Kirchliches Leben im Wandel der Zeiten

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Aus der Reihe: Erfurter Theologische Studien #104
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Fürstbischof Ferdinand von Lüning als Apostolischer Vikar für das Eichsfeld und Erfurt 1818-1823





Reimund Haas





Die Thematik könnte mit der überraschenden Frage eingeleitet werden, wie es kam, dass ein Adeliger ohne Theologiestudium aus dem linken Rheinland, aus Gleuel bei Köln,

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 für rund fünf Jahre der letzte Fürstbischof von Erfurt und dem Eichsfeld wurde. Es muss schon eine besondere Zeit und eine außergewöhnliche Persönlichkeit gewesen sein, dass dies geschehen konnte. Ein erster Umstand der Epoche vor gut 200 Jahren war, dass es im Gefolge der Französischen Revolution (1789 und folgende Jahre) und der Säkularisation der deutschen Reichskirche (um 1803) nur noch wenige Bischöfe im ehemaligen deutschen Reichsgebiet gab.

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Zu ihnen gehörte der im nordwestdeutschen Raum lange Jahre wenig beachtete Ferdinand von Lüning, zu dem der Verfasser im Jahre 1973 in einer Fußnote seiner Diplom- und Lizentiatsarbeiten noch feststellen musste: „Eine Biographie oder auch nur ein Lebensbild von ihm fehlen und ein Nachlass von ihm konnte nicht ausfindig gemacht werden.“

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 Als der Verfasser dann im Jahre 1978 das posthume Werk von Beda Bastgen über die Besetzung der Bischofsstühle in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einem Register herausgab, kamen darin nicht nur Ferdinand von Lüning, sondern auch das Eichsfeld und Erfurt mehrfach vor.

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Und mehr als zehn Jahre später in der Doktorarbeit über Domkapitel und Bischofsstuhlbesetzungen in Münster konnte nicht nur Lünings Bedeutung für das westfälische Bistum Münster erstmals ausführlich dargestellt werden, sondern vor allem seine grundlegende, überregionale und bis heute in Deutschland relevante Bedeutung für die staatskirchliche Finanzierung aufgezeigt werden. Denn während die preußische Regierung den Corveyer Bischof 1815/16 möglichst schnell durch Papst Pius VII. (1800-1823) nach Münster transferieren lassen wollte, um dort den kirchenpolitisch umstrittenen Kapitularvikar – und später auch in den „Kölner Wirren“ staatskirchenpolitisch hervorgetretenen – Clemens August Droste zu Vischering († 1845)

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 auszuschalten, bestand Lüning zunächst darauf, dass die Dotation der Bischofskirchen, Domkapitel und Bistumseinrichtungen als Entschädigung für die Säkularisationsverluste vom preußischen Staat erst gesichert werden müssten. Gerade weil Lüning selbst aus der Säkularisation eine gesicherte Pension von 13.000 Talern pro Jahr bezog, war ihm die Sorge um die Existenzgrundlage seiner Amtsnachfolger ein besonderes Anliegen, so dass er dem Drängen der preußischen Regierung auf Amtsübernahme zunächst widerstand, bis die Sicherung durch die Zirkumskriptionsbulle „De salute animarum“ (16. Juli 1821) grundgelegt war. Als Jurist nahm Ferdinand von Lüning in kirchlichen Finanzfragen eine entschiedene Haltung ein, so dass es bis August 1820 dauerte, bis diese grundlegend gesichert waren und er endlich im Juli 1821 im Bistum Münster als erster Bischof nach der Säkularisation eingeführt werden konnte.

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 So haben in den vormals preußischen Diözesen auch heute noch die Bischöfe und Domkapitel seiner Standhaftigkeit ihr gesichertes Einkommen zu verdanken.



Nachdem dieser Forschungsstand im Jahre 1987 in einem Artikel der Neuen Deutschen Biographie zusammengefasst werden konnte,

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 hatte der akademische Lehrer des Autors, Prof. Dr. Dr. Alois Schröer (†2002)

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, im Jahre 1993 im Handbuch des Bistums Münster den ersten Bischof der preußischen Zeit ausführlich beschrieben, sich dabei aber ganz auf die Münsterer Perspektive beschränkt.

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 Im Unterschied zur älteren Forschung, die ihn als „schwachen“ Bischof im Verhältnis zum Staat dargestellt hatte, konnte in dem seit 2003 auch digital vorliegenden Artikel des Bibliographischen Kirchenlexikons

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 differenziert werden: Während Bischof Lüning in den Finanzfragen eine kirchlich entschiedene Haltung dem preußischen Staat gegenüber einnahm, zeigte er sich in administrativen Fragen kooperativ und nahm zum 15. Dezember 1818 die Ernennung zum Apostolischen Administrator für Erfurt und das Eichsfeld an.

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 Schließlich ist Ferdinand von Lüning in der Paderborner Bistumsgeschichte von Hans Jürgen Brandt und Karl Hengst zumindest beiläufig erwähnt worden.

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Sein Apostolisches Vikariat im Eichsfeld und in Erfurt war in der regionalen älteren Literatur nicht unbekannt,

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 wurde aber in der allgemeinen bzw. neueren Literatur über diese kirchliche Umbruchphase nicht wahrgenommen, z. B. von Dominik Burkhard in seiner großen Habilitationsschrift über die Neuordnung der katholischen Kirche in Deutschland nach der Säkularisation, in der er die verschiedenen Bistumsprojekte von Rastatt skizziert hat von Kassel bis Oldenburg, das Eichsfeld-Erfurter Gebiet aber nicht erwähnt.

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 Ebenso nennt Burkhard in seinem Überblick von 2005 über die Auswirkungen des Systemumbruchs der Säkularisation als Transformierungsprozess das Gebiet Eichsfeld-Erfurt nicht.

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Zuletzt hat sich um das Jahr 2005 – zum 180. Todesjahr von Fürstbischof Lüning – Günther Tiggesbäumker aus Corveyer Perspektive mit dem Lebenswerk von Bischof Lüning ausführlich beschäftigt.

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 Und im Jahre 2011 hatte Arno Wand in seiner Geschichte der katholischen Kirche in Thüringen auf breiter Grundlage der Quellen des Preußischen Geheimen Staatsarchivs Berlin einige Aspekte des bischöflichen Wirkens von Fürstbischof Ferdinand vorgestellt, ohne näher auf den vorherigen Forschungsstand über seine Person einzugehen.

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 Dazu konnten nun sowohl die einschlägigen kirchengeschichtlichen Quellen des Paderborner Erzbistumsarchivs

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 als auch die Erfurter Überlieferung

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 dank der freundlichen Unterstützung des Archivleiters Dr. Michael Matscha herangezogen werden, um zu Ehren des geehrten Erfurter Kollegen Josef Pilvousek erstmals eine Lebensskizze des letzten Erfurter Fürstbischofs Ferdinand von Lüning vorzulegen.







1. Adelige Karriere vom kurkölnischen Juristen zum Münsterer Domherren





Der allgemeine Lebenslauf des späteren Fürstbischofs Ferdinand von Lüning für Corvey und Münster ist in den letzten Jahrzehnten relativ gut erforscht worden. Er begann für Ferdinand Hermann Maria von Lüning zu Niederpleis

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 noch ganz in der Welt der Deutschen Reichskirche am 15. Februar 1755 auf der Burg Horbell, etwa 20 km von Köln entfernt in der Gemeinde Gleuel, heute ein Stadtteil der Gemeinde Hürth im Rhein-Erft-Kreis. Sein Vater war Johann Wilhelm von Lüning zu Niederpleis († Ostwig 1784) und seine Mutter Maria Odila, Geborene von Graugreben-Oberelem († Corvey 1807). Er war das dritte von wahrscheinlich sechs bis sieben Kindern und erhielt unter den damaligen Umständen eine standesgemäße und nach heutigen Maßstäben bestmögliche Erziehung, in der er zunächst das Kölner Drei-Königen-Gymnasium (Tricoronatum) absolvierte. Danach begann er keineswegs direkt mit einer geistlichen Karriere, sondern wurde Page am kurkölnischen Hof in Bonn, wohin seine Mutter gute Kontakte hatte. Nach diesem „standesgemäßem Praktikum“ studierte er Rechtswissenschaften an der 1737 gegründeten evangelischen Universität Göttingen. Anschließend erwarb er die erst juristische Praxis am Reichskammergericht in Wetzlar. Ab dem Jahre 1779 setzte der 24-jährige Jurist auf eine juristische Karriere am Hof des Kölner Kurfürsten Maximilian Franz von Österreich (1784-1801). Hier avancierte er vom Regierungsrat zum Mitglied des Oberappellationsgerichtes des Kölner Kurstaates.



Welche Umstände und Motive den erfolgreichen jungen Juristen dann bewogen haben, als Kleriker in den geistlichen Stand zu treten, ist direkt nicht bekannt, doch ist ein „juristischer Karriere-Stau“ nicht auszuschließen, da es Hinweis gibt, dass sich seine Hoffnungen auf das Präsidentenamt des Oberappellationsgerichtes nicht erfüllt haben sollen. So entschloss sich der 29-jährige, im Jahre 1795 in den geistlichen Stand zu treten, aber zunächst nur in der reichskirchlichen Epoche durchaus üblichen „vorsichtigen Form“. Genauer erhielt er am 23. Juni 1785 in der Hauskapelle des Kölner Weihbischofs Karl Aloys Graf von Königsegg-Aulendorf (1770-1796) dazu nur die Tonsur und nicht einmal die vier niederen Weihen. Und dann dauerte es noch fast sechs Jahre, bis ihm der Kölner Kurfürst Maximilian Franz, der zugleich seit 1784 auch Fürstbischof von Münster war, am 23. März 1791 eine Präbende im hochadeligen Münsterer Domkapitel übertrug, was ihm ein Einkommen auf geistlicher Basis sicherte.

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Für den weiteren geistlichen Aufstieg wurde im 18. Jahrhundert von adeligen Domherren ein „Auslandsstudium“ erwartet. Ferdinand von Lüning leistete dieses akademische „Biennium“ (genauer mindestens ein Jahr und sechs Wochen) in den Jahren 1791/92 in Rom nicht nur zum Vergnügen ab, sondern er hatte als ausgebildeter Jurist von seinem Vetter, dem Corveyer Abt Theodor Freiherr von Brabeck (†1794), einen besonderen Auftrag dazu bekommen. Denn die um das Jahr 815 gegründete Benediktiner-Abtei Corvey hatte bis zur Epoche des Barocks Blüte- und Verfallszeiten erlebt. Nachdem die Reichsabtei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Bedeutungs- und Anziehungskraft verloren hatte, drohte eine vorzeitige Säkularisation. Um als Abtei im Erzbistum Mainz nicht aufgelöst zu werden, gab es nur die Alternative, sich vom Papst in ein Fürstbistum umwandeln zu lassen. Diesen Rettungsweg hat bereits im Jahre 1752 die Abtei Fulda zu einem Fürstbistum erfolgreich eingeschlagen.

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2. Vom „Gründungsmanager“ des Fürstbistums Corvey zum designierten Bischof von Münster





Wie Georg Föllinger im Jahre 1978 in seiner Dissertation „Von der Reichsabtei zum Fürstbistum“ genauer untersucht hat, war es das entscheidende Verdienst von Ferdinand von Lüning bei diesen Verhandlungen in Rom (Juni 1791 bis April 1792), dass er sie in Umwandlungsverhandlungen erfolgreich gestalten konnte. Mit den päpstlichen Urkunden vom 23. April 1792 wurden der Abt zum Bischof, der Prior zum Domdechanten und die übrigen elf Mönche zu Domkapitularen ernannt, denen das Bischofswahlrecht zustand. Daneben sollte es zunächst auch drei Domicellare mit einer Anwartschaft auf eine frei werdende Domherrenstelle geben, die ritterbürtiger Herkunft sein und mindestens die Tonsur empfangen haben mussten. Da für ein Reichsbistum auch eine kaiserliche Konfirmation notwendig war, musste Ferdinand von Lüning nach seinem Biennium auch noch die schwierigen Verhandlungen in Wien weiterführen, die unter dem Einfluss der sich weiter ausbreitenden französischen Revolutionsheere standen. Erst im Januar 1794 war die kaiserliche Bestätigung der vom Papst ausgesprochenen Säkularisation und Erhebung der exemten reichsunmittelbaren Benediktinerabteil Corvey zum Fürstbistum erreicht worden. So konnten dann am 1. Juni 1794 der Abt Theodor von Brabeck im Alter von 59 Jahren zum ersten Corveyer Bischof geweiht und das Domkapitel eingerichtet werden, in dem Ferdinand von Lüning am 20. Februar 1794 gemäß seinem adeligen Stand und wohl auch in Anerkennung seiner Verdienste um die Bistumsgründung eine Dominicellaren-Stelle bekam.

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2.1 Zweiter Corveyer Fürstbischof 1795-1803





Aus Alters- und Gesundheits-Gründen wollte der erste Corveyer Fürstbischof Theodor von Brabeck den erfolgreichen und verwandten jungen Domicellar Ferdinand von Lüning am 16. November 1794 zu seinem Koadjutor wählen lassen. Doch als Fürstbischof Theodor von Brabeck schon am 25. Oktober 1794 verstarb, blieb dem neuen Corveyer Domkapitel vor dem Hintergrund der auf dem linken Rheinufer schon laufenden französischen Säkularisation der vormals deutschen Reichsbistümer (u. a. Köln, Lüttich, Mainz, Trier) am 16. Dezember 1794 nichts anderes übrig, als den 39-jährigen Domicellar Ferdinand von Lüning „per acclamationem“ zum zweiten Corveyer Fürstbischof zu wählen. Als Zeichen der noch bestehenden Reichskirche war bei dieser Fürstbischofswahl ein kaiserlicher Wahlkommissar anwesend gewesen, und es ist zu erinnern, dass der „Electus“ noch nicht einmal die Priesterweihe empfangen hatte. Wie es in der Reichskirche durchaus nicht unüblich gewesen war, erhielt Ferdinand von Lüning die päpstliche Bestätigung am 1. Juni 1795 von Papst Pius VI. (1775-1799), genauer mit der Auflage, die notwendigen niederen und höheren Weihen vor der Einführung nachzuholen.



Damit stand Ferdinand von Lüning im Alter von über 40 Jahren vor dem endgültigen und vollständigen Eintritt in den geistlichen Stand, ohne vorher Theologie studiert oder ein Priesterseminar besucht zu haben. Von dem benachbarten Fürstbischof von Hildesheim und Paderborn, Franz Egon von Fürstenberg († 1825)

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, wurde Ferdinand von Lüning in Hildesheim binnen drei Tagen „hochgeweiht“. In diesem in der Epoche der Reichskirche durchaus auch schon vorher praktizierten Verfahren empfing Ferdinand von Lüning zunächst am 4. August 1795 die vier niederen Weihen (Ostiarier, Exorzist, Lektorat, Akolytat) und die Subdiakonatsweihe (mit der Verpflichtung der Ehelosigkeit). Am 5. August folgte die Diakonatsweihe und am 6. August wurde Ferdinand von Lüning zum Priester geweiht. Danach empfing der Priester Ferdinand von Lüning binnen Monatsfrist am 6. September 1795 im Münsterer Paulus-Dom die Bischofsweihe, die ihm gespendet wurde von seinem „ehemaligen Chef“, dem Kölner Kurfürsten und Erzbischof sowie Münsterer Fürstbischof

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 Maximilian Franz zusammen mit seinem späteren Nachfolger im Bistum Münster, dem dortigen Weihbischof Caspar Max Droste zu Vischering (†1846),

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 der am 1. Juli 1845 sein „Goldenes Bischofsjubiläum“ feiern sollte, was zu einem Aufbruchsereignis im westfälischen Katholizismus vor der März-Revolution 1848 wurde.

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Bis zur rechtsrheinischen Säkularisation der Reichskirche durch den Reichsdeputationshauptschluss vom Jahre 1803 konnte Fürstbischof Ferdinand von Lüning als zweiter Corveyer Bischof zusammen mit seinem Generalvikar Warinus Freiherr von Schade († 1824) gut sieben Jahre das kleine Fürstbistum regieren. Es hatte zwar nur 13 Pfarreien, aber Fürstbischof Lüning ließ ein eigenes Priesterseminar mit zwei Professorenstellen errichten.

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 Ohne weiter auf seine Bistumsverwaltung eingehen zu können,

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 sind aus den nun auch in Westfalen bewegter werdenden Jahren Eckdaten zu nennen, die zeigen, dass Fürstbischof Ferdinand von Lüning die Ereignisse nicht einfach über sich hereinbrechen ließ, sondern ein durchaus kirchenpolitisch handelnder Bischof war. Als der Regensburger Reichstag unter dem Druck Kaiser Napoleons zur Auflösung der Reichskirche zusammengekommen war, meldete Fürstbischof Lüning direkt am 2. Oktober 1802 die Bestandswahrung für das Corveyer Land und sein Fürstbistum an. Denn er wusste, dass nach einem preußisch-französischen Vertrag vom Mai 1802 Corvey als Entschädigungsland dem protestantischen Prinzen Wilhelm (V.) von Nassau-Oranien (1801-1802)

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 zugesprochen worden war. Obwohl der Paragraf 35 des Reichsdeputationshauptschlusses alle Güter der fundierten Stifte der Disposition der Landesherren überwiesen hatte, konnte Fürstbischof Lüning erreichen, dass Corvey als Bistum in voller Funktion und der Bischof im Besitz aller seiner Rechte bleiben konnte. Doch bestand dieses nassau-oranische Land Corvey nur bis zum 31. August 1807. Dann kam Corvey zum französischen Königreich Westfalen unter dem jüngsten Bruder von Kaiser Napoleon, Jérôme Bonaparte, auch „König Lustig“ († 1860) genannt.



Auch in dieser neuen französischen Besatzungszeit konnte Fürstbischof Ferdinand Titel und Pension weiter behalten und führte in realpolitischer Einschätzung seine bischöflichen Amtsgeschäfte zeitweise von der neuen Hauptstadt des Königsreichs in Kassel aus. Dafür ernannte ihn König Jérôme von Westfalen im Jahre 1812 nicht nur zum Großalmosenier der Krone, sondern bezog ihn auch in die Pläne für die Neugestaltung der katholischen Kirchenverhältnisse im Königreich Westfalen ein. Danach sollte für das Königreich Westfalen ein neues Erzbistum errichtet werden aus den Territorien und mit den noch lebenden Domkapitularen der Bistümer Hildesheim und Paderborn sowie Corvey. Mit der Martini-Kirche in Kassel als neuer Domkirche wollte König Jérôme Fürstbischof Lüning zu seinem neuen Erzbischof machen.

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 Dies wäre wohl für Ferdinand von Lüning der Kulminationspunkt seiner geistlichen Karriere geworden und hätte Westfalen einen ersten Erzbischof gebracht. Doch diese französischen Konkordatspläne waren nach der militärischen Niederlage Kaiser Napoleons in Russland im Winter 1812/13 gegenstandslos geworden, und Westfalen kam ab März 1815 an das Königreich Preußen. Der Wiener Kongress 1814/15 brachte zwar eine neue politische Ordnung für Europa, aber nicht die angestrebte kirchliche Neuordnung für Deutschland. Vielmehr ging nun die Regelung der Kirchenverhältnisse in die Zuständigkeit der Einzelstaaten im Deutschen Bund über.







2.2 Verzögerte päpstliche Ernennung zum Bischof von Münster 1815-1821





Vor diesem Hintergrund sind im evangelisch geprägten Königreich Preußen des Weiteren die Umstände zu betrachten, die zur Designation des zweiten Corveyer Fürstbischofs Lüning zum Bischof von Münster führten. Nachdem das säkularisierte Fürstbistum Münster ab dem Jahre 1807 direkt zum Kaiserreich Frankreich gehörte, war dort nach dem französischen Konkordat von 1802 eine neue Kirchenordnung in dem ehemaligen Fürstbistum eingeführt worden. Dazu gehörte ein neues napoleonisch-bürgerliches Domkapitel, in dem alle Mitglieder Priester sein und in Frankreich leben mussten. Damit verlor auch Fürstbischof Lüning als „Ausländer“ sein Kanonikat am Münsterer Dom. Das neue bzw. napoleonische Münsterer Domkapitel, das vom 1. Mai 1813 bis zum 9. Oktober 1815 bestand, umfasste auch nur noch elf Kanoniker und war ohne Bischofswahlrecht.

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 Die von Kaiser Napoleon beanspruchte Ernennung eines neuen Münsterer Bischofs fiel auf den vormaligen Domdechanten des alten Münsterer Domkapitels, Ferdinand August Graf von Spiegel, der nach 1825 dann auch von Preußen bestimmter Erzbischof von Köln werden sollte.

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 Dieser von Kaiser Napoleon für das Bistum Münster ernannte Bischof leistete – wegen der Abwesenheit Napoleons auf Kriegszügen – seinen staatlichen Treueeid in die Hände der Kaiserin Marie-Louise (von Österreich, †1847); aber wegen der andauernden kirchenpolitischen Konflikte zwischen Kaiser Napoleon und Papst Pius VII. erhielt der ernannte Münsterer Bischof Spiegel keine päpstliche Konfirmation. Um ohne päpstliche Bestätigung die Diözesanverwaltung realisieren zu können, wählte das französische Domkapitel in Münster den ernannten Bischof Ferdinand von Spiegel zum zweiten Kapitularvikar.

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 Der seit 1807 amtierende interimistische Bistumsverwalter und Kapitularvikar Clemens August Droste zu Vischering, der in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts dann durch die „Kölner Wirren“ kirchenpolitisch bekannt werden sollte, übertrug bzw. „substituierte“ im August 1812 die Diözesanverwaltung an den ernannten Bischof Spiegel und enthielt sich weiterer Amtshandlungen.



Doch diese vorläufige französische Diözesanverwaltung im Bistum Münster mit Spiegel als (nur) ernanntem Bischof, zweitem Kapitularvikar und substituiertem Verwalter der Diözese war schon ab November 1813 wieder in Frage gestellt, nachdem Westfalen zunächst vorläufig und dann endgültig 1815 an das Königreich Preußen gefallen war. Denn der durch die französische Kirchenpolitik „ausgebootete“ alte Kapitularvikar Clemens August Droste zu Vischering nahm sofort geheimen Kontakt mit dem nach Rom zurückgekehrten Papst Pius VII. auf, um seine interimistische Diözesanverwaltung des Bistums Münsters kirchenrechtlich wieder zu erlangen. Bestärkt durch ein päpstliches Breve begann Clemens August Droste ab März 1815 in Münster mit dem Widerruf seiner Substitution an Spiegel, die Bistumsleitung wieder übernehmen zu wollen. Dabei geriet Clemens August Droste in einen schweren kirchenpolitischen Streit mit dem preußischen Zivilgouverneur und anschließenden Oberpräsidenten, Ludwig Freiherr von Vincke (†1844). Deshalb verhängte Oberpräsident Vincke am 6. Mai 1815 ein „Amtsverbot“ gegen Clemens August Droste „bis zur höheren Ortes nachgesuchten Anerkennung“.

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Während die preußische Regierung in Berlin zögerte, diesen delikaten Konflikt zwischen ihrem westfälischen Oberpräsidenten und dem geheim, aber päpstlich bestätigten Kapitularvikar Clemens August Droste zu entscheiden, wissen wir, dass Ende Juli 1815 bei Oberpräsident Vincke der Plan gereift war, durch eine vom Papst zu erwirkende Bestellung des ihm persönlich bekannten – und anscheinend mit dem kleinen Bistum Corvey nicht ausgelasteten – Fürstbischofs Ferdinand Lüning für das Bistum Münster den von ihm bekämpften Kapitularvikar Clemens August Droste legitim von der Münsterer Diözesa