KLfG Extrakt - Gegenwartsliteratur aus Spanien

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Aus der Reihe: KLfG Extrakt
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Die Faszination dieses schmalen Debüts, das bei seinem Erscheinen 1988 von der Kritik gefeiert wurde und in die Endausscheidung des bedeutenden spanischen Literaturpreises „Premio Herralde“ gelangte, liegt in seiner Mischung aus Lebensgier und Resignation, aus Selbstaufgabe und Aufbegehren, die in einer hoch poetischen, bilderreichen, sinnlichen, aber zugleich klaren und präzisen Sprache beschrieben wird. Obwohl die Zerrüttung der menschlichen Beziehungen und das Leiden des Einzelnen im Verlauf des Romans immer stärker zum Vorschein kommen, finden sich im Text auch helle, luzide Stellen, die von der einfühlsamen Freundschaft der beiden Männer in der „Creuse“ erzählen. Das Ausleben der Möglichkeiten menschlicher Erfahrung und die Freiheit, vor deren Hintergrund das Gefangensein in sich selbst erst sichtbar wird, erinnern an Camus, vor allem an dessen Roman „Der Fremde“ (1942), zu dem „Mimoun“ auch durch den arabischen Handlungsraum und in der Beschreibung von Naturphänomenen Entsprechungen aufweist. Ein weiterer wichtiger Bezugstext von „Mimoun“ ist „Die Drehung der Schraube“ (1898) von Henry James, der auf ähnliche Weise den Einbruch des Irrationalen in eine gut geordnet erscheinende Welt thematisiert.

Chirbes’ zweiter Roman „En la lucha final“ (Im letzten Gefecht, 1991) wurde von der spanischen Kritik abgelehnt, obwohl es sich um das treffende und aufschlussreiche Porträt einer damals neuen spanischen Klasse handelt: Den einst ‚linken‘ Protagonisten geht es längst nicht mehr um die gerechte Sache, sondern um den knallharten Kampf um Karrieren im postfranquistischen Staat. Der Roman eröffnet den spezifisch spanischen Themenkomplex in Chirbes’ Werk, mit dem auch die anschließenden Publikationen eng verbunden sind. Da sind die beiden kurzen, qualitativ den späteren Texten in nichts nachstehenden Romane „La buena letra“ („Die schöne Schrift“, 1992) und „Los disparos del cazador“ („Der Schuß des Jägers“, 1994), die jeweils die Perspektive einer Figur schildern. Danach die multiperspektivisch angelegten, oft als Trilogie verstandenen Romane „La larga marcha“ („Der lange Marsch“, 1996), „La caída de Madrid“ („Der Fall von Madrid“, 2000) und „Los viejos amigos“ („Alte Freunde“, 2003), die in wichtigen Teilen in Madrid spielen. Weiterhin die beiden preisgekrönten Romane „Crematorio“ („Krematorium“, 2007) und „En la orilla“ („Am Ufer“, 2013), in denen Chirbes an die spanische Mittelmeerküste zurückkehrt und seinen kaleidoskopischen Erzählstil weiterentwickelt. Zuletzt erschien postum der schmale Roman „París-Austerlitz“ („Paris-Austerlitz“, 2016), mit dem Chirbes Spanien noch einmal verlässt und die tragische Liebesgeschichte zwischen einem jungen spanischen Maler und einem französischen Fabrikarbeiter in Paris erzählt.

„Mimoun“, „Der Schuß des Jägers“ und „Die schöne Schrift“ sind von einer ähnlichen Art der Verknappung und Verdichtung geprägt wie „Paris-Austerlitz“, wenngleich der Ton jeweils ein anderer ist. In diesen schmalen Romanen, deren Stoff sich für viel umfangreichere Projekte geeignet hätte, gelingt es Rafael Chirbes, dem nicht Ausgesprochenen ebenso viel Gewicht zu verleihen wie dem Text selbst. Eine assoziative Erzählweise und eine elliptische Sprache lassen eine Fülle von Personen und Räumen lebendig werden. In „Der Schuß des Jägers“ und „Die schöne Schrift“ ist es jeweils ein alter Mensch, der auf sein Leben zurückblickt und Bilanz zieht. Das persönliche Scheitern in „Mimoun“ und in „Paris-Austerlitz“ weitet sich zu einem Misslingen von Lebensentwürfen vor historisch-politischem Hintergrund aus.

Erzähler von „Der Schuß des Jägers“ ist Carlos Císcar, ein gebrechlicher Mann, der seinen Lebensabend in einem Haus voller Erinnerungen verbringt. Nur sein junger Diener Ramón leistet ihm Gesellschaft. Carlos ist ein Macho, der in Francos Spanien Karriere gemacht hat. Nach dem Bürgerkrieg stieg er durch Schwarzhandel und Bodenspekulation schnell auf, heiratete eine gesellschaftlich höher gestellte Frau und sicherte sich mit kühl kalkulierendem Ehrgeiz ein luxuriöses Leben. Die innere Verbindung zu Ehefrau und Kindern hat er verloren, die Aufzeichnungen des Sohnes, die an einigen Stellen zitiert werden, zeugen davon und brechen die selbstgerechte Schilderung des Alten. Dieser Entfremdung zum Trotz leidet er unter der Abwesenheit seiner Angehörigen. Frau und Tochter sind tot, der Sohn verachtet die franquistische Vergangenheit des Vaters und dessen teuren Lebensstil. Mit den Modernisierungsstürmen, die nach Francos Tod durch das Land fegen, kommt Carlos nicht zurecht. Er widmet sich daher der Aufzeichnung seines Lebens, das sich mehr und mehr als gescheitert erweist.

Im Bild der Jagd, das sowohl metaphorisch auf den erotischen Jäger Carlos bezogen ist als auch real auf seine Liebe zur Jagd auf Tiere, zeigt sich die pragmatische Art des Klassenaufsteigers in einem anderen Licht. Zeit seines Lebens galt Carlos als ‚Klotz‘ in einer Familie, in der viel Wert auf Kunstsinn, Literatur und Theater gelegt wurde. Als er den Enkelsohn mit auf die Jagd nehmen will, bezeichnet sein Sohn diese Beschäftigung als „Massaker“ und verbietet es. Carlos kann das nicht begreifen, ist es doch eine Illusion zu glauben, Fleisch werde maschinell hergestellt. Er bekundet in seiner Auffassung von der Jagd eine archaische Lebensnähe, die die Kunstwelt der Kinder entlarvt. Der skizzierte Vater-Sohn-Konflikt wird in späteren Romanen mehrfach wieder aufgegriffen und ist hier exemplarisch angelegt, zumal der Sohn trotz seiner moralischen Vorwürfe materiell vom Vater profitiert.

Chirbes gelingt es, seine Figuren so zu gestalten, dass sie gleichzeitig als Individuen lebendig werden und bestimmte Schichten oder Typen der spanischen Gesellschaft repräsentieren. So porträtiert er in „Der Schuß des Jägers“ das Ende einer privilegierten Klasse, die von ihren Machtpositionen in einer übersichtlichen Klassengesellschaft Abschied nehmen muss. Gesellschaftskritik spielt eine wichtige Rolle, ist aber wie beiläufig eingeflochten. Eine klare Unterscheidung von Guten und Bösen ist selbst bei Figuren wie dem überheblichen und selbstgerechten Carlos oder seinem sensiblen Sohn Manuel, der in einer kommunistischen Zelle gegen Franco kämpfte, nicht möglich.

Auch „Die schöne Schrift“ erzählt eine persönliche Geschichte vor dem Hintergrund der politischen und historischen Entwicklungen in Spanien. Erneut sind die Probleme in einer Familie durch den Riss bedingt, den der Bürgerkrieg 1936–1939 in der Gesellschaft hinterlassen hat.

Ana, eine alte Frau aus einfachen Verhältnissen, lebt allein im Haus ihrer Familie in Bovra bei Valencia. Sie erzählt ihrem erwachsenen Sohn, der das Haus verkaufen will, in einem inneren Monolog aus ihrem Leben. Warum sie, die immer geschwiegen hat, plötzlich zu erzählen beginnt, weiß sie selbst nicht genau. Bezeichnend ist, dass ihr Sohn mit seiner Frau längst abgereist ist, als Ana ihren Monolog beginnt.

Sie erzählt von einer kurzen glücklichen Zeit mit der Familie um ihren Mann Tomás und seinen Bruder Antonio, der als der Künstler in der Familie gilt und sich heimlich in Ana verliebt. Im Bürgerkrieg kämpfen die Brüder auf Seiten der Republikaner; nach dem Krieg werden sie als Verlierer schikaniert. Antonio wird lange im Gefängnis festgehalten, es gibt kaum genug Nahrung für alle. Als Antonio nach seiner Entlassung eine Allianz mit dem einzigen Geschäftsmann des Ortes eingeht, einem Falangisten, der den Bruder brutal zusammengeschlagen hat, bricht für Tomás eine Welt zusammen. Er stumpft zunehmend ab und wird zum Säufer. Antonio hingegen hat sich eine junge, ehrgeizige, emanzipierte Frau aus der Stadt gesucht, mit der er den gesellschaftlichen Aufstieg angeht. Die Schwägerin Isabel ist Ana ein Dorn im Auge; ihr gibt sie die Schuld am Auseinanderbrechen der Familie. Zwar gesteht sie ihr zu, eine schöne, große Schrift zu haben, mit der sie Tagebuch führt, aber ein spanisches Sprichwort besagt: „Eine schöne Schrift maskiert die Lügen“. Am Ende ihrer Schilderung gelangt Ana wieder in der Jetztzeit an. Sie muss erkennen, dass sie nicht vermocht hat, die Wunden der Vergangenheit durch Liebe zu heilen. Sie ist ohne Hoffnung und beneidet diejenigen, die früh verstorben sind und die Schicksale der anderen Familienmitglieder nicht mehr erleben mussten.

Chirbes verwendet in „Die schöne Schrift“ eine Sprache, die dem Horizont der Protagonistin entspricht und in ihrer klaren, bildhaften Schlichtheit sehr eindrucksvoll ist: „Im ersten Jahr nach dem Krieg waren die Züge überfüllt. Die Leute verließen ihr Heim oder suchten einander, und die Züge nahmen all diese Trostlosigkeit auf und schafften sie ungerührt von einem Ort zum anderen.“ Je weiter Anas Bericht fortschreitet, desto verständlicher wird ihre Hoffnungslosigkeit. Der Erzählverlauf ähnelt wie in „Mimoun“ einer Schlinge, die sich langsam zuzieht und die Erzählerin am Ende erstarren lässt. Trotz aller Trostlosigkeit gelingt es Ana durch ihren Bericht, ihrem Leben eine Form zu geben und einen Erinnerungsraum für die verlorenen Jahre zurückzugewinnen.

Dem Roman vorangestellt ist die Widmung „Für meine Schatten“, die auf eine wichtige Textstelle verweist, in der Ana von einem Hochzeitsfoto erzählt, auf dem nur vage Schatten zu erkennen sind und das sie eines Tages verbrennt: „Ich sah es brennen und dachte an deinen Onkel Antonio, der das Foto aufgenommen hatte und noch lebte. Er war auf der anderen Seite geblieben. Sein Schatten reinigte sich nicht im Feuer mit all den anderen, die auf dem Bild geblieben waren, als sie schon nicht mehr existierten.“ Das Bild des Schattens wird mehrfach wieder aufgerufen. Der Schatten von Anas Mann, der im Mondlicht auf das Bett des kleinen Sohnes fällt, ist nur ein Indiz dafür, wie schwer die Familiengeschichte auf Anas Sohn lasten muss.

Chirbes nähert sich dem Thema der Vergangenheitsbewältigung nicht, indem er den Bürgerkrieg und die Spaltung des Landes unter der Franco-Diktatur auf die ‚zwei Spanien‘ von Republikanern und Franquisten reduziert. Er konzentriert sich vielmehr ganz auf das Alltägliche, das scheinbar Banale in der Geschichte des Bürgerkriegs und seiner Konsequenzen. So schreibt er gegen die offizielle Geschichtsschreibung der großen Ereignisse an und versucht, denjenigen eine Stimme zu geben, die keine Sprache haben, mit der sie von sich erzählen könnten, und daher auch keine Macht über die Geschichtsschreibung besitzen. Chirbes’ Texte gehen vom ganz Privaten auch der unteren Gesellschaftsschichten aus und sind an der Geschichtsphilosophie Walter Benjamins und an geschichtswissenschaftlichen Ansätzen wie dem von Fernand Braudel geschult.

 

In seinen Romanen „Der lange Marsch“, „Der Fall von Madrid“ und „Alte Freunde“ hat Chirbes seine Erzähltechnik weiterentwickelt. Sie beschreiben die Realität als eine Vielzahl von Perspektiven, denen er sich mit der gleichen erzählerischen Hingabe und Einfühlung widmet. Seine Schreibhaltung hat er selbst als „mitfühlendes Erzählen“ bezeichnet. Er kommentiert nicht, sondern zeigt die Innenwelten seiner Figuren. Ein mitfühlender Erzähler, so Chirbes, habe etwas von einer Hure, die mit jedem ihrer Freier intim werden müsse. Tatsächlich ist seine Schreibhaltung, die es weitgehend dem Leser überlässt, zu urteilen und einen eigenen Standpunkt einzunehmen, als unmoralisch kritisiert worden. Anderen Kritikern gilt er freilich gerade als moralisch, weil in seinen Texten nichts in Vergessenheit gerät und sie die Irrtümer, Verbrechen und Motivationen der Vergangenheit mit all ihrer Wucht ins Spiel bringen.

Die Romane „Der lange Marsch“, „Der Fall von Madrid“ und „Alte Freunde“ sind vielfach als Trilogie verstanden worden, weil sie inhaltlich aneinander anknüpfen und formale Gemeinsamkeiten aufweisen. „Der lange Marsch“ verhalf Chirbes zu einem ersten literarischen Durchbruch, ganz besonders in Deutschland. Der Roman wurde von der Kritik begeistert aufgenommen, obwohl er in Spanien auch eine Diskussion darüber auslöste, ob ein realistischer Schreibstil, der an den sozialen Realismus der spanischen Nachkriegsliteratur erinnere, noch angemessen sei. Chirbes verwendet zwar Formen, die schon aus dem 19. Jahrhundert bekannt waren, hat aber sein Verständnis von Realismus weiterentwickelt und in seinen theoretischen Texten vielfach reflektiert. Er begreift darin die Literatur als ein Medium, mit dem sich gesellschaftliche Realitäten auch noch am Ende des 20. Jahrhunderts angemessen darstellen lassen und glaubt, als Schriftsteller Einfluss auf die „alma colectiva“, die kollektive Seele seines Landes nehmen zu können.

In „Der lange Marsch“ erzählt Chirbes erstmals aus der Perspektive der dritten Person. Der Titel spielt, wie einige andere des Autors, auf große Ereignisse in der Geschichte der kommunistischen Bewegung an. „Der lange Marsch“ bezieht sich auf den Weg von Maos kommunistischen Truppen, die zwischen Oktober 1934 und Oktober 1935 rund 13 000 Kilometer zurücklegten.

Chirbes beschreibt den ‚langen Marsch‘ zweier Generationen aus sieben Familien ab Ende der 1940er bis zum Beginn der frühen 1970er Jahre. Der erste Teil „Das Ebro-Heer“ erzählt aus der Sicht von Vertretern der Bürgerkriegsgeneration; darunter sind ein Schuhputzer aus Salamanca, ein Arzt aus Madrid, ein Eisenbahner aus Bovra bei Valencia und eine großbürgerliche Erbin aus Madrid. Trotz ihres ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Hintergrunds ist den Figuren gemeinsam, dass sich ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben auf die Kinder konzentrieren. Diese treffen sich Ende der 1960er Jahre in Studentenkreisen in Madrid als Mitglieder der Alternativa Comunista, einer Gruppe von Revolutionären. Der Roman endet mit der Inhaftierung der Untergrundkämpferinnen und -kämpfer in einem franquistischen Gefängnis an der Puerta del Sol in Madrid.

Der sprachliche und inhaltliche Reichtum des Romans liegt in den Details der in ihrer Alltäglichkeit geschilderten Lebensläufe und Situationen. Ein wiederkehrendes Thema in beiden Generationen ist die Undurchlässigkeit der Klassenschranken und die große Armut in den 1940er und 1950er Jahren. Ein Junge entdeckt eines Tages, dass er in seinem Dorf „Bäckerling“ genannt wird, weil seine Mutter das tägliche Brot mit sexuellen Diensten erkaufen muss, während sein Vater in der Kneipe sitzt und sich betrinkt. Der Zustand der Demütigung und Schutzlosigkeit, in dem der „Bäckerling“ daraufhin lebt, ist eine grundlegende Erfahrung, die die meisten Figuren des Romans machen müssen. Geschildert werden die Hoffnungen einzelner Menschen und deren Enttäuschungen, die vor allem aus den gesellschaftlichen Verhältnissen resultieren. In der Verknüpfung von Einzelschicksalen mit den historischen Umbrüchen erinnern diese Texte an „Das magische Labyrinth“ (1943–1968) von Max Aub, ein sechsbändiges Werk über den Spanischen Bürgerkrieg, auf das sich Chirbes häufig bezieht. Wie die früheren Romane thematisiert auch „Der lange Marsch“ das Schweigen, das über der Vergangenheit des Bürgerkriegs liegt und die Kommunikation zwischen Eltern- und Kindergeneration beeinträchtigt. So wird José Luis del Moral, der als kleiner Junge von seinem Vater ins Internat geschickt wird, nie erfahren, wie schwer dieser Schritt dem Vater gefallen ist, der meint, ohne den Jungen nicht leben zu können, ihn aber kalt zurückweist, als José Luis ihn bittet, bei ihm bleiben zu dürfen. Die großen Gefühle bleiben hinter einer harten Oberfläche verborgen. Die Haltung, die hinter dem Handeln und Scheitern der Figuren steht, beschreibt José Luis so: Obwohl der Mensch weiß, dass das Böse immer siegen wird, muss er dennoch versuchen, es so lange wie möglich aufzuhalten – so, wie ein Arzt Kranke heilt, obwohl er weiß, dass jeder Mensch sterben muss. Dieser existenzielle Kampf um die menschliche Würde steht im Mittelpunkt von Chirbes’ Interesse an seinen Figuren.

„Die junge Garde“, so die Überschrift des zweiten Teils des Romans, ist ein von Chirbes ironisch verwendeter Begriff der Kriegssprache. Er verweist auf den auch nach Kriegsende nicht endenden Kampf und spielt damit, dass seine Leserinnen und Leser mehr wissen als die Figuren: Die jungen Leute werden mit ihren Hoffnungen genauso scheitern wie ihre Eltern. Erzählt werden Erlebnisse der heranwachsenden Nachkriegsgeneration bis in die frühen 1970er Jahre. Die Figuren treffen sich als Mitglieder einer kommunistischen Gruppe Ende der 1960er Jahre in Madrid. Ihr Denken ist bestimmt von revolutionären Prinzipien. Zweierbeziehungen werden abgelehnt, freie Liebe propagiert, doch bleibt es bei theoretischen Vorstellungen. Das Gefühl von Fremdheit, das Gregorio, der „Bäckerling“, unter den Freundinnen und Freunden aus besser gestellten Familien empfindet, bleibt und spielt eine entscheidende Rolle beim Auseinanderbrechen der Gruppe.

Unter den Figuren von Chirbes’ Romanen bestehen zahlreiche Verbindungen. Die Erzähler Ana und Carlos in „Die schöne Schrift“ und „Der Schuß des Jägers“ haben nicht nur den gleichen Nachnamen, beider Söhne heißen auch Manuel, ebenso wie der Ich-Erzähler in „Mimoun“. Diese drei Männer vertreten die Nachkriegsgeneration und verkörpern verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit der Geschichte: Während Manuel in „Mimoun“ auswandert und sich der individuellen Sinnsuche hingibt, ist Manuel Císcar nach Anas Schilderung ein Mann, der zwar eine sozialistische Gesinnung für sich beansprucht, sich aber vor allem an Geld und Macht orientiert, wovon der geplante Hausverkauf zeugt. Ana und Carlos gehören zwar verschiedenen Lagern des durch den ‚Bruderkrieg‘ gespaltenen Landes an, durch die Spiegelung in den Namen und durch Gemeinsamkeiten der gleichnamigen Söhne wird aber signalisiert, wie eng die Entsprechung zwischen ganz unterschiedlichen Familien sein kann. Obwohl sich seine Figuren in den Einzelheiten unterscheiden, hebt Chirbes dadurch, dass sich ihre Lebenswege und Schicksale ähneln und wiederholen, das Exemplarische an ihnen hervor.

Auch der zweite Roman der Trilogie, „La caída de Madrid“ („Der Fall von Madrid“, 2000), der sowohl in Spanien als auch in Deutschland von der Literaturkritik intensiv besprochen und viel gelobt wurde, wird mosaikartig aus den Perspektiven mehrerer Figuren erzählt: Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten mit verschiedenen politischen Überzeugungen kommen zu Wort.

Es ist der 19. November 1975, der Tag vor Francos Tod. Das Land ist im Wartezustand, der Diktator praktisch schon gestorben – Franco wurde mehrere Wochen lang gegen seinen Willen künstlich am Leben erhalten, um die Ordnung im Land aufrechtzuerhalten und den Übergang in die neue Zeit zu regeln. Einige Menschen im Land sind hoffnungsvoll, andere müde und resigniert, wieder andere haben Angst vor den bevorstehenden Veränderungen. Die Figuren gruppieren sich um den reichen Fabrikanten Don José Ricart, der an diesem 19. November Geburtstag hat und für den seine Schwiegertochter ein großes Fest plant, obwohl ihm nicht nach Feiern zumute ist. Unter Franco hat er gut gelebt. Nun versucht er, sich für die bevorstehende Zeit zu wappnen; sein Vermögen hat er längst ins Ausland geschafft. Ricarts Frau ist geisteskrank und erkennt ihn nicht mehr. Sein Freund Maximino Arroyo, Kommissar bei der politischen Polizei, fürchtet sich vor der Rache derjenigen, die er verfolgt hat; trotzdem führt er in sinnloser Präzision weiter alle Befehle aus. Ricarts lethargischer Sohn Tomás sträubt sich ähnlich wie Arroyo gegen jede Veränderung. Er hofft, dass nach Francos Tod alles beim Alten bleibt, weil er in Ruhe seine Geschäfte weiterführen will, wird aber von niemandem ernst genommen. Ironischerweise ist er es, dem die Geschichte am meisten Recht geben soll. Seine Frau Olga sammelt moderne Kunst und glaubt, sich so auf die Zukunft vorbereiten zu können. Ihren Mann, dem jeder Sinn für die Kunst abgeht, empfindet sie als roh. Die Söhne der beiden verkörpern das Erbe des gespaltenen Spanien: Quini, ein militanter linker Student und feinsinniger junger Mann, kämpft mit seiner Verunsicherung über die eigene Identität und steht mit seinem franquistischen Bruder, der die alte Ordnung mit Knüppeln verteidigen will, auf Kriegsfuß. Das Dienstmädchen der Familie ist mit den Vorbereitungen für das Fest beschäftigt. Sie lebt mit Lucio zusammen, der als Arbeiter im Untergrund gegen Franco kämpft; bei einer regimefeindlichen Aktion wird er gefasst und von Kommissar Arroyo verhört.

Das Buch umfasst die Teile „Der Morgen“ und „Der Nachmittag“. Weder das große Fest am Abend noch Francos Tod werden erzählt, der am frühen Morgen des 20. November 1975 eintrat und am folgenden Tag offiziell erklärt wurde. Noch expliziter als früher arbeitet Chirbes in diesem Text mit Auslassungen, die verdeutlichen: Es geht auch hier nicht um die großen Ereignisse, sondern um die vielen kleinen Privatbühnen, auf denen sich Geschichte abspielt. Die Leser haben den Romanfiguren das Wissen voraus, dass es nach Francos Tod weder zur Revolution noch zu irgendeiner Form von Vergeltung gekommen ist; dass der Alltag in Spanien fast bruchlos weiterging. Nur von der allgemeinen Resignation, die zu diesem Verlauf der Ereignisse geführt hat, ist im Buch einiges zu spüren. Trotzdem versetzt Chirbes seine Leser in einen Moment der Geschichte Spaniens zurück, in dem vieles möglich erschien und in dem Madrid, dem Titel des Buches gemäß, zum zweiten Mal fiel. „Der Fall von Madrid“ bezeichnet historisch den Einmarsch der Franco-Truppen in Madrid im März 1939, der die Niederlage der Republikaner im Bürgerkrieg und den Beginn der Franco-Diktatur besiegelte. Nach Chirbes scheiterte das Land auch 1975, als die Zeit für eine politische Wende und eine Auseinandersetzung mit der republikanischen Seite der Vergangenheit gekommen war.

Chirbes’ „mitfühlendes Erzählen“ erreicht in „Der Fall von Madrid“ einen neuen Höhepunkt: Die einfühlsame Beschreibung des Innenlebens des brutalen Kommissars Arroyo, die nur durch die Schilderungen der anderen Figuren gebrochen wird, ist Chirbes als politisch inkorrekt vorgehalten worden. Tatsächlich sind es aber gerade Figuren wie diese, die eine echte Auseinandersetzung der Leser mit dem Buch provozieren. So ist die Liebesgeschichte zwischen Arroyo und der Prostituierten Lina ebenso von Brutalität und Ignoranz geprägt wie alles andere, was Arroyo unternimmt. Die schonungslose Schilderung aus der Perspektive beider Figuren vermittelt eine Ausweglosigkeit und eine Intensität, die an die Darstellung von Gewalt und Sexualität in Juan Marsés „Si te dicen que caí“ („Wenn man dir sagt, ich sei gefallen“, 1973) erinnert.

Die in Interviews häufig gestellte Frage, wie er sich so intensiv in derart verschiedene Figuren einfühlen könne, pflegte Rafael Chirbes mit dem Hinweis zu beantworten, dass alle seine Figuren Teile von ihm selbst seien. Die Arbeit an „Der Fall von Madrid“ habe ihn in besonderer Weise bewegt und in manchen Grundfesten erschüttert – eine Zumutung, die auch seine Leserinnen und Leser ertragen müssen.

 

Während „Der lange Marsch“ stilistisch an die kraftvolle Bildsprache der kürzeren Romane erinnert, sind „Der Fall von Madrid“ sowie „Los viejos amigos“ („Alte Freunde“, 2003), der dritte Roman der Trilogie, in einer prosaischeren, weniger rhythmischen Sprache verfasst.

„Alte Freunde“ sind die Mitglieder einer ehemaligen kommunistischen Zelle, die sich nach 30 Jahren in einem noblen Restaurant in Madrid wiedertreffen. Damals hat man gegen Franco und für den Kommunismus gekämpft; jetzt sind die ehemaligen Aktivisten Bauunternehmer, Vertreterinnen für edle spanische Weine, gescheiterte Literaten, Maler oder Sozialisten in Brüssel geworden. Der Roman spielt etwa im Jahr 2000, zur Zeit der Regierung Aznars, und erzählt von der paradoxen Erkenntnis, dass Ideale ebenso unverzichtbar wie unbrauchbar sind. Am Tisch sitzen auch zwei junge Männer, die Söhne eines der „alten Freunde“.

Einer Zeit angepasst, in der es keine gemeinsamen Projekte und keine sinnstiftende Instanz mehr gibt, kommt dieser Roman ohne einen Erzähler aus, der die Erlebnisse der Figuren schildert. „Alte Freunde“ ist als Abfolge von Monologen konstruiert, die sich ergänzen oder widersprechen. Die einstigen Genossen haben resigniert. Sie sind nicht nur mit ihrem politischen Scheitern konfrontiert, sondern auch mit dem von Liebesbeziehungen, mit den immer stärker ins Bewusstsein rückenden Anzeichen von Alter und Tod, mit wachsender Einsamkeit. Ihre Berichte sind nur schwer voneinander zu unterscheiden. Trotzdem behalten die „alten Freunde“ Würde in dem, was sie erzählen und was über sie gesagt wird, auch wenn es mit der Freundschaft nicht mehr weit her ist. Die junge Generation, ihre Söhne und Töchter, werden hingegen als unkritische Konsumkinder dargestellt, die, wenn sie überhaupt noch Ideale haben, höchstens Abziehbilder ihrer Eltern sind.

Rafael Chirbes hat damit einen ebenso bitteren wie humorvollen Roman geschrieben, gespickt mit Anspielungen auf Politik und Gesellschaft der Zeit. Die Figuren, die sich am meisten von der Grundstimmung des Buches abheben, weil sie in ihrem aktuellen Lebensentwurf einen Sinn sehen, sind paradoxerweise davon überzeugt, dass es richtig sei, nicht mehr nach Sinn zu suchen. Rita, die sich von dem Schriftsteller Carlos getrennt hat, genießt nun mit ihrem zweiten Mann Juan ein Liebesleben, das im Zusammenhang des Romans nicht so erfüllt wirkt wie von ihr geschildert. Ihre Zeit in der kommunistischen Bewegung beschreibt sie als „isolierten Alptraum, der nichts mit den Wachzeiten zu tun hat; ein Loch, eine unbedeutende, harmlose Zyste, die das Land an irgendeiner Stelle seines Körpers bekommen hatte und von der kaum einer was gemerkt hat“. Auch hier macht Chirbes deutlich, wie Geschichtsschreibung funktioniert: Die Sieger der Geschichte entscheiden über die Bewertungsmaßstäbe für die Vergangenheit. „Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte“, schrieb Walter Benjamin 1942 in seinen „Thesen über den Begriff der Geschichte“, in denen der theoretische Hintergrund für Chirbes’ erzählerisches Werk formuliert ist.

Chirbes’ analytischem Blick auf die historisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge gegenwärtiger Entwicklungen wurde einige Aufmerksamkeit zuteil, nachdem die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise nach der Jahrtausendwende offensichtlich geworden waren. Seine deutsche Verlegerin Antje Kunstmann wies darauf hin, dass Chirbes 2007 in „Krematorium“ schon das Platzen der Immobilienblase vorausgesehen und all die Verheerungen beschrieben habe, die der wilde Kapitalismus der Zeit angerichtet habe. Das Bild einer desolaten spanischen Gesellschaft in der Identitätskrise nach den Wirtschaftsboom-Jahren passte jetzt zu den erzählerischen Linien, die Chirbes aus den Fehlentwicklungen der vorangegangenen Jahrzehnte in seinem Werk immer wieder herausgearbeitet hatte. Bereits mit „Die schöne Schrift“, wo der Sohn der Erzählerin das Elternhaus als Baugrund nutzen will, reagierte Chirbes auf eine wichtige gesellschaftspolitische Veränderung: 1985 wurde in Spanien ein Gesetz verabschiedet, das es erlaubte, Wohnraum in Gewerberaum umzuwandeln, unabhängig davon, wie er in den Stadtentwicklungsplänen ausgewiesen war. Eine Vorankündigung dessen, was dann später so weithin sichtbar wurde: Preisanstieg, Spekulation, Vertreibung der finanziell schlechter Gestellten aus den Innenstädten. „Die schöne Schrift“ war auf dieser Ebene nicht beachtet worden. Die schwere finanzielle, politische und gesellschaftliche Krise nach der Jahrtausendwende dagegen brachte eine viel größere Aufmerksamkeit für Chirbes’ Arbeit mit sich, als der Autor sie bisher erfahren hatte. Dass seine Romane nun passend zur Stimmung im Land als „Roman zum Bauboom“ („Krematorium“) beziehungsweise zum Zusammenbruch nach demselben („Am Ufer“, in Spanien 2013 erschienen) gelesen und rezensiert werden konnten, macht aber nur einen Teil ihrer Qualität aus: Sie sind weitreichende Gesellschaftsanalysen, die sich über lange Jahre im erzählerischen Werk des Autors vorbereitet haben und nur leichter sichtbare Entwicklungen in Spanien aufgreifen als die vorhergehenden Romane. Erzählerisch sind sie nicht relevanter als einige der älteren Texte, allerdings ist die Stimmung düsterer geworden.

Die 430 Seiten des Romans „Krematorium“ erzählen von einem einzigen Tag, an dem die Familie Bertomeu sich in dem fiktiven Ort Misent an der Costa Blanca zusammenfindet, um den eben verstorbenen Matías Bertomeu ins Krematorium zu überführen. Während der Verstorbene der linken Ideologie seiner Jugendjahre treu geblieben ist und als Ökobauer Olivenbäume züchtete, hat sein Bruder Rubén mit den einstigen Idealen gebrochen, ist in der Immobilienbranche mit kriminellen Methoden und dem Bau von Bettenburgen an der spanischen Mittelmeerküste reich geworden, bevor er sich auf exklusive Chalets für betuchte Ausländer spezialisiert hat. Der Roman beginnt mit Rubéns Perspektive und greift sie, gewissermaßen als Zentrum der ihn umgebenden Figuren, immer wieder auf. Unter die verschiedenen Stimmen im Roman mischen sich die von Rubéns Tochter Sylvia, die seiner zweiten Frau Miriam, einer gesellschaftlichen Aufsteigerin, die des Schriftstellers Brouard, der in seiner Jugend mit Rubén befreundet war und nun gegen die Immobilienspekulation ankämpft, oder die von Ramóns Handlanger Collado. Zentrale Themen sind die Auseinandersetzung mit dem Tod, das Scheitern von Idealen, die Doppelmoral und gewissenlose Selbstbereicherung fast aller Figuren auf unterschiedlichen Ebenen. Wie in den vorausgegangenen Romanen wird hier eine Phase der spanischen Gesellschaftsgeschichte in den privaten und beruflichen Erlebnissen und Ansichten einer Figurengruppe erzählt: die eines entfesselten Kapitalismus ohne gemeinschaftliche Werte, wie er auch in anderen Ländern zu finden ist. Gleichzeitig ist es aber auch eine sehr detailreiche und ganz spanische Geschichte der Generationenkonflikte, der Desillusionierungen und der Grabenkämpfe zwischen verschiedenen Lagern.