KLfG Extrakt - Gegenwartsliteratur aus Spanien

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Aus der Reihe: KLfG Extrakt
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Rubéns Tochter Sylvia, eine Restauratorin, ist ihrem Onkel näher als dem eigenen Vater und verurteilt diesen moralisch, während sie sein Geld gern annimmt. Neben ihrer Ehe leistet sie sich einen jüngeren Geliebten: „Ihre Beziehung zu ihm, die in ihrem bürgerlichen Leben scheinbar eine Übertretung darstellt, ist eigentlich nur eine Erscheinungsform der Resignation bei einer Frau, die sich nicht getraut hat: also Anpassung, Akzeptieren der Gegebenheiten.“ Es hagelte Kritik an Rubén, der aber in manchen Momenten sympathischer ist, ehrlicher, als andere Figuren. Zu einem Kritiker sagte Chirbes einmal, er könne es nicht leiden, wenn die Bösen auch noch dumm seien. Rubén Bertomeu verkörpert eine für Chirbes sehr typische Figur eines vermeintlich unmoralischen Profiteurs, an dem sich die anderen – allen voran der Autor selbst – abarbeiten müssen und vornehmlich feststellen, wie tief verstrickt in fragwürdige Strukturen und Lebensweisen sie selbst eigentlich sind. Es gibt in diesem Roman niemanden, dem ein stimmiger Entwurf für das eigene Leben gelungen wäre, der ungeschoren davonkommt. Da ist Rubéns Jugendfreund Brouard, ein mittelloser Schriftsteller, der ihn hasst, aber Land an ihn verkauft. Oder Rubéns Mann fürs Grobe, Ramón Collado, der einst im Auftrag seines Chefs einen Brand gelegt hat und jetzt selbst Opfer eines Brandanschlags geworden ist. „Ein Schauder, wenn er ans Feuer denkt. Jetzt erreicht es dich, denkt er. Er stellt sich sein Gesicht auf einer Mappe vor, die gestern Nacht jemand unter den Arm geklemmt hatte, Fotos von seiner Frau, seinen Kindern. Er möchte am liebsten weinen.“ Collado ist eine der vielen Männerfiguren bei Chirbes, deren Väter nach den Demütigungen des Bürgerkrieges keine Väter mehr waren. Erzählt wird, wie Collado sich von dem Patriarchen Rubén Halt gewünscht hatte, Zugehörigkeit, um jeden Preis. Es gibt in diesem multiperspektivischen Abgesang auf gemeinsame und real gelebte Werte im Zusammenleben der Menschen einen allwissenden Erzähler, der aber immer wieder hinter die jeweiligen Figurenperspektiven zurücktritt und sich jeder Figur, ihren Beweggründen, ihren Seelenleiden und Alltagssorgen gleichermaßen intensiv widmet.

Leserinnen und Leser tauchen mit diesem Roman tief ein in die Abgründe von Gewalt und Prostitution, die eng mit dem Bauboom, dem Kampf um Genehmigungen und der skrupellosen Ausbeutung von Mensch und Natur verbunden sind. Als eine Gruppe von Zuhältern, Handlangern und Prostituierten in einem von Rubéns Chalets am Meer zusammentrifft, findet sich plötzlich eine der poetischsten Passagen des Romans: „(…) ein Haus, das im Winter unangenehm feucht ist, jetzt aber die seltenen Winde empfängt, die bei dieser erstickenden Hitze das Land erreichen, das Meer, die kühlen Finger des Meers, die sich zwischen die Bambusrohre des Gartens stehlen, die Blätter der Bougainvilleen streicheln, das Wasser im Schwimmbecken aufrauen, über das Dach streichen, den sanften Hang umfangen, eine leichte Brise, ein Atem, der langsam erloschen ist, um allein die Hitze zurückzulassen und das Meer, das an diesem Morgen nur schweren Dunst ausatmet“. „Krematorium“ ist ein Abgesang auch auf die Schönheit dieser Landschaft, die nun völlig unkontrolliert mit Beton überzogen wird. Allerdings erzählt Chirbes diese Geschichte nicht, ohne eine komplexe Sichtweise auf die Geschichte des Betonbaus mitzuerzählen, ohne die einfachen Wahrheiten und Schuldzuweisungen unmöglich zu machen. Während dieser Roman noch am Meer, am Ort der großen Illusionen spielt und mit dem Bauunternehmer Rubén Bertomeu einen der materiellen Gewinner des Baubooms in seinem Zentrum hat, begibt Chirbes sich mit „Am Ufer“ ins Hinterland der Stadt Misent, in den ebenfalls fiktiven Ort Olba und unter die Verlierer der Krisenzeit. Olba liegt ‚am Ufer‘ eines Sumpfgebietes, das zur Müllhalde der Baukonzerne geworden ist. Einst Rückzugsort der politischen Flüchtlinge nach dem Bürgerkrieg und jetzt Unort und Zuflucht zugleich: Der Sumpf ist Jagdgebiet für die Hobbyjäger der Gegend, auch Ort von Verbrechen und Prostitution, Symbol für zähe Undurchdringlichkeit und nie ganz realisierbares Vergessen.

Der Roman besteht aus drei Teilen, betitelt „Der Fund“, „Begehung der Schauplätze“ und „Exodus“. Teil 1 und 3 sind wenige Seiten lang, Teil 2 umfasst etwa 400 Seiten. Der erste Teil erzählt, wie ein marokkanischer Arbeitsloser im Sumpfgebiet bei der Jagd einen grausigen Fund macht: Er sieht die Überreste zweier menschlicher Leichen und einer Tierleiche und rennt davon. Im Verlauf von Teil 2 des Textes beginnt man zu ahnen, um wen es sich bei den Leichen handelt: Der Protagonist Esteban, ein 70-jähriger Schreiner, wird sich selbst, seinen Vater und seinen Hund am Ende der hier geschilderten Ereignisse töten. Der ganze Roman, der auf einen Tag im Dezember 2010 konzentriert ist, ist so düster wie dieser Schatten, der über ihm liegt. In langen inneren Monologen aus Estebans Perspektive erfahren die Leserinnen und Leser von der Insolvenz seiner Schreinerei, die fünf Mitarbeiter und ihn um ihre Lebensgrundlage brachte, nachdem Esteban sich verschuldet hatte, um sich bei der Immobilienspekulation einen Teil des neuen Reichtums zu sichern. Er träumte von einem ruhigen Lebensabend mit dem erzielten Gewinn, stattdessen muss er nun die kolumbianische Pflegekraft entlassen, die seinen demenzkranken Vater gepflegt hatte, und diese Arbeit selbst verrichten. Erzählt wird auch von seiner Jugend: wie er einen eigenen Lebensweg aufgab, wie seine große Liebe Leonor sich für Francisco, den bessergestellten, gebildeteren Freund aus einem franquistischen Elternhaus entschied, der nach linksradikalen Anfängen mit den Jahren zum zynischen, korrupten Restaurantbesitzer und Weinexperten geworden ist, eine Figur, bei der Chirbes einige Anleihen aus seiner eigenen Biografie gemacht hat. Esteban hingegen fügte sich in die Schreinerei des Vaters ein und resignierte, innerlich eigentlich schon lange tot. In seine langen Monologe hineingeblendet sind die Stimmen anderer Figuren um ihn herum. Im dritten Teil, „Exodus“, wird der innere Monolog von Tomás Pedrós wiedergegeben, dem Bauunternehmer, bei dem sich Esteban verschuldet hatte: eine ungerührte Sicht auf „die Stunde des Heulens und Zähneklapperns“.

Aus diesen Stimmen ersteht eine abstoßende Welt, in der rücksichtslose Profiteure saufen und in Sexschuppen herumhuren, in der Billigarbeiter, Dienstboten und Arbeitslose ein trostloses Schattendasein fristen. Anders als in früheren Romanen sind die verschiedenen Stimmen im zentralen zweiten Teil des Romans nicht ähnlich gewichtet und teilweise etwas schwerer voneinander zu trennen, weil ihre Themen mehr Überschneidungen haben als etwa in „Krematorium“. Überhaupt ist dies Chirbes’ am schwersten zugänglicher Text, der gleichzeitig aber auch erzählerisch Besonderes leistet, weil er über so viele Seiten hinweg keinerlei Erholung oder Entspannung, keinen Lichtblick erlaubt.

Die Folgen der Arbeitslosigkeit sind erdrückend. Chirbes schildert ohne jegliche Sentimentalität, wie schwer seine Figuren an ihnen zu tragen haben. Relativ einhellig bescheinigt die nationale und internationale Literaturkritik diesem Roman seine große literarische Relevanz als „Roman der Finanzkrise“ und insbesondere eine genaue und bewegende Treffsicherheit in der Inszenierung des Figurenensembles. Der Roman hat einen neuen, einen sehr bitteren Ton, den man in den vorausgegangenen Werken so noch nicht findet. „Totalen Nihilismus“ attestierte ein spanischer Kritiker Chirbes in diesem Roman, und die Meinungsverschiedenheiten in der Rezeption kreisen insbesondere um diesen Punkt: Wie ist es zu bewerten, wenn ein Autor jegliches positive Gegenmoment aus seiner Schilderung ausspart, über 400 Seiten lang eine völlig ausweglose, deprimierende menschliche Hölle schildert? Manche Kritiker deuten gerade Chirbes’ fehlendes moralisches Intervenieren und Kommentieren als Stärke und schreiben ihm zu, die gesellschaftlichen Zustände hervorragend zugänglich gemacht zu haben. Andere kritisieren diese Inszenierung als einem negativen, nicht vertretbaren Menschenbild verhaftet, in dem der Mensch auch über die geschilderte Situation hinaus nicht mehr sei als der schlecht zusammengenähte „Sack voller Dreck und Knochen“, als den Estebans Vater seinen Sohn im Roman bezeichnet. Dieser Vater ist ein verbitterter Republikaner, der sich angesichts der politischen Entwicklungen seit dem verlorenen Bürgerkrieg in zorniges Schweigen geflüchtet hat und in einer täglichen Auseinandersetzung damit lebt, was es für ihn heißt, zu altern und zu sterben. Die Literaturkritik im englischsprachigen Raum, wo Chirbes nach der Übersetzung des Romans im Jahr 2016 intensiv rezipiert wurde, geht auf Chirbes’ eindringliche, lyrische Sprache und die Kraft seiner Metaphorik ein, die diesen Roman zweifellos prägen. „Morbidly inviting“, „the narrator’s sour and cynical discourses have a mesmerizing, incantatory power“, ist in der US-amerikanischen Presse zu lesen, Chirbes zeige „a fallen Europe“, es sei sein „masterpiece“. In Deutschland hingegen, wo Chirbes seit „Der lange Marsch“ gelesen wird, sind die Kritiken gespaltener.

Angesichts der so unterschiedlichen Einschätzungen zum Menschenbild des Romans drängt sich die Frage auf: Warum eigentlich hat Chirbes’ Text trotz seiner Trostlosigkeit eine solche erzählerische Kraft? Die langjährige Chirbes-Übersetzerin Dagmar Ploetz hat auch diesen Roman hervorragend ins Deutsche übertragen, sodass Chirbes’ sprachliche Prägnanz und Authentizität eindrucksvoll transportiert werden. Ein weiterer Grund für den Effekt liegt darin, dass sich dieser Text jeder Figur, egal, welche Abgründe sie mit sich bringt, ganz nach Chirbes’ Manier vollkommen widmet. Er holt das Schlimmste hervor und urteilt nicht, lässt gerade das Böse, das Rücksichtslose, das Unmenschliche als Charakteristikum des Menschlichen zu, ohne Unerträgliches erträglich machen zu wollen. In Spanien wurde Chirbes für diesen Roman sowohl mit dem Nationalpreis der spanischen Literaturkritik ausgezeichnet, den er bereits 2007 für „Krematorium“ erhalten hatte, als auch mit dem Nationalpreis für Literatur in der Kategorie Erzählliteratur („Premio Nacional de Narrativa“) und damit als einer der wichtigsten Autoren des Landes anerkannt.

 

Neben seinen Romanen veröffentlichte Rafael Chirbes auch Reportagen und Essays, denen eine zentrale Bedeutung zukommt, wenn es darum geht, seine schriftstellerische Haltung besser zu verstehen. Zwei Zusammenstellungen von Reisereportagen – „Mediterráneos“ („Am Mittelmeer“, 1997) und „El viajero sedentario. Ciudades“ („Der sesshafte Reisende: Städtebilder“, 2004) – führen seine Leser in die mediterranen Küstenregionen bzw. in Städte auf der ganzen Welt.

In „Am Mittelmeer“ erkundet der Autor uralte Orte wie Kairo, Alexandria, Kreta, Genua oder Rom, die als Teile einer gemeinsamen Kultur beschrieben werden: Am Mittelmeer liegt die „Wiege Europas“. In diesen sprachlich-stilistisch sehr genauen Reportagen, die für das Reise- und Gourmetmagazin „Sobremesa“ entstanden sind, beschäftigt sich Chirbes überdies mit Valencia, der Stadt seiner Kindheit, mit ihren Märkten und Erinnerungsräumen, oder mit dem Fischereihafen Denia und seiner lebendigen Ess- und Gesprächskultur, ein altes Paradies, das, verstreut zwischen den Betonbauten, die mehr und mehr die Landschaft bestimmen, noch immer existiert.

Für Rafael Chirbes’ Gesamtwerk bedeutsam ist der Text „Von Echos und Spiegeln“, der die Reportagen einleitet. Der Autor beschreibt darin seine Entdeckung des Mittelmeers als eines Identitäts-Raumes voller Gemeinsamkeiten, die sich „gleichsam durch ein Spiel von Echos und Spiegeln“ an verschiedenen Orten seiner Küste wiederfinden: in der Vegetation, in den Gassen der Städte, in der jahrtausendealten Tradition der Kulturen. Seine Wiederannäherung an den Ort seiner Kindheit verdanke er Fernand Braudels Buch „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“ (1949), in das das Geschichtsverständnis des Historikers Braudel eingeflossen ist, das für Chirbes’ Spanien-Romane so prägend wurde. Insbesondere in den späteren Romanen, die am Mittelmeer spielen, werden viele Themen aufgegriffen, die bereits in den Reportagen eine große Rolle spielen: Woher kommt das Essen, das bestimmte Figuren zu sich nehmen, in welchen Kontexten verändert sich die Fischerei in Spanien, was wird importiert, was nicht, welche Materialien werden beim Bauen bestimmter Stile verwendet, wie ist Kritik daran zu bewerten, wo bestehen Zusammenhänge zwischen räumlich getrennten Orten?

„Der sesshafte Reisende“ führt in Städte auf der ganzen Welt: nach Hongkong, Hamburg, Salamanca, Peking oder Paris. Wieder ist es eine Selbstsuche und -findung, die der Reisende in diesen Reportagen unternimmt. Neben die Beschreibung von Orten und Sinneseindrücken tritt eine Reflexion über die Strukturen, die den Städten zugrunde liegen: Macht- und Geldkonstellationen, die Ideologien der Vergangenheit ließen diese Orte zu dem werden, was der Reisende dort vorfindet. Auch die Diskrepanz zwischen der Vorstellung von einer Stadt und ihrem tatsächlichen Erleben wird zum Thema. Obwohl die beschriebenen Szenarien viele verschiedene Orte und Kulturen umfassen, arbeitet der Autor auch hier mit Spiegelungen, sodass eine Spannung zwischen Vielfalt und Verbundenheit der Städte entsteht.

„El novelista perplejo“ (Der verwirrte Romancier, 2002) enthält Essays, Reden und Texte, die Chirbes im Laufe der Jahre zu verschiedenen Anlässen über seinen Kunst- und Literaturbegriff geschrieben hat. Besonders interessant sind sie dort, wo seine Auffassungen durch die Beschäftigung mit fremden Kunstwerken verdeutlicht werden.

Aufschlussreich ist der Text über Francis Bacons 1968 entstandenes Porträt „Study of George Dyer in a Mirror“ (Studie von George Dyer in einem Spiegel), das auf dem Umschlag der Buchausgabe abgedruckt ist. Bacon griff zu einer Zeit, in der die künstlerische Avantgarde, der er angehörte, ganz andere Formen hervorbrachte, auf die Tradition des Porträts zurück. Analog dazu stellte sich Chirbes Ende des 20. Jahrhunderts mit seinen Gesellschaftsromanen in die Tradition der realistischen Erzähler des 19. Jahrhunderts. Ein Verständnis von Realismus als Spiegel der Wirklichkeit wird bei Chirbes ähnlich wie bei Bacon gebrochen. Der Spiegel in Bacons Porträt bildet nicht das ab, was er den realistischen Gesetzmäßigkeiten gemäß zeigen müsste. Bacon porträtiert George Dyer in großer Ambivalenz: Man erblickt den Mann zugleich von vorn und im Profil, man sieht halb seine Innereien, halb einen Mann im Anzug, der labil und entschlossen zugleich wirkt. Chirbes erklärt, dass er sich in der Haltung, die Tradition weder über Bord zu werfen, noch sie wiederholen zu müssen, mit Bacon verbunden fühle. Die Mischung aus Außen- und Innensichten seiner Figuren vor allem seit den Trilogieromanen sowie die grundlegenden Ambivalenzen in seiner Figurenkonzeption, die beim Leser häufig ein Gefühl der Irritation hinterlassen, illustrieren die Verbindung zwischen Chirbes und Bacon sehr deutlich. Mit seinem Realismusbegriff – dabei geht es darum, Literatur zu schaffen, die der Realität entspringt und wieder auf sie zurückweist – grenzte sich Chirbes von den metaliterarischen Experimenten ab, die in Spanien um die Wende zum 21. Jahrhundert beliebt waren. Unter den aufschlussreichsten Kommentaren zu Chirbes’ Werk im deutschsprachigen Raum sind die des Journalisten und Autors Paul Ingendaay, der mit Chirbes im Laufe der Jahre mehrere Gespräche geführt und u. a. auch dessen Ansichten über das eigene Kunstverständnis protokolliert hat. Im Gespräch über „Krematorium“ zitiert Ingendaay ihn einmal so: „Die Ideologien haben ausgedient. Bertomeu fragt sich im Roman, ob es den Punkt gebe, an dem er hätte innehalten oder aufhören können. Aber er findet ihn nicht. Die Menschen, die vor Jahrhunderten eine Kathedrale bauten, hatten einen Begriff von der Zukunft, für die sie zu bauen glaubten. Diese gemeinsame Vorstellung haben wir heute nicht mehr. Doch Romanschriftsteller sind keine Priester, keine Psychoanalytiker und keine Politiker. Wir entziffern nur den Geist unserer Zeit.“ Chirbes ist in seinen letzten Lebensjahren mit seinem erzählerischen Werk ganz in der Gegenwart angekommen, ohne die historische Perspektive aus dem Blick zu verlieren. Tatsächlich hat er Vorschläge gemacht, den Geist seiner Zeit zu entziffern, die national und international zu den bedenkenswertesten überhaupt zählen. Darüber hinaus hat die literarische Welt mit Chirbes’ Tod 2015 auch den kraftvollen Schöpfer einer ganz eigenen, poetisch hoch verdichteten, in ihrer Rhythmik unnachahmlichen literarischen Sprache verloren, mittels derer Chirbes Themen wie Verlust, Tod und gesellschaftlichen Niedergang zu verhandeln wusste. Von dieser Sprachkraft zeugt nicht zuletzt Chirbes’ 2016 postum erschienener Roman, über dessen Veröffentlichung er bereits einige Jahre zuvor nachgedacht hatte: Sein Verleger Jorge Herralde berichtet in einem Aufsatz von 2011, dass er selbst den Roman für sehr gut befunden habe, ein Vertrauter dem Autor aber von der Veröffentlichung abgeraten habe. Glücklicherweise hat Chirbes diese Entscheidung noch revidiert.

„Paris-Austerlitz“, ein neben den monumentalen Spanien-Romanen des Autors regelrecht schlank erscheinender Band, erinnert in einigen Aspekten der Themenwahl und insbesondere auch der Sprachgestaltung an frühe Romane des Autors und insbesondere an das Debüt „Mimoun“. Der Ich-Erzähler, ein junger Maler, ist vor seiner gutbürgerlichen spanischen Familie nach Paris geflohen. Er begegnet Michel, einem älteren Mann aus der Arbeiterschicht, der ihn in seiner manchmal fast schon groben Vitalität fasziniert. Die beiden Männer verlieben sich, was Chirbes zugleich mit Leichtigkeit und untrüglichem Sinn für die Abgründe dieser Beziehung erzählt. Während zunächst Verliebtheit und Ausgelassenheit den Alltag prägen, treten die Ambitionen des Malers sowie die Klassen- und nicht zuletzt auch die Altersunterschiede immer deutlicher hervor. Michels Art der Auseinandersetzung mit seinem Gegenüber, aber auch mit der eigenen Familie und Vergangenheit beginnt den jüngeren Liebhaber und Freund zu stören: „Michels Erinnerungen waren eigennützig, ergreifend: Er wollte, dass ich ergriffen war. Schuld war immer die Armut und eine unbestimmte Angst vor dem Schicksal, die ausschließlich den Armen zukommt.“ Der Ich-Erzähler teilt diese Welt und die dazugehörige Erfahrung nicht, reflektiert aber zunehmend, wie weitreichend sie auch die eigene Begegnung mit Michel prägt und die beiden voneinander entfremdet.

Die passagenweise grobe Sprache aus dem Milieu der Arbeiterkneipen und der Prostitution kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Chirbes hier mit sehr feinen Nuancen des Gefühlslebens seiner Figuren umgeht, dass er die Komplexität und Tiefe zwischenmenschlicher Begegnung meisterhaft auszuloten weiß. Dass der Roman in den 1990er Jahren spielt, dass Michel an Aids erkrankt, all dies bleibt unausgesprochen. Gerade zum Ende des Romans, als Michel sterbend im Krankenhaus liegt und es ihm zunehmend schlechter geht, bekommt die Schilderung des Ich-Erzählers in ihrer Mischung aus Einfühlsamkeit und jugendlicher Ungerührtheit eine eindringliche Qualität. Sinnlich hingegen ist der Roman immer wieder in seinen Beschreibungen der Stadt Paris, gerade in ihrer winterlichen Eintönigkeit: „Die Luft, der Stein, das Flussbett der Seine, nebliger, in Wasser gelöster Pastis, die Farbe der Stadt Paris, wochenlang, die perlgrauen Fassaden, das Grau des Nebels, das sich ausdehnt und jenes der Kais und Brücken umhüllt, monochrom, feucht und obsessiv (…).“ Einen Wendepunkt in Michels Verhalten macht der Erzähler an einer Madrid-Reise fest, die ihm finanzielle Entlastung bringt, nach der der Liebhaber ihm aber verändert begegnet: „Ich glaube, er witterte die Zeichen: der fast unsichtbare Haarriss an einer tragenden Wand, den anfangs nur der Fachmann wahrnimmt: ein Hinweis auf die künftigen Mauerrisse, die zum Einsturz des Gebäudes führen werden. Ich habe nichts bemerkt.“ Während der Erzähler feste emotionale Bande mit dem Bild der Zugverbindung Madrid-Chamartín / Paris-Austerlitz heraufbeschwört, entgeht ihm das untergründige Entgleiten der Beziehung, wenngleich Michel auch in der sexuellen Begegnung zunehmend grob und selbstsüchtig wirkt. „Seinen neuen Freund hatte er in den Pissoirs der Gare de Saint-Lazare kennengelernt“, heißt es lapidar über Michel, nachdem die eingetretene Entfremdung zur Trennung der beiden Liebespartner geführt hat. Als Michel schließlich todkrank im Hospiz dahinsiecht, leidet nicht allein er, wieder ist es der junge Maler, dem Gewalt angetan wird: „Verlass mich nicht, flehte er. Er tat mir weh, schlug mir die Nägel in den Rücken.“ Dem Erzähler gelingt es nicht einmal mehr, Michel zu besuchen, und wie so oft in Chirbes’ Romanen wird dem Leser eine moralische Entscheidung über das Verhalten der beiden Figuren unmöglich gemacht, während der Schrecken des Verlustes noch lange nachwirkt.

Im Vergleich zu den vorangegangenen Romanen wirkt dieser elegant und unsentimental erzählte Band in seiner Intimität und Privatheit zunächst wenig politisch, wenngleich der Blick auf die zerstörerische Kraft der unvereinbaren gesellschaftlichen Schichten immer präsent ist. In den Interviews, die Chirbes in seinen letzten Lebensjahren gab, hat er immer wieder betont, dass seine Romane nicht allein gesellschaftliche Missstände anprangern, wie die Korruption in der Bauwirtschaft, auf die er oft angesprochen wurde, sondern dass es ihm um vielschichtige Gesellschaftsbilder ging, um den Versuch, die Charakteristika der Gegenwart auszuloten. Über das eigene Schreiben hat er einmal zu Protokoll gegeben: „(…) Wir Romanschreiber von heute streunen gleichsam scheu und allein herum, erschnüffeln den verwirrenden Geruch der Zeit, jagen etwas nach, von dem wir nicht einmal wissen, was es sein könnte. Poesie wird nicht verkündet, sie wird versucht (…). Jeder kaut an seinem eigenen Roman, so wie jeder an seinem eigenen Tod kaut – die Tabletten und das Wasserglas auf dem Nachttisch. Unser Anspruch geht allenfalls so weit, Chronisten unseres eigenen Lebens zu sein, unseren Weg durch die Welt auf dem Block zu notieren, den uns – für eine wahrlich kurze Zeitspanne – der Tod zur Verfügung stellt.“ Sein letzter, postum erschienener Roman bezeugt diese Suche noch einmal auf neue, berührende Weise.

Der vollständige Beitrag „Rafael Chirbes“ im Kritischen Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur ist einzusehen unter http://www.klfg-lexikon.de.

Claudia Gronemann

Najat El Hachmi

Najat El Hachmi ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen der jüngeren Generation. Geboren im marokkanischen Beni Sidel, kam sie mit acht Jahren nach Europa, wuchs im postfranquistischen Spanien auf und begann schon während der Schulzeit, auf Katalanisch zu schreiben. Von ihrer kulturellen Ausrichtung auf Katalonien und ihrem Engagement für eine plurale katalanische Gesellschaft zeugt El Hachmis erste Veröffentlichung, ihr berühmter, bislang nicht auf Spanisch erschienener Essay „Jo també sóc catalana“ (Auch ich bin Katalanin, 2004), in dem sie ihre Identität als Katalanin marokkanischer Herkunft untermauert. Mit der titelgebenden Feststellung lehnt sie den ihr zugewiesenen Platz als Bewohnerin zweiter Klasse, als ewige Immigrantin und als „andere Katalanin“ oder Angehörige einer Minderheit innerhalb Kataloniens strikt ab. Sie reflektiert ihre Erfahrung kultureller Zerrissenheit nicht als Außenseiterin, sondern plädiert umgekehrt für die generelle Ablösung homogener Identitätskonzepte und für eine postmigrantische Gesellschaft im Sinne Naika Fourotans, welche den zugehörigen Individuen die Kombination und Verflechtung verschiedener nationaler, regionaler und kultureller Identitäten erlaubt.

 

In vier Kapiteln, verbunden mit einem Prolog, reflektiert die Autorin Alltagssituationen und beschreibt wiederkehrende Muster der offenen, aber auch subtilen Ausgrenzung sowie die mangelnde kulturelle Anerkennung integrierter Migranten und Migrantinnen wie sie selbst, die sich nicht nur die Sprache, sondern auch die kulturellen Codes, Geschichte und Tradition der Region angeeignet haben. Gleich im ersten Kapitel, „Die Muttersprachen“, berichtet sie davon, wie sie aufgrund ihres Äußeren immer wieder auf Spanisch statt Katalanisch angesprochen wird. Ausgehend von einer bewussten oder unbewussten Hierarchisierung wird sie aufgrund ihrer ethnischen Differenz aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen, die sich vor allem über die Sprache definiert, das Katalanische, das El Hachmi wie eine Muttersprache beherrscht. Dennoch erscheint sie in den Augen eines Verkäufers, den sie nach einer Figur aus Mercè Rodoredas Roman „Mirall trencat“ („Der zerbrochene Spiegel“, 1974) mit Eladi bezeichnet, als bedauernswerte junge Migrantin. Gebürtige Katalanen wechseln häufig bewusst in die spanische Sprache, um ihr die Ebenbürtigkeit mit den Sprechern dieser Regionalsprache, die zugleich Minderheitensprache in Spanien ist, abzusprechen. Die Autorin stellt daher Analogien zu ihrer berberischen Muttersprache her, die in Marokko ebenfalls von einer Minderheit gesprochen wird und im Verlauf der Geschichte ebenso unterdrückt wurde wie das Katalanische auf der iberischen Halbinsel. Dass es einen Unterschied gibt zwischen den Berberdialekten und dem Arabischen als Diglossie, als Darija (Umgangssprache) sowie als Sprache der Religion und der Medien, so beobachtet die Erzählerin, ist den meisten Katalanen gar nicht bewusst. Sie selbst hingegen erkennt Ähnlichkeiten zwischen beiden ‚minoritären‘ Sprachen, die sich in ihrem Inneren geradezu „verschwistert“ haben, wie sie es ihrem kleinen Sohn schreibt, der Adressat des Textes ist. „Militant im Umgang mit der Sprache“, wie sie es ausdrückt, will die Erzählerin vor allem Vorbild für Rida sein, der in Katalonien geboren wurde und sich fragt, ob er überhaupt Katalane sei. Diese Frage ist Ausgangspunkt des Essays, in dem die Autorin von schmerzhaften Erfahrungen der Ablehnung und Ausgrenzung berichtet, von Rassismus, Xenophobie, Sexismus und Paternalismus, und zwar in ihrem eigenen Land, als das sie Katalonien längst betrachtet. So betrachtet sie sich ostentativ als Katalanin, obgleich sie anders als ihr Sohn nicht hier geboren wurde.

Ihr Text wird zu einem Manifest, das sich gegen die verbreitete Vorstellung richtet, nur derjenige sei Katalane, der auch entsprechende Vorfahren aufweise. Alle anderen nämlich, so erklärt Joan Rodríguez (2020) unter Bezug auf Francesc Candels Werk „Els altres catalans“ (1964), wurden als die „anderen Katalanen“ betrachtet, d. h. all jene, die in den ersten beiden Einwanderungswellen aus anderen Landesteilen nach Katalonien eingewandert waren. El Hachmi, die in den 1980er Jahren nach Katalonien kam, als erstmals eine Zuwanderung aus dem Ausland und vor allem Nordafrika erfolgte, gehört nach dieser Sichtweise zu den „neuen anderen Katalanen“. Das lehnt sie ab, wie der Titel ihres Essays deutlich macht.

Sie empfiehlt ihrem Sohn, dem sie zuerst ihre Muttersprache Tamazight und dann Katalanisch beibringt, sich wie alle anderen auch als Katalane zu fühlen, ohne seine marokkanischen Wurzeln zu verleugnen. Sie wendet sich damit gegen eine Vorstellung von Integration, die einige Katalanen aus Sorge um ihre Kultur vertreten, indem sie auf eine kulturelle Abnabelung von der Herkunftskultur drängen und beispielsweise den Bau von Moscheen verbieten. Najat El Hachmi entwirft dagegen eine „interstitielle Identität“ (Ricci, 2010), sie bekennt sich zur katalanischen Nation, verleugnet aber nicht, dass sie sich permanent in kulturellen Zwischenräumen bewegt und damit eine eigene Perspektive auf ihre neue Heimat entwickelt. Ihre erste Publikation – noch vor dem Bucherfolg mit „L’últim patriarca“ („Der letzte Patriarch“, 2008) – trifft damit ins Zentrum der politischen und gesellschaftlichen Debatten in Katalonien und situiert die Autorin nicht als Grenzgängerin zwischen Marokko und Spanien, sondern vielmehr als eine neue Stimme innerhalb der kulturellen Auseinandersetzungen in der neuen Heimat, und dies gleich in mehrfacher Weise.

Zunächst hatte sich das katalanische Selbstbild durch die Einwanderung seit den 1970er und 1980er Jahren insbesondere aus Marokko verändert, wobei die Geburtenrate der sogenannten zweiten Generation über dem katalanischen Durchschnitt lag und eine neue, zahlenmäßig bedeutende Bevölkerungsgruppe entstanden war (García Ortiz / Diaz Hernández, 2004). Auf diese neue Form der Einwanderung und des Bevölkerungswachstums reagierte die Region seit Beginn der 1990er Jahre mit einer ‚Integrationsoffensive‘, die später auch in anderen Landesteilen zum Vorbild werden sollte. Die „Generalitat“ verabschiedete eigene staatsbürgerliche Statuten, die neben einem Wohnort in der Region vor allem Sprachkenntnisse verlangte und dies als Voraussetzung einer gemeinsam und öffentlich gelebten Kultur ansah. Obgleich die Autorin El Hachmi dieses Kriterium in besonderer Weise erfüllt – sie spricht und schreibt diese Sprache in ihrer Rolle als Schriftstellerin –, wurde sie von der lokalen Bevölkerung häufig mit der Generation ihrer Eltern gleichgesetzt und ethnisch markiert. So kritisiert sie im Prolog ihres Essays nicht zufällig jene Bevölkerungsstatistiken, die einzelne Gruppen zahlenmäßig erfassen und damit ein abgestuftes System (staats)bürgerlicher Zugehörigkeit implizieren. Dem setzt die Autorin in ihrem Essay eine berberisch-katalanische Identität („identidad catalana-amazigh“) entgegen, mit der sie sich ebenso von der arabischen Mehrheitskultur Marokkos abgrenzt wie von einer assimilatorisch-essenzialistisch verstandenen ‚catalanitat‘ oder der homogenen Vorstellung einer zentralspanischen Nation. Najat El Hachmi situiert sich in einem metaphorischen Grenzland, das sie im Kapitel „Identitat fronterera“ unter Bezug auf Walter Mignolos ‚border thinking‘ und die bekannten chicana-mestizo-Diskurse von Gloria Anzaldúa und Cherríe Moraga erläutert. Sie schließt gezielt an transnationale Konzepte an und überträgt das andernorts entwickelte Denken der Hybridität, der kulturellen Verflechtung eines pluralen Erbes, auf den katalanischen Kontext.

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