KLfG Extrakt - Gegenwartsliteratur aus Spanien

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Aus der Reihe: KLfG Extrakt
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Ein junger angehender Schriftsteller aus Katalonien reist 1987 mit einem Stipendium in die USA, wo er an der University of Illinois in Urbana-Champaign Spanisch unterrichtet. Dort freundet er sich mit dem Vietnamkriegsveteranen Rodney Falk an. Als Falk nach den Winterferien nicht mehr an die Universität zurückkehrt, sucht der Erzähler dessen Vater auf, der ihm von den Erlebnissen seiner beiden sehr unterschiedlichen Söhne, dem trotzkistischen Pazifisten Rodney und dem patriotisch gesinnten Bob, im Vietnamkrieg berichtet. Während Bob zwei Wochen vor seiner Heimkehr starb, kam Rodney als gebrochener Mann nach Hause. Bei einer Wiederbegegnung mit Rodney Jahre später in Madrid gesteht dieser dem Erzähler, an einem Massaker an vietnamesischen Zivilisten beteiligt gewesen zu sein. Als der mittlerweile als Schriftsteller sehr erfolgreiche Erzähler bei einer Vortragsreise in die USA Rodneys Frau besucht, erfährt er von ihr, dass sich Rodney einige Monate zuvor umgebracht hat. In einer metafiktionalen Schlusspointe wird angedeutet, dass der Roman, den der Erzähler gerade beendet, identisch ist mit „La velocidad de la luz“.

Mit seinem nächsten ‚Buch‘ – so und nicht als ‚Roman‘ wollte Cercas „Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde“ (2009) bezeichnet wissen – wechselte der Autor von seinem angestammten Verlag Tusquets zu Random House Mondadori, bei dem seine bisher erschienenen Werke unter dem 2013 begründeten Label „Bibliothek Javier Cercas“ sukzessive eine Neuauflage erfuhren. In seinem hybriden, dokufiktionalen Text, der Züge unterschiedlicher Gattungen trägt – Essay, Biografie, Roman, Chronik, historische Studie, journalistische Reportage – wandte sich Cercas einem Schlüsselereignis der spanischen Zeitgeschichte zu: dem gescheiterten Staatsstreich vom 23. Februar 1981, der beinahe den friedlichen Prozess der Transición, des Übergangs zur parlamentarischen Demokratie nach dem Tod Francos im November 1975, gewaltsam beendet hätte. Mit seiner akribischen Rekonstruktion und umsichtigen Deutung dieser dramatischen Stunden gelang Cercas erneut ein literarischer Coup. Sein Werk gilt vielen als die beste Darstellung der bereits gut erforschten Vorgänge und machte ihn im Vorfeld des 30. Jahrestages des Militärputsches im Jahr 2011 zu einem gefragten Experten. Als Ausgangspunkt für seine Version des Geschehens wählte Cercas dessen Eigenschaft als Medienereignis: Der Umsturzversuch wurde live im Radio übertragen und über 30 Minuten lang von Fernsehkameras aufgezeichnet. Die emblematischen Bilder, die dabei entstanden, fanden, einen Tag später ausgestrahlt, Eingang ins kollektive Gedächtnis der Spanier.

Cercas’ Dokumentarroman besteht aus fünf Teilen, flankiert von einem Vor- und einem Nachwort. Das Vorwort enthält eine Reflexion über den Status der überlieferten Fernsehbilder und die Bedeutung der mutigen Geste des amtierenden Ministerpräsidenten Adolfo Suárez, des Vizepräsidenten General Manuel Gutiérrez Mellado und des Führers der Kommunisten Santiago Carrillo, die als einzige auf ihren Plätzen sitzen blieben, während alle übrigen Parlamentarier in Deckung gingen, als die ersten Schüsse fielen. Das ist der „Augenblick“, auf den der Titel des Romans anspielt. Jeder der folgenden fünf Teile setzt sich aus den gleichen drei Komponenten zusammen: Am Anfang steht, kursiv gesetzt, die detaillierte Beschreibung und Ausdeutung der bekannten Videoaufzeichnung unter jeweils neuen Gesichtspunkten. Es folgt eine systematische Ausleuchtung aller Facetten des Putsches mit wechselndem Fokus. Am Ende wird die minutiöse Chronik der laufenden Ereignisse fortgeführt, von der Erstürmung des Parlaments um 18 Uhr 23 bis zur entscheidenden Fernsehansprache des Königs Juan Carlos und seinem Befehl an das Militär, sich in die Kasernen zurückzuziehen. Der erste Teil „Die Plazenta des Putsches“ geht auf die unterschiedlichen Ursachen und Triebkräfte ein, die den Staatsstreich ermöglichten. Der zweite Teil „Ein Putschist und der Putsch“ konzentriert sich auf die Person Gutiérrez Mellados, die Situation im Militär, die Rolle der Geheimdienste und das Verhältnis zwischen Adolfo Suárez und dem König. Der dritte Teil „Ein Revolutionär und der Putsch“ beleuchtet die Rolle der Kommunistischen Partei Spaniens PCE und ihres Generalsekretärs Santiago Carrillo. Der vierte Teil „Alle Putsche im Putsch“ beschäftigt sich mit dem biografischen Hintergrund, den Motiven, Zielen und Absprachen der führenden Köpfe hinter der Verschwörung: General Alfonso Armada, General Milans del Bosch und Oberstleutnant Antonio Tejero. Der fünfte Teil „Viva Italia!“ entwirft ein Porträt von Adolfo Suárez, zeichnet seinen politischen Werdegang nach und würdigt rückblickend seine Lebensleistung. Das Nachwort widmet sich der Aufarbeitung des Putsches, seinen Folgen für die spanische Gesellschaft und fällt ein abschließendes Urteil über die Transición.

Cercas betont im Vorwort, dass „Anatomie eines Augenblicks“ ebenso als „Geschichtsbuch“ („libro de historia“) wie als Roman gelesen werden könne. Mit einer historischen Studie hat das Buch die analytische, auf eine Vielzahl mündlicher und schriftlicher Quellen gestützte Vorgehensweise und den argumentativen, an Fragen und Thesen orientierten Duktus gemein. Außerdem ist es mit Anmerkungen in Fußnoten, einem Endnotenapparat und einer Auswahlbibliografie ausgestattet. An einen Roman erinnert wiederum die Art, wie sich Cercas an die Stelle der Figuren versetzt, über ihre Motive spekuliert und sich Gesprächsszenen, etwa zwischen Armada und Tejero, ausmalt. Mit einer wissenschaftlichen Darstellung kaum vereinbar ist auch sein Hang zu symbolischen Deutungen und mythisierenden Verfahren, der unter anderem darin zum Ausdruck kommt, dass er die Bilder des Putsches durch seine insistierenden Beschreibungen geradezu in Fetische verwandelt, dass er die Verteidiger der Demokratie, eine prägnante Formulierung Hans Magnus Enzensbergers aufgreifend, zu „Helden des Rückzugs“ stilisiert und allen voran Adolfo Suárez mit den Zügen einer Roman- und Filmfigur ausstattet.

In seinem folgenden Roman „Outlaws“ (2012), der 2021 von Daniel Monzón für das Kino adaptiert wurde, blieb Cercas der Epoche der Transición treu, nur dass er dieses Mal nicht deren Endphase und ein Ereignis von nationaler Tragweite, sondern die frühen Jahre noch vor der Verabschiedung der demokratischen Verfassung im Dezember 1978 und die bedrückenden Lebensverhältnisse in der katalanischen Provinz in den Blick nahm. Der Handlungsort ist Cercas’ Wahlheimat Girona. Den Hintergrund bilden seine Kindheits- und Jugenderinnerungen. Die Protagonisten des Romans Ignacio Cañas, Tere und Zarco sind zwar fiktiv, doch zumindest Ignacio, der „Gafitas“ (Brillenschlange) genannt wird und mit seinen Eltern aus der Extremadura zugewandert ist, trägt deutliche Züge von Cercas selbst, während Zarco wiederum nach dem Vorbild des zu medialer Berühmtheit gelangten spanischen Verbrechers Juan José Moreno Cuenca (1961–2003) gestaltet ist. Der zweiteilige Roman wird nach dem bei Cercas schon vertrauten Schema der investigativen Recherche und multiperspektivisch erzählt: Ein namenloser Schriftsteller/Journalist interviewt im Jahr 2006 abwechselnd Ignacio Cañas, den Polizeiinspektor Cuenca sowie den ehemaligen Direktor des Gefängnisses von Girona, Requeña. Die Wahrheit, so will es diese skeptische Konstruktion, ist immer nur die Summe aller subjektiven Perspektiven. Der plakative deutsche Titel „Outlaws“ beraubt den Roman indessen gegenüber dem Originaltitel „Las leyes de la frontera“ (Die Gesetze der Grenze) um einen wichtigen Interpretationsschlüssel, denn es geht darin vorrangig um Grenzen jeglicher Art: den Fluss Ter, der den bürgerlichen Stadtteil, in dem Ignacio lebt, von dem Armenviertel trennt, aus dem Zarco und Tere stammen, die moralische Grenze zwischen Gut und Böse sowie die existenziellen und sozialen Grenzen, die den Einzelnen daran hindern, sein Leben grundlegend zu ändern.

Der erste Teil, „Jenseits“, spielt im Sommer 1978. Der 16-jährige Ignacio schließt sich einer Bande jugendlicher Kleinkrimineller um die verführerische Tere und den charismatischen Zarco an. Aus kleineren Delikten werden schnell größere. Das erbeutete Geld fließt in Alkohol, Drogen und Prostituierte. Nach einem misslungenen Banküberfall löst sich die Bande auf. Zarco kommt ins Gefängnis. Ignacio kann wie durch ein Wunder entkommen und setzt sein bürgerliches Leben fort. Im zweiten Teil, „Diesseits“, ist aus Ignacio 20 Jahre später ein angesehener Anwalt geworden. Zarco, der es inzwischen zum landesweit bekannten Verbrecher gebracht hat, wird ins Gefängnis nach Girona verlegt, aus dem ihn Ignacio aus alter Verbundenheit schließlich freibekommt. Doch weder dieser Erfolg noch die Wiederbegegnung Ignacios mit Tere eröffnen den Figuren auf Dauer eine neue Lebensperspektive.

Zwei Jahre später nahm sich Cercas in „Der falsche Überlebende“ (2014) eines Skandals an, der international für Aufsehen gesorgt hatte. Kurz bevor der Präsident der spanischen Organisation von KZ-Überlebenden „Amical de Mauthausen“, der Katalane Enric Marco Batlle (geb. 1921), am 8. Mai 2005 anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des KZ Mauthausen in Anwesenheit des spanischen Ministerpräsidenten, des österreichischen Kanzlers und von Überlebenden des Holocaust eine Rede halten sollte, war durch Nachforschungen des Historikers Benito Bermejo ans Licht gekommen, dass Marcos Vergangenheit als Opfer des Nazi-Regimes und Insasse des KZ Mauthausen auf einer Lüge beruhte. Noch am 27. Januar desselben Jahres hatte Marco vor dem spanischen Parlament eine bewegende Rede zum Gedenken an den Holocaust gehalten. Auch bei der Bewältigung dieses neuen Stoffs setzt Cercas die in seinen früheren Rechercheromanen bewährten Mittel ein: den detektorischen Plot, bei dem neben dem Lebensweg Enric Marcos auch die Geschichte seiner Rekonstruktion durch den Ich-Erzähler Javier Cercas zum Gegenstand der Handlung wird, die Reflexion über diese Vorgehensweise, die hier auf die Formel „Roman ohne Fiktion“ gebracht wird, und die Entfaltung eines moralischen Problems, in diesem Fall die Frage, ob man lügen darf, wenn man damit Gutes bewirken kann. Denn es ist ohne Zweifel so, dass „der falsche Überlebende“ Enric Marco – zumindest bis zu seiner Enttarnung – für die Wahrnehmung des Holocaust, die in der spanischen Öffentlichkeit vergleichsweise schwach ausgeprägt war, Beachtliches geleistet hat. Der Roman zeigt aber auch unmissverständlich, dass die Machenschaften Marcos nicht so erfolgreich gewesen wären, wenn die Gesellschaft angesichts des grassierenden Erinnerungsbooms und eines sentimental-unkritischen Verhältnisses zu den Konzepten der oral history und des Zeitzeugentums nicht förmlich danach verlangt hätte, betrogen zu werden.

 

Der Roman beginnt mit einem Bericht des Erzählers darüber, wie er 2005 auf den Fall Marco aufmerksam wurde und von befreundeten Schriftstellern wie Mario Vargas Llosa und Ignacio Martínez de Pisón der Hinweis kam, dass der Stoff doch für ihn wie geschaffen sei. Nach längerem Zögern und mehreren Anläufen entscheidet sich der Erzähler 2013 dazu, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen und Marcos Leben von der Kindheit bis zu seiner Entlarvung wahrheitsgemäß nachzuerzählen. Jeweils von Marcos eigener Version der Dinge ausgehend, trennt der Erzähler in einem mühsamen Prozess Schritt für Schritt das komplexe Gespinst aus Lügen und Halbwahrheiten auf, das der zum Vergleich mit Don Quijote herausfordernde Marco mit genialem Geschick um sich gewoben hat. So wird deutlich, dass Marco zwar tatsächlich auf Seiten der Republikaner am Bürgerkrieg teilgenommen, seine Heldentaten aber schamlos übertrieben hatte. Statt aus Spanien geflüchtet, nach Frankreich in den Widerstand gegangen, zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert und im KZ Flossenbürg inhaftiert worden zu sein, hatte er sich 1941 freiwillig zu einem Arbeitseinsatz in der deutschen Kriegsindustrie gemeldet, von dem er 1943 nach Spanien zurückkehrte, wo er bis zum Ende der Diktatur ein unauffälliges Leben als Automechaniker führte. Erst mit dem Wechsel zur Demokratie schlug seine Stunde. 1978 stieg er zum Generalsekretär der nach Francos Tod neugegründeten anarchistischen Gewerkschaft CNT auf. In den 1980er und 90er Jahren war er Vizepräsident des Elternverbandes FAPAC. 2003 wurde er dann zum Präsidenten der „Amical de Mauthausen“ gewählt. Marco hatte zwar schon Ende der 1970er Jahre behauptet, im KZ gewesen zu sein, baute diese Legende aber erst gegen Ende der 1990er Jahre gezielt aus und untermauerte sie anschließend mit Hunderten von Vorträgen und zahlreichen Veröffentlichungen – bis zu seiner Demontage Ende April 2005, deren Umstände und Folgen abschließend geschildert werden.

Cercas liefert mit seinem Roman das Psychogramm einer schillernden Persönlichkeit, deren Neigung zum notorischen Lügen er auf einen zwar extremen, aber im Kern nachvollziehbaren Wunsch nach Zuwendung und Anerkennung sowie auf eine zutiefst narzisstische Persönlichkeitsstruktur zurückführt. Zugleich hält er aber auch der spanischen Gesellschaft einen Spiegel vor, der unterstellt wird, sich wie Enric Marco rückblickend nur allzu bereitwillig auf der Seite des Widerstands zu verorten, während sie sich doch mehrheitlich den unter der Diktatur herrschenden Machtverhältnissen angepasst habe. Schließlich erkennt der Ich-Erzähler schon bald auch eine unübersehbare Parallele zwischen dem Verhalten Marcos und seiner eigenen Tätigkeit als Schriftsteller: Es ist das Verlangen und die Fähigkeit, sich eine Welt nach eigener Vorstellung zu schaffen, die zudem von allen akzeptiert und geglaubt wird. In einem von Cercas erfundenen selbstkritischen Zwiegespräch macht sich Marco diese Ansicht zu eigen und wirft seinerseits dem Verfasser vor, mit der Erfindung des republikanischen Soldaten Miralles in „Soldaten von Salamis“ letztlich nichts anderes gemacht zu haben als er selbst und damit für den Erinnerungskitsch mitverantwortlich zu sein, der seinem, Marcos, Auftreten erst die entsprechende Bühne bereitet habe. Dies alles entzieht den „Hochstapler“ („El impostor“), wie der Roman im spanischen Original heißt, am Ende einer eindeutigen und vor allem selbstgerechten Verurteilung.

So wie „Der falsche Überlebende“ mit seiner kritischen Selbstreflexion über die erinnerungskulturelle Bedeutung von „Soldaten von Salamis“, ist auch Cercas’ nächster Roman „El monarca de las sombras“ (Der König der Schatten, 2017) als eine Reaktion auf den Erfolgstitel von 2001 zu verstehen. Wieder geht es um den Spanischen Bürgerkrieg, nur dass Cercas diesmal tiefer als je zuvor in die Geschichte der eigenen Familie eintaucht und am Beispiel des Onkels seiner Mutter, Manuel Mena, deren Verstrickung in den Franquismus und Akzeptanz der republikfeindlichen Falange thematisiert. Das geschieht wieder auf die bekannte dokufiktionale Weise mit doppeltem Plot, sodass der Roman unter den Augen der Leser zu entstehen scheint. Gleichzeitig wird ein intertextueller Dialog u. a. mit Dino Buzzatis Roman „Die Tatarenwüste“ (1940), Danilo Kiš’ Erzählung „Ruhmreich ist es, für das Vaterland zu sterben“ (1986) sowie der „Ilias“ und der „Odyssee“, aus der auch der Titel stammt, geführt.

Zu Beginn erläutert der Ich-Erzähler seinen Entschluss, die lange verdrängte Nähe seiner Familie zum Franquismus zum Gegenstand seines Romans zu machen. In der Folge alternieren die Kapitel zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. In der Gegenwart finden die fortschreitenden Nachforschungen des sich als Geschichtsdetektiv betätigenden Ich-Erzählers statt, der zum Teil von seinem Freund David Trueba begleitet wird. Auf der Vergangenheitsebene wird, eingebettet in die sozialen und politischen Umstände der Zeit, das kurze Leben Manuel Menas geschildert. Auf dieser Ebene tritt Javier Cercas als Figur in der dritten Person auf. Manuel Mena wird 1919 in Cercas’ Heimatdorf Ibahernando geboren, besucht dort die Schule, macht sein Abitur in Cáceres, wo er vermutlich mit dem Gedankengut der Falange in Verbindung kommt. Er absolviert die Militärakademie in Granada und nimmt dann als Leutnant des franquistischen Heeres, unterbrochen von Heimaturlauben und Verwundungen, an den Schlachten von Teruel, Lérida und Bielsa teil. In der Schlacht am Ebro wird er schwer verwundet und stirbt am 21. September 1938 in einem Lazarett. Im letzten Kapitel werden beide Erzählstränge zusammengeführt. In dem Ort Bot in der Nähe des ehemaligen Kriegsschauplatzes gelingt es dem Erzähler, das Haus ausfindig zu machen, in dem das Hospital untergebracht war, in welchem Manuel Mena starb. Der Roman endet mit dem durchaus allegorisch zu verstehenden Bekenntnis des Erzählers zu Mena als einem Mitglied der Familie.

In „El monarca de las sombras“ ist also eine ähnliche ideologische Operation zu beobachten wie in „Soldaten von Salamis“. Sie zielt auf das Verständnis des Anderen und die Aussöhnung zwischen den ehemaligen Gegnern, ohne Zweifel daran zu lassen, dass das Wertesystem des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, das sich historisch durchgesetzt hat, vom heutigen Standpunkt aus das richtige ist. Diese Norm wird in beiden Romanen gewissermaßen korrigierend in die Geschichte zurückprojiziert. Der einzige Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass in „Soldaten von Salamis“ der reale Falangist Sánchez Masas durch den fiktiven Republikaner Miralles als Identifikationsfigur ersetzt wird, während Manuel Mena in „El monarca de las sombras“ vom Erzähler die Möglichkeit unterstellt wird, sich vom überzeugten Faschisten zum Zweifler gewandelt zu haben, der ahnt, dass er sich für die falsche Seite entschieden hat. In diesem Zusammenhang ist auch eines der zentralen Motive des Romans zu sehen: die auf der letzten Seite in der Formulierung „ich war er“ zugespitzte Überlegung des Erzählers Javier Cercas, sich gar nicht so sehr von Manuel Mena zu unterscheiden. Damit ist nicht nur die Erkenntnis gemeint, dass in jedem ‚Cercas‘ ein ‚Mena‘ steckt, sondern eben auch die wesentlich subtilere umgekehrte Annahme, dass sich in jedem ‚Mena‘ auch ein ‚Cercas‘ verbirgt: die Fähigkeit zur Entwicklung und Einsicht. Damit wird der Vergangenheit ein utopisches Potenzial unterschoben, das typisch ist für Cercas’ literarische Geschichts(re)konstruktionen.

Nachdem Cercas mit „El monarca de las sombras“ noch einmal auf die Bürgerkriegsthematik zurückgekommen war, die ihm knapp 20 Jahre zuvor mit „Soldaten von Salamis“ den Durchbruch zum Erfolg beschert hatte, erschloss er sich mit seinen beiden vorläufig letzten Romanen „Geschichte einer Rache“ (2019) und „Die Erpressung“ (2021) ein neues Genre, den Thriller. Absolut neu war dieses Terrain für ihn freilich nicht, denn Elemente des Kriminalromans spielten beispielsweise schon in „Outlaws“ eine Rolle. Außerdem waren die detektivische Suche nach der biografischen und historischen Wahrheit, die akribische Rekonstruktion vergangener Ereignisse und das obsessive Bemühen um Erkenntnis schon lange charakteristisch für sein literarisches Werk. Das Manuskript von „Geschichte einer Rache“, das Cercas, wie üblich, unter Pseudonym eingereicht hatte – Cercas wählte als Verfassernamen den seines Protagonisten Melchor Marín und als Titel „Cristales rotos“ (Zerbrochene Spiegel) – wurde im Oktober 2019 mit dem höchstdotierten spanischen Literaturpreis, dem Premio Planeta (Preissumme: 601 000 Euro) ausgezeichnet. Dabei wurde kritisiert, dass bei der Auswahl von Cercas’ Kriminalroman, der nicht alle Rezensenten überzeugte, weniger literarische Kriterien als vielmehr kommerzielle Interessen, also die Aussicht, einen Bestseller zu produzieren, den Ausschlag gegeben hätten. In diesem Zusammenhang ist es nicht ohne Belang, dass Cercas mit seinem neuen Roman zu der Verlagsgruppe Planeta wechselte, die auch den Preis verleiht, und dem multinationalen Konzern Penguin Random House den Rücken kehrte, der seine Bücher seit 2009 verlegt hatte. Beide Unternehmen liefern sich einen starken Konkurrenzkampf um den internationalen spanischsprachigen Literaturmarkt.

Die Handlung von „Geschichte einer Rache“ ist in der kargen Landschaft der Terra Alta im Südwesten Kataloniens angesiedelt, die der Krimiserie ihren Namen gab. Sie wird vermutlich, wie Cercas bereits andeutete, über die ersten beiden Bände hinaus fortgesetzt. Der Roman beginnt mit einem grausamen Mord an dem alten Unternehmerehepaar Adell. Der Fall wird dem jungen Polizisten Melchor Marín übertragen, der vier Jahre zuvor zu seiner eigenen Sicherheit in die Provinz versetzt wurde, nachdem er sich bei der Bekämpfung des islamistischen Terroranschlags in Cambrils im August 2017 hervorgetan hatte. Marín führt ein ruhiges Leben, ist mit Olga, der Bibliothekarin des Ortes, verheiratet und hat eine Tochter, Cosette. Sie ist nach der Tochter des Protagonisten Jean Valjean aus Maríns Lieblingsroman, Victor Hugos „Die Elenden“ (1862), benannt, der schon auf den ersten Seiten erwähnt wird. Mit Valjean verbindet Marín, dass auch er sich vom Kriminellen zum Gesetzeshüter wandelte. Marín, der als junger Mann wegen Drogendelikten inhaftiert wurde, entschied sich im Gefängnis nach der Ermordung seiner Mutter, einer Prostituierten, und unter dem Einfluss der Lektüre von Hugos Roman dazu, Polizist zu werden. Als die Nachforschungen im Fall Adell eingestellt werden, ermittelt Marín auf eigene Faust weiter und beschließt, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen. Die Lösung des Falls führt ihn bis in die Zeit des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur zurück. Der Folgeband „Die Erpressung“, der im spanischen Original den wesentlich anspielungsreicheren Titel „Independencia“ (Unabhängigkeit) trägt, ist wieder in Barcelona situiert, allerdings in der unmittelbaren Zukunft des Jahres 2025. Dort muss der moralisch integre und gerechtigkeitsliebende Marín nach den Drahtziehern einer Erpressung fahnden – die Bürgermeisterin von Barcelona wird mit Sexvideos aus ihrer Jugend unter Druck gesetzt – und sieht sich mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Seine Recherchen bringen ihn aber auch mit den politisch-ökonomischen Eliten Kataloniens in Berührung, denen der Roman vorwirft, das Land als ihre Beute zu betrachten und die Bevölkerung nach Belieben zu manipulieren.

Javier Cercas selbst betonte in Interviews, wie sehr seine ‚Neuerfindung‘ als Krimiautor, die sofort Vergleiche mit Manuel Vázquez Montalbáns Krimireihe um den Privatdetektiv Pepe Carvalho auf den Plan rief, der Radikalisierung der politischen Lage in Katalonien seit dem umstrittenen Referendum zur Unabhängigkeit des Landes vom Oktober 2017 geschuldet sei: „Was in den vergangenen Jahren in Katalonien passiert ist, hat etwas mit mir gemacht.“ (Janker, 2021) In der Tat sind die Themen, um die es Cercas in seinen beiden Kriminalromanen geht, in abstrahierender Form eng mit Problemen verbunden, die (nicht nur) die katalanische Gesellschaft der Gegenwart beschäftigen: das Spannungsverhältnis zwischen dem Respekt vor den Gesetzen und dem Gerechtigkeitsempfinden des Einzelnen, zwischen Legalität und Legitimität des Handelns, zwischen Eigennutz und Gemeinwohl, zwischen ‚Volk‘ und ‚Elite‘, aber auch der verantwortliche Umgang mit starken Emotionen wie Wut, Hass und Rache, politisch-öffentlich und privat. Daneben treten aber auch wieder Züge zutage, die für Cercas’ Werk insgesamt kennzeichnend sind: die Überzeugung, dass es wichtig sei, die Gegenwart im Licht der Vergangenheit zu sehen, das quijoteske Spiel mit der Metafiktion oder die lebensentscheidende Rolle der Literatur, die als Dialogpartner ständig präsent ist. Mit Blick auf sein bisheriges Werk kann man indessen unschwer vorhersagen, dass Javier Cercas sich in Zukunft nicht mit der Serienproduktion von Kriminalromanen zufriedengeben wird.

 

Der vollständige Beitrag „Javier Cercas“ im Kritischen Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur ist einzusehen unter http://www.klfg-lexikon.de.

Leonie Meyer-Krentler

Rafael Chirbes

Rafael Chirbes’ Literatur ist stark von seiner Haltung gegenüber der Entwicklung Spaniens nach Francos Tod im November 1975 geprägt. In der Gesellschaft war damals das Bedürfnis nach Modernisierung, wirtschaftlichem Aufschwung und einem schnellen Anschluss an Europa groß. Weit verbreitet war die Auffassung, man müsse einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen und einen Neuanfang wagen. Davon waren auch viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller überzeugt. Rafael Chirbes hingegen wird in seinen Texten nicht müde zu betonen, dass ein demokratisches Spanien ohne Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht zu erreichen sei. Während und nach dem Übergang zur Demokratie kritisierte er vehement, dass in der Gesellschaft keine Debatte über die Wunden und Verbrechen aus Bürgerkrieg und Diktatur geführt wurde. Was im Film und in der Literatur thematisiert wurde, sparten die Medien aus. Erst als man seit dem Jahr 2000 im ganzen Land franquistische Massengräber aus der Zeit des Bürgerkriegs entdeckte, begann sich diese Situation zu ändern, bis es unter der Regierung Zapatero (2004–2011) geradezu in Mode kam, den Bürgerkrieg wieder zum Thema zu machen.

Neben Chirbes haben auch andere spanische Schriftsteller nach 1975 gegen das Schweigen über die Vergangenheit angeschrieben, so Eduardo Mendoza oder Antonio Muñoz Molina. Rafael Chirbes unterscheidet sich von diesen Autoren vor allem durch einen Ton, dessen Ernsthaftigkeit sich von Erzählweisen abhebt, die stärker mit Brüchen durch Ironie oder erzählerischer Leichtigkeit arbeiten. Chirbes ruft in seinen Romanen immer wieder die Erinnerung an den Bürgerkrieg, die Nachkriegszeit, die Transición wach und daran, dass die Täter des Franco-Regimes nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Lange wurde eine solche Erinnerungsarbeit entweder als wenig relevant oder als Bedrohung der Gegenwart empfunden, weil sie immer wieder auf die Ursprungsverbrechen verweist, auf die das bestehende System zurückgeht.

Im Jahr 2000 zog Chirbes sich in seine Heimat nahe der Mittelmeerstadt Alicante zurück. Eine Zeit, zu der die Auswirkungen des massiven Bau- und Tourismusbooms in Spanien immer spürbarer wurden: In dem Dorf Beniarbeig an der spanischen Mittelmeerküste erlebte Chirbes sie hautnah. Aus seiner Perspektive hatte man zwar eine Demokratie eingerichtet, aber keine politischen Bedingungen geschaffen, die eine Mitbestimmung bei wichtigen gesellschaftlichen Entwicklungen überhaupt möglich gemacht hätten. Stattdessen befeuerten gerade sozialistische Politiker die große Illusion des schnellen Geldes durch Immobilienspekulation. Wenige Jahre später kam dann der große Zusammenbruch, der in eine Atmosphäre der Depression, der Arbeits- und Hoffnungslosigkeit für einen großen Teil der spanischen Gesellschaft mündete. Chirbes’ Romane aus dieser Zeit spielen in fiktiven Orten an der Mittelmeerküste und treffen vor dem Hintergrund der verzweifelten gesellschaftspolitischen Lage erstmals auf ein breiteres Bewusstsein von der großen Relevanz des Erzählten. Der Öffentlichkeit wurde Chirbes nicht zuletzt durch eine Verfilmung seines Romans „Crematorio“ („Krematorium“, 2007) durch einen spanischen Fernsehsender bekannt.

Im spanischen Literaturbetrieb nahm Chirbes vor und nach dem Einsetzen einer gesteigerten Aufmerksamkeit für seine Person eine Sonderrolle ein. Seitdem mit der Verfassung von 1978 die Zensur abgeschafft worden war, hing der Erfolg eines Buches in Spanien vor allem vom Markt ab – bedingt durch Faktoren wie die geringe Bedeutung der Literaturkritik gegenüber der Reklame, die Konzentration der Medien und das System der Literaturpreise. Chirbes verhielt sich dem spanischen Literaturbetrieb gegenüber sehr zurückhaltend. Er ist nur vergleichsweise selten öffentlich aufgetreten und distanzierte sich sowohl von den Autoren, die eine leicht konsumierbare „literatura light“ schrieben, als auch von denjenigen, die sich, meist von den Sozialisten und deren Presseorganen bzw. Medienkonzernen, politisch instrumentalisieren ließen. Zu den zeitgenössischen spanischen Schriftstellern, die eine ihm bedeutsam erscheinende Literatur geschaffen haben und denen Rafael Chirbes sich zuordnen lässt, gehören Max Aub, Juan Marsé, Carmen Martín Gaite, Juan Eduardo Zúñiga, Juan Iturralde, Manuel Vázquez Montalbán, Mario Lacruz, Ramiro Pinilla und Blanco Aguinaga.

Ein immer wiederkehrendes Motiv in Chirbes’ Texten ist das Scheitern. In seinem ersten publizierten Roman „Mimoun“ (1988) ist es das existenzielle Scheitern eines Auswanderers in Marokko, in den späteren Texten ein Scheitern an der Geschichte oder an einer Gegenwart, die jeglicher Ideale beraubt ist, gegen das seine Figuren kämpfen und das sie prägt. Diese Romane spielen in verschiedenen Gegenden Spaniens und sind bestimmt von der Vergangenheit des Bürgerkriegs und der Diktatur. Auch die neueren Romane, die als Kommentare zu Immobilienboom und Desillusionierung im Zusammenhang der Wirtschafts- und Finanzkrise nach der Wende zum 21. Jahrhundert verstanden wurden, rekurrieren sehr stark auf diese Themen und stellen weit in die spanische Geschichte reichende Zusammenhänge her.

„Mimoun“, laut Chirbes ein Gegenroman zur Transición in Spanien, thematisiert die individuelle Sinnsuche im Ausland. Weil das Buch inhaltlich nicht zu den Spanien-Romanen passt, für die der Autor bekannt geworden ist, findet es innerhalb des Gesamtwerks oft wenig Beachtung – zu Unrecht: Der Text gehört zu den besten des Autors.

Manuel geht als Spanischlektor an die Universität von Fès, um in Marokko einen Roman zu schreiben. Bald lässt er sich im nahe gelegenen Dorf Mimoun nieder und zieht in die „Creuse“, das Haus des Spaniers Francisco. Über den Selbstmord des früheren Hausbesitzers, eines Missionars, dem man im Dorf feindselig gegenüberstand, kursiert eine unheimliche Geschichte. In den ersten Monaten in Mimoun regnet es wochenlang, der Wind rüttelt an den Bäumen, und Manuel verliert, je mehr er sich in die marokkanische Gesellschaft zu integrieren versucht, die Orientierung. Auch sein Buchprojekt kommt kaum voran. Francisco ist launisch und gerät in immer tiefere Krisen, der Nachbar Charpent, ein vereinsamter französischer Lyriker, verfällt immer mehr der Alkoholsucht und dem Wahnsinn. „Die Isolierung der Menschen in Mimoun glich der jener riesigen, einzeln stehenden Bäume, deren Wurzeln sich unter der Erde suchen.“ Manuel gerät in einen Strudel aus Gewalt, Alkoholexzessen und wahllosen sexuellen Kontakten mit Frauen und Männern. Seine Beziehungen sind von einer bedrohlichen Ambivalenz geprägt, einem Wechselspiel zwischen Misstrauen und Sympathie. In diesem fortschreitenden Selbstzerstörungsprozess ist der Tod stets präsent: in Träumen, Vorstellungen und, als Manuel die „Creuse“ verlässt, in einem Suizidversuch Franciscos, schließlich auch im Selbstmord Charpents, der mit der Legende um das Haus in Zusammenhang zu stehen scheint und hinter dem sich möglicherweise ein Mordfall verbirgt. Die sich verdüsternden Beziehungen zwischen den Menschen, das Misstrauen der Polizei gegenüber Manuels Tätigkeit in Mimoun sowie der Sumpf aus Alkohol und Gewalt erscheinen ihm wie ein Netz, das sich immer enger zuzieht. Kurz bevor Manuel Mimoun verlässt, haben die Albträume, von denen er heimgesucht wird, die Herrschaft über seinen Verstand gewonnen. Im Gegensatz zu Francisco und Charpent gelingt es ihm trotzdem, sich zu lösen und nach Madrid zurückzukehren.