Reaktion »ineinander verwoben«. (F. Perls a. a. O., 47) Im Mittelpunkt der von den beiden Perls’ in »Ich, Hunger und die Aggression« dargestellten »Triebtheorie« (a. a. O., 122) steht der Hungertrieb als Synonym für die »strukturelle Ähnlichkeit zwischen den Phasen unserer Nahrungsaufnahme und unserer geistigen Assimilation der Welt« (a. a. O., 137). Körper, Geist und Welt bilden im Wachstumsprozess eine Einheit, ein gemeinsames Feld. In Anlehnung an die Versuche Freuds, die menschliche Entwicklung in Libidostufen einzuteilen, schreibt Perls: »Die verschiedenen Entwicklungsstufen des Hungertriebes kann man als pränatale (vorgeburtliche), prädentale (Säuglings-), inzisorische (Beiß-) und molare (Beiß- und Kau-)Stufe klassifizieren« (a. a. O., 119). Perls versucht ansatzweise, die psychischen Aspekte dieser Stufen zu analysieren und er macht sich sozialpsychologische Gedanken über Hitlers »orale Technik« bei der Kriegsführung und dessen geschickte Ausnutzung der Identifizierungs-/ Abgrenzungsfunktion der Ich-Grenzen, bei der Bindung und Spaltung von gesellschaftlichen Gruppen (vgl. a. a. O., 159 f.).

Der psychophysische Hungertrieb realisiert sich in Form eines »Triebzyklus« (a. a. O., 76). Das Zuviel (Plus) oder das Zuwenig (Minus) des Organismus, das sein Gleichgewicht, seine Homöostase stört, löst immer wieder notwendig Umwelt-Kontakt und damit auch Wachstum aus. Es findet, in terminologischer Anlehnung an Goldstein und Reich, organismische Selbstregulation statt. Der Hungertrieb ist gewissermaßen der grundlegende Kontakttrieb, ob es sich um physische, geistige oder emotionale Nahrung handelt. Der in diesem Zusammenhang ganzheitlich verstandene Begriff »Kauen« entspricht für Perls dem »Durcharbeiten« Freuds (F. Perls 1969/1981, 240). Auf die zwischenmenschliche Ebene bezogen bedeutet dies (in freudianischer Terminologie), dass Grundtriebe und Objektbeziehungen eine dialektische Einheit bilden. Dies gehört zu den Erkenntnissen der modernen Objektbeziehungstheorien (ein schreckliches Wort), lässt sich aber, wie so manche ›Neuerung‹, in Grundzügen bereits bei den psychoanalytischen Freigeistern finden, die von der Orthodoxie so schwer auf Linie zu halten waren. Schon 1920 etwa sprach der Arzt und Anarchist Otto Gross, von der Sexualität des Kindes als »Trieb nach Kontakt im physischen und psychischen Sinne« (vgl. Hurwitz 1988, 265 f.). Paul Goodman macht in seiner Arbeit »Freuds Theorie der Denkvorgänge« (1954/1989, 67 f.) genau in diesem Sinne auf eine »Unstimmigkeit in Freuds Theorie der frühkindlichen Sexualität« (a. a. O., 69) aufmerksam:

Standen in Freuds frühen Arbeiten die erogenen Zonen noch in wechselseitiger Verbindung mit wesentlichen Lebensfunktionen, so definiert er ihren Charakter zunehmend als »autoerotisch«. Diese spätere Position macht jedoch wenig Sinn; denn das eigentliche physiologische Merkmal der erogenen Zonen – die sensitiven Schleimhäute – beweist, dass sie Kontaktorgane sind, ihre autoerotische Funktion muss zweitrangig sein. Sobald er diese zweitrangige Funktion an die erste Stelle setzte, musste Freud die frühkindliche Sexualität notwendigerweise mit dem seltsamen Wortungetüm »polymorphperverse« Anlage belegen. (a. a. O.)

Biologie und Soziales gehen zusammen und die Triebtheorie ist eigentlich eine Kontakttheorie. Die Perls’ (1942/1991) betonen, »dass das organismische Gleichgewicht durch einen Zyklus erlangt wird, den wir den Stoff wechsel zwischen Organismus und Welt genannt haben« (a. a. O., 75). An anderer Stelle nennen sie ihn »den Zyklus der Interdependenz von Organismus und Umwelt« (a. a. O., 49), was einem gestalttheoretischen Sprachgebrauch entspricht.14 Hieraus wird in New York das Kontaktzyklusmodell mit den Phasen Vorkontakt, Kontaktnahme, Kontaktvollzug, Nachkontakt, das auch in Form einer auf- und absteigenden Welle (Kontaktkurve) darstellbar ist, die sich an Reichs Orgasmuskurve anlehnt (ebd., 181). Dieses Grundmodell für Kontakt und Wachstum verknüpft sich mit der neuen Theorie des Selbst, stellt sozusagen dieses Selbst in interagierender Aktion dar. Wird es bei der Entfaltung seiner Interaktionen gehemmt, kommt es zu Unterbrechungen der Kontaktkurve, zu Kontaktstörungen, Wachstumsblockaden oder neurotischen Störungen (vgl. Dreitzel 1988, B. Müller 1988).

V. Die Theorie des Selbst und die Erfahrung des Selbst
1. Das Selbst als Prozess

Ausgangspunkt für die durch die beiden Perls’ in Zusammenarbeit mit Paul Goodman entwickelte Theorie des Selbst ist Perls’ Unzufriedenheit mit dem psychoanalytischen Ich-Begriff. Er kritisiert Freuds Ansicht, das Ich sei aus Identifikationen oder Introjekten aufgebaut. Für ihn ist diese Anschauung zu undialektisch, es fehlt ihm neben dem An- und Hineinnehmen das Ablehnen und Ausstoßen. Die Funktionen von Plus und Minus, Anziehung und Abstoßung, Identifizierung und Abgrenzung, Kontakt und Rückzug gehören zusammen. Perls wehrt sich gegen die Ontologisierung einer Ich-Substanz (hierin Groddeck ähnelnd) und definiert das Ich als Grenzfunktion. Es geht ihm um das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden, um die »Dialektik der Ich-Grenzen« (F. Perls 1942/1991, 153), wenn er Paul Federn kritisiert:

Die Theorie Federns zeigt einen deutlichen Fehler und eine Einseitigkeit. Der Fehler besteht darin, dass er das Ich als Substanz mit Grenzen ansieht, während nach meiner Ansicht nur die Grenzen, die Kontaktstellen, das Ich ausmachen. Nur wo und wenn das Selbst dem »Fremden« begegnet, beginnt das Ich zu funktionieren, zu existieren, die Grenze zwischen dem persönlichen und dem unpersönlichen »Feld« zu bestimmen. (a.a.O., 155)

Den Begriff Selbst in einem identitätsstiftenden und integrativen Sinne zu benutzen, ist zu dieser Zeit in der orthodoxen Psychoanalyse nicht gängig, findet sich aber bei Wilhelm Reich, Karl Landauer und vor allem bei Karen Horney, von deren Arbeiten Kohut für seine Selbstpsychologie anscheinend gelernt hat, ohne das zu erwähnen. Außer den Funktionen von Identifizierung und Abgrenzung hat das Ich für die Perls’ auch eine »integrierende Funktion … es verbindet die Handlungen des ganzen Organismus mit seinen vordringlichsten Bedürfnissen« (a.a.O., 157). Es organisiert also das Begehren.

In »Gestalt-Therapie« werden Perls Ansätze ausgearbeitet und es wird eine Kritik an psychoanalytischen Theorien des Selbst vorgenommen. Exemplarisch sehen die Perls und Goodman die »Mängel dieser Theorien des Bewusstseins (die im Allgemeinen als Theorien des Ichs deklariert werden)« (1951/1991, 179) bei Paul Federn und Anna Freud. Sie gehen davon aus, dass »die Funktion des Selbst von Freud selbst zutreffender behandelt wurde, abgesehen davon, dass er, aufgrund einer falschen Theorie der Verdrängung, die schöpferischen Leistungen des Selbst meist dem Unbewussten zuschreibt« (a. a. O., 179).