Kirchliches Leben im Wandel der Zeiten

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Aus der Reihe: Erfurter Theologische Studien #104
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In der Tat scheint sich von diesem Zeitpunkt an das Verhältnis zwischen dem Erzbischof und seinem Sekretär weitestgehend normalisiert zu haben, so dass Huber ein halbes Jahr später nach Rom schreiben konnte: „Das alter alterius onera portate abgerechnet hausen wir gut zusammen. Er liebt wie sein ehemaliger Prinzipal Bischof Petrus Richarz36 v. Augsburg, bei dem er alles war, ein persönliches Regiment in hohem Grade u. deßhalb sind jetzt meine Arbeiten unvergleichlich mehr als unter Erzbischof Gregor, der alles amtliche durch das Ordinariat erledigen ließ. Manches wird im Palais erledigt, was die Domherrn gar nicht oder erst post factum erfahren. Außerdem sind unsere alten Domherrn in jeder Beziehung conservativ; R[everendissi]mus dagegen findet hie u. da etwas bei uns nicht ganz in Ordnung, möchte es deßhalb ändern, begegnet aber bei den alten Herrn Schwierigkeiten u. Widersprüchen. Da ich nun bestrebt bin, das Gute dort zu nehmen, wo ich es finde, u. selbst wenn es von Augsburg käme, das minder Gute aber zu verbessern, so sind wir zwei in manchen Dingen oft ganz gleicher Ansicht, wo es bei den Domherrn Widersprüche gibt. Das verschafft mir sein Vertrauen, aber auch manche Arbeit, u. wenn ich in dieser Beziehung ehrgeizig wäre, so wäre es mir wohl nicht unmöglich, mit der Zeit im Palais ein kleines Generalvicariat zu etabliren. Indeß suum cuique.“37

Wie wichtig, ja allem Anschein nach beinahe unentbehrlich Huber für Steichele schließlich geworden war, zeigte sich Ende 1883, als jener infolge zunehmender gesundheitlicher Probleme einen längeren Kuraufenthalt antreten sollte. „Ich habe sichere Beweise, daß dem R[everendissi]mus meine Abreise sehr unlieb wäre, u. deßhalb käme es mich auch schwer an. Bei d. Kirchweihe in Rosenheim Anfangs Oktober gab es z. B. Champagner, der mir nicht blos gut mundete, sondern auch für meinen ‚Zustand’ sehr zuträglich war. Auf das hin hat er nach der Rückkehr 3 Flaschen spendirt, was viel heißen will. Als ich dann später vom Arzt mich untersuchen ließ, wovon Abreise oder Nicht-Abreise abhing, u. dann meldete, vorläufig brauche ich nicht abzureisen, bekundete er darüber eine so ungekünstelte Freude, daß sie nothwendig vom Herzen kommen mußte. Abgesehen von seinem theilnahmsvollen Benehmen gegen mich hat er auch Andern gegenüber, die es mir wieder erzählten, seither wiederholt die Besorgniß geäußert, ich möchte abreisen müssen. Darum werden Sie es mir nicht verargen, wenn ich mich nur schwer dazu entschließen könnte“, bemerkte Huber anschließend gegenüber Steinhuber38.

In der Folgezeit kam der Erzbischöfliche Sekretär in seinen Briefen an Steinhuber nicht mehr näher auf seinen Oberhirten zu sprechen, sieht man von einigen Äußerungen zu der wiederholt geplanten, letztlich aus diversen Gründen jedoch nicht zustande gekommenen Reise in die Ewige Stadt ab. Möglicherweise hatten sich die beiden nach ihrer konstruktiven, in aller Offenheit geführten Aussprache Ende 1882 derart gut arrangiert, dass sie fortan, bis zu Hubers frühzeitigem Ableben knapp vier Jahre später39, ohne nennenswerte Differenzen und Probleme miteinander auskommen konnten.

Wie dem auch sei, die hier wiedergegebenen, allesamt aus persönlichen Eindrücken, Erfahrungen und Erlebnissen resultierenden Schilderungen seines engsten Mitarbeiters liefern ohne Zweifel wertvolle, bislang so nicht bekannte Aufschlüsse über den vierten Erzbischof von München und Freising.

1 Zu Steichele (1816-1889), von 1847/48 bis 1873 Domkapitular, von 1873 bis 1878 Dompropst in Augsburg, dann Erzbischof von München und Freising: A. Landersdorfer, Antonius von Steichele (1816-1889), in: Weitlauff, M. (Hg.), Lebensbilder aus dem Bistum Augsburg. Vom Mittelalter bis in die neueste Zeit (Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 39), Augsburg 2005, 323-338 (mit Literaturhinweisen).

2 Zu Scherr (1804-1877), von 1840 bis 1856 Abt von Metten, dann Erzbischof von München und Freising: A. Landersdorfer, Gregor von Scherr (1804-1877). Erzbischof von München und Freising in der Zeit des Ersten Vatikanums und des Kulturkampfes, München 1995.

3 Zu Huber: Dr. Johann Baptist Huber (Abriß eines Priesterlebens.), in: Beilage zum Amtsblatt für die Erzdiöcese München und Freising, Nr. 1, 25. Januar 1888, 1-16; Nr. 2, 21. Februar 1888, 17-34; abgedruckt auch in: Licht- und Lebensbilder des Clerus aus der Erzdiöcese München-Freising (1840-1890), zusammengestellt von Ernest Zeller, München 1892, 215-248. – J. Speigl, Die Münchner Germaniker zur Zeit des Vatikanums. Versuch einer Darstellung nach ihren Briefen ins Kolleg, in: Korrespondenzblatt für die Alumnen des Collegium Germanicum et Hungaricum, Mai 1957, 1-24, hier: 5, 18-24. – A. Landersdorfer, Johann Baptist Huber (1842-1886) – vom Mettener Absolventen und Konzilsstenographen zum Erzbischöflichen Sekretär und Domkapitular in München, in: Alt und Jung Metten 78, Heft 1 (2011/12) 64-77.

4 Zur Geschichte des Germanikums: A. Steinhuber, Geschichte des Kollegium Germanikum Hungarikum in Rom, 2 Bde., Freiburg i. Br. 21906; P. Schmidt, Das Collegium Germanicum in Rom und die Germaniker. Zur Funktion eines römischen Ausländerseminars (1552–1914), Tübingen 1984.

5 Zum Römischen Kolleg, heute Päpstliche Universität Gregoriana: G. Martina, Art. Gregoriana, in: LThK 4, Freiburg 31995, 1029f.

6 Grundlegend zum Ersten Vatikanum (1869/70): K. Schatz, Vaticanum I (1869/70), 3 Bde., Paderborn-München-Wien-Zürich 1992-1994.

7 Siehe dazu: K. Hausberger, Auf Konfrontation zur Katholischen Kirche. Der Kulturkampf in Bayern, in: Bonk, S. / Schmid, P. (Hg.), Königreich Bayern. Facetten bayerischer Geschichte 1806-1919, Regensburg 2005, 119-137, hier 128.

8 Zu Steinhuber (1825-1907), geb. in Uttlau (Bistum Passau), von 1867 bis 1880 Besuch des Germanikums, später Kurienkardinal und Präfekt der Indexkongregation: H. H. Schwedt, Prosopographie von Römischer Inquisition und Indexkongregation 1814-1917, L-Z, Paderborn u. a. 2005, 1415-1418.

9 Die Briefe befinden sich im Archiv des Pontificium Collegium Germanicum et Hungaricum in Rom (ACGU Bf. 19, Huber Joh.) und werden vom Verfasser dieses Beitrages demnächst im vollen Wortlaut ediert. – Weitere Schreiben richtete Huber zudem an seinen ehemaligen Spiritual P. Franz Xaver Huber SJ (1801-1871) sowie an seine „Mitbrüder“ in Rom.

10 Siehe dazu: A. Landersdorfer, Gregor von Scherr, 506f, 512f.

11 Zu den wörtlichen Zitaten siehe die Briefe Hubers an Steinhuber vom 7. Januar 1873, 21. November 1877 und 31. Januar 1879. ACGU Bf. 19, Huber Joh. – Sonstige Aussagen Hubers über Scherr finden sich bei A. Landersdorfer, Gregor von Scherr, 506f, 512f.

12 Zu Lutz (1826-1890), von 1869 bis 1890 Minister des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten, von 1880 bis 1890 Vorsitzender im Ministerrat: W. Grasser, Johann Freiherr von Lutz (eine politische Biographie) 1826-1890, München 1967.

13 Dr. Michael Rampf. – Zu Rampf (1825-1901), seit 1864 Domkapitular, von 1874 bis 1889 Generalvikar in München, dann Bischof von Passau: F. X. Bauer, Das Bistum Passau unter Bischof Dr. Michael von Rampf (1889-1901), Passau 1997.

14 Huber an Steinhuber, München, 8. Juli 1878. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

15 Huber an Steinhuber, München, 27. November 1878. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

16 Generalien-Sammlung der Erzdiöcese München und Freising, IV: Die oberhirtlichen Verordnungen und allgemeinen Erlasse vom 16. September 1878 bis 10. März 1890, München 1890, 5-11, hier 10.

17 Huber an Steinhuber, München, 14. Februar 1879. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

18 Huber an Steinhuber, München, 31. Januar 1879. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

19 Huber an Steinhuber, München, 2. Juni 1880. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

20 Huber an Steinhuber, München, 31. Januar 1879. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

21 Zu Gaetano Aloisi Masella (1826-1902), von 1877 bis 1879 Nuntius in München: H. H. Schwedt, Prosopographie von Römischer Inquisition und Indexkongregation 1814-1917, A-K, Paderborn u. a. 2005, 31-33.

 

22 Huber an Steinhuber, München, 4. Juni 1879. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

23 Zu Jakob von Türk (1826-1912), Dr. theol., 1852 Priesterweihe, seit 1863 Kanoniker bei St. Kajetan/München, 1883 Dekan, 1890 Propst: H.-J. Nesner, Das Erzbistum München und Freising zur Zeit des Erzbischofs und Kardinals Franziskus von Bettinger (1909-1917), St. Ottilien 1987, 224f.

24 Das Bisthum Augsburg, historisch und statistisch beschrieben, Bde. II-IV, Augsburg 1864-1883.

25 Huber an Steinhuber, München, 20. Juni 1879. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

26 Siehe Anm. 13.

27 Huber an Steinhuber, München, 1. September 1879. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

28 Huber an Steinhuber, München, 20. Juni 1879. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

29 Huber an Steinhuber, München, 1. September 1879. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

30 Huber an Steinhuber, München, 16. Februar 1880. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

31 Ab dem Jahre 1880. Generalien-Sammlung der Erzdiöcese München und Freising, IV, München 1890, 63.

32 Huber an Steinhuber, München, 16. Februar 1880. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

33 Ebd.

34 Huber an Steinhuber, München, 18. Mai 1881. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

35 Zum Folgenden: Huber an Steinhuber, München, 13. Januar 1883. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

36 Zu Johann Peter von Richarz (1783-1855), 1835/36 Bischof von Speyer, von 1836 bis 1855 Bischof von Augsburg: P. Rummel, Richarz, Johann Peter von, in: Gatz, E. (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, 614f.

37 Huber an Steinhuber, München, 5. August 1883. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

38 Huber an Steinhuber, München, 20. Dezember 1883. ACGU Bf. 19, Huber Joh.

39 Huber starb am 16. Oktober 1886 im Alter von lediglich 44 Jahren an „Lungenschwindsucht“ und wurde in der Gruft des Metropolitankapitels auf dem Südlichen Friedhof zu München beigesetzt.

Ernst von Weizsäcker. „Getarnter“ Widerstand, organisierte Unschuld und verspielte Glaubwürdigkeit
Karl-Joseph Hummel

Die unmittelbare Nachkriegszeit nach 1945 war primär eine Zeit der Fragen, nicht in erster Linie eine Zeit für Antworten. Viele Menschen standen orientierungslos vor dem „Gericht der Geschichte“1. Welche Maßstäbe galten für ethisches Handeln in einer Diktatur? Wer war zuständig für Verantwortung und Schuld, wie ließ sich Schuld grundsätzlich feststellen, wer befand über die unendlichen Abstufungen?

Hannah Arendt hatte 1944 in ihrem weltweit beachteten Essay „Organisierte Schuld“ die Schwierigkeit beschrieben, in einer totalitären Diktatur zwischen Anhängern und Gegnern zu unterscheiden: „Ob jemand in Deutschland ein Nazi oder ein Antinazi ist, wird nur noch der ergründen können, der in das menschliche Herz, in das bekanntlich kein menschliches Auge dringt, zu blicken vermag. Die Laufbahn eines Organisators einer Untergrundbewegung, die es natürlich auch in Deutschland gibt, würde ein sofortiges Ende nehmen, wenn er sich nicht in Wort und Tat wie ein Nazi gebärden würde.“2 Friedrich Lütge kam in einem 1945 für die amerikanischen Besatzungsbehörden erstellten Gutachten zu einem ähnlichen Ergebnis.3

Ernst von Weizsäcker, bis zum 8. Mai 1945 Botschafter des Deutschen Reiches beim Heiligen Stuhl und danach bis zu seiner Ausreise nach Deutschland im August 1946 Asylant im Vatikan, vertrat gegenüber P. Robert Leiber SJ, dem persönlichen Sekretär Papst Pius’ XII., den Standpunkt: „Sowohl der Emigrant als auch derjenige, der sich jeder Beteiligung an der Regierung unter einer Diktatur enthält, beraubt sich selbst aller Möglichkeiten, die Diktatur wirkungsvoll zu bekämpfen. … Ohne ein bestimmtes Maß des Mitwirkens gibt es keinen wirksamen Widerstand. Widerstand durch scheinbare Mitarbeit ist letzten Endes die tragische Aufgabe qualifizierter Menschen in der Diktatur.“4

Der Kirchenhistoriker Hubert Jedin gibt von Weizsäcker Recht: „Ich habe zwei Jahre hindurch viel mit ihm verkehrt und das ganze Problem der Kooperation mit ihm durchgesprochen. … wenn er heute sagt, dass sein Gewissen rein ist, so sagt er die Wahrheit.“5

In seinen letzten Arbeitstagen als Botschafter des Deutschen Reiches hat Ernst von Weizsäcker am 6. Mai 1945 im Vatikan in einer bisher unveröffentlichten Rede vor dort internierten deutschen Wehrmachtsangehörigen angemerkt: „Kurzum, man werde dahin kommen, einzusehen, daß es Zeitgenossen versagt ist, in der Schuldfrage einem Mann oder einem Umstand die Schuld an dem heutigen Unglück beizumessen. Dieses soll aber nicht bedeuten, daß etwa überhaupt von keiner Schuld gesprochen werden kann. Die Vorsehung gibt dem menschlichen Handeln hinreichend Spielraum, innerhalb dessen verantwortlich gehandelt werden muß; da gibt es verantwortungsbewußte und verantwortungslose, ernste und spielerische, sachverständige und dilettantische Politiker. In diesem Sinne kann und muß durchaus von schuldig gesprochen werden. Wer mich nun aber fragt, wen ich damit meine, den muß ich enttäuschen. Ich habe hierüber sehr bestimmte Ansichten, spreche sie aber nicht aus.“6

Als der Diplomat später erfuhr, dass er vor dem Nürnberger Militärtribunal7 nicht nur als Zeuge vernommen, sondern selbst als „Hauptschuldiger“ des Dritten Reiches angeklagt werden sollte, hat er in einer Gedankenskizze8 seine konkreten Verhaltensalternativen einander gegenübergestellt: Für den „dissentierenden Beamten, der sein Vaterland liebte und nicht in fruchtlose Passivität versinken wollte, blieb nur die Wahl zwischen zwei Extremen“9: Sabotage oder Tyrannenmord.

Von Weizsäcker, vor seiner Zeit als Botschafter von 1938 bis 1943 Staatssekretär im Auswärtigen Amt, sah sich selbst als konsequenten Vertreter der Traditionen des Auswärtigen Amtes, für die man sich nicht schämen müsse. Dennoch ließ ihn die Frage nicht los: „Hatte ich also doch die falsche Wahl getroffen, indem ich 1933 und auch noch 1938 im Dienst verblieb?“10 „Ich war in meine Stellung gekommen, nicht weil ich mit der Partei verbunden gewesen wäre, sondern obwohl ich mit ihr bis dahin nichts zu tun hatte.“11 Aber: „Wenn Ribbentrop und Führer mich haben wollen, so folge ich als Soldat.“12 „Ich diente ja aber gar nicht Hitler. Ich diente einer Idee. Und die war bekanntlich der Friede.“13

Ernst von Weizsäcker ging zwar davon aus, dass er mit seinem von ihm nicht sehr geschätzten Vorgesetzten, Außenminister Joachim Ribbentrop, keine vertiefte politische Abstimmung erreichen könne, glaubte aber gerade deswegen an die Möglichkeit, ihn so beeinflussen zu können, dass „die Aufgabe – wohl die einzige, um derentwillen ich dieses Kreuz auf mich nehme“, – lösbar wäre: „die Verhinderung eines Krieges, welcher nicht nur das Ende des III. Reichs, sondern Finis Germaniae wäre.“14

„Frieden bewahren ist immer wichtig – dafür kämpfen auch; mit welchen Mitteln auch immer. Schwieriger mag dem Außenstehenden erscheinen mein Verbleib nach Kriegsausbruch. … Was war das Ziel? Frieden so bald als möglich und, da dieser Friede mit Hitler nicht zu haben war, Friede ohne ihn. Dazu aber Bewahrung des deutschen Potentials, denn mit einem niedergeworfenen Deutschland würde mit oder ohne Hitler überhaupt kein Gegner Frieden schließen. … Die eigene Niederlage wünschen, den Gegner ins Land holen, um Hitler loszuwerden, die Katastrophe herbeiführen, das wäre nicht einfacher Vaterlandsverrat gewesen, sondern Verrat an Europa. Darum also Verbleib im Amt.“15

Der entscheidende Punkt für ein gerechtes Urteil in diesem Dilemma des moralisch richtigen Verhaltens in einer Diktatur ist nicht die Frage, ob der Widerstand erfolgreich ist oder nicht. Die entscheidende Frage ist die nach den Grenzen der notwendigen Tarnung und denen des doppelten Spiels. Ernst von Weizsäcker war sich für seine Person sicher, dass solche orientierenden Leitlinien existieren: „Eine Grenze gibt es, jenseits deren auch der gute Wille die Tat nicht rechtfertigt. Sie liegt da, wo der Eingriff bewusst Menschenleben opfern würde. Ich weiß, dass ich diese Grenze nicht überschritten habe.“16 Das Nürnberger Militärgericht, vor dem er sich verantworten musste, stellte sich auf den Standpunkt, auch die Absicht Schlimmeres zu verhüten, rechtfertige keine strafbaren Handlungen. „Man darf die Begehung eines Mordes nicht gutheißen oder dabei mitwirken, weil man hofft, man könne auf diese Weise die Gesellschaft am Ende von dem Hauptmörder befreien.“17 Die Wochenzeitung „Die Zeit“ hielt es angesichts seiner Verurteilung zu sieben Jahren Haft am 14. April 1949 für „widersinnig, dass dieser Mann des Verbrechens gegen den Frieden, den er liebte wie kaum ein anderer, und gegen die Menschlichkeit, die er besaß wie kaum ein anderer, schuldig befunden worden ist.“18

Der Preis der Tarnung

Ein Staatssekretär im Auswärtigen Amt 1938 ohne Parteibuch war schwer vorstellbar. Also trat Ernst von Weizsäcker am 1. April 1938 – fünf Jahre nachdem seine Frau Marianne19 Parteimitglied Nr. 3.762.85420 geworden war – „aus Schönheitsgründen“21 in die NSDAP (Mitglied Nr. 4.814.617) ein. Wenige Tage später wurde er rückwirkend zum 19. März 1938 zum Staatssekretär ernannt. Am 23. April 1938 unterzeichnete der neue oberste Beamte im Auswärtigen Amt einen Aufnahmeschein in die SS, im Mai wurde er im Ehrenrang eines Oberführers dem persönlichen Stab des Reichsführers SS zugeteilt. Im Januar 1942 erfolgte die Beförderung zum Brigadeführer, im September 1942 wurde ihm von Himmler der Totenkopf-Ehrenring verliehen.

Sah so „Widerstand durch scheinbare Mitarbeit“ aus? Ernst von Weizsäcker betrachtete die Abzeichen und Uniformen als „notwendige Begleiterscheinung im Kampf um ein echtes Ziel, das Opfer rechtfertigte.“22 Den Antrag Ribbentrops habe Hitler persönlich genehmigt. „Es verstand sich, dass ich die beiden Ernennungen nicht ablehnen konnte, ohne meine selbstgewählte Aufgabe alsbald wieder preiszugeben.“23

 

Ausgerechnet dem General der Waffen-SS Karl Wolff, dem 1943/44 höchsten Polizeiführer in Italien, kam es zu, von Weizsäcker an diesem Punkt in Schutz zu nehmen: Die Verleihung des Ehrenrangs und seine Beförderung sei, so Wolff, ohne seine (i.e. Weizsäckers) Initiative geschehen, die Verleihung des Totenkopfrings habe „keineswegs eine besondere Ehrung“ bedeutet, von Weizsäcker habe sich „niemals seinem Rang entsprechend in der SS betätigt“ und als Staatssekretär tatsächlich keine Möglichkeit gehabt, die Ehrungen zurückzuweisen oder aus der SS auszutreten.24

Margret Boveri zeigte Verständnis: „Es ist klar, dass einem Mann, der so dachte, die verliehene Partei- und SS-Mitgliedschaft Nebensächlichkeiten waren angesichts der Sorge um die Entwicklung im Großen.“25 Theodor Eschenburg ging sogar noch einen Schritt weiter: „So war die Verleihung dieses hohen Ranges zu einem Staatsakt geworden. Die Ablehnung einer solchen Diktatorgnade wäre eindeutig Frevel gewesen.“26 „Für Weizsäcker waren Abzeichen und Uniform Verkleidungsstücke und der Eid Tarnung. Das gehört zu einem, der Hochverrat gegen eine totalitäre Diktatur betreibt.“27

Von Berlin nach Rom

Weizsäcker hatte Außenminister Ribbentrop bereits im Frühjahr 1940 und im Herbst 1941 sein Interesse signalisiert, der nächste deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl zu werden. Das Revirement hatte sich aus verschiedenen Gründen28 mehrfach verzögert. Erst im Frühjahr 1943 ergab sich die Gelegenheit, Nachfolger des in Rom angesehenen Diego von Bergen (1872–1944) zu werden, der seit 1919 diplomatischer Vertreter beim Heiligen Stuhl war. „Ich glaubte“, so von Weizsäcker, „wenn überhaupt, so noch im oder durch den Vatikan etwas für den Frieden tun zu können. An der Berliner Zentrale war mir das nicht mehr möglich.“29 „Im Vatikan, so hoffte ich, würde ich nach eigenem Geschmack und eigenem Gewissen handeln und mich im wesentlichen als Vertreter desjenigen Deutschland fühlen können, auf das es mir ankam und das nicht aufgehört hatte zu existieren.“30 „Als ich Berlin im Frühjahr 1943 verließ, da rechnete ich nur bei wenigen Vertrauten auf wirkliches Verständnis für meine Arbeit. Warum ich bei völligem innerem Widerspruch gegen die herrschenden Menschen, Maximen, Methoden und Motive meinen Namen zu einer fast aussichtslosen Arbeit hergegeben hatte, das musste ich mit mir allein abmachen.“31

„Ich betrachtete die Politik als die Kunst des Möglichen. Verlangt aber wurde von mir die Kunst des Unmöglichen. … Ob ich jeweils an die Grenze des Möglichen, d.h. meiner Wirkungsmöglichkeit gegangen bin, das kann nur ich selbst beurteilen.“32 „Ich gebe nicht zu, sondern bestreite auf das heftigste als missverstanden, um nicht zu sagen als Dünkel, die Behauptung, die von mir in diesem Sinn getroffene Entscheidung sei eine zu beanstandende, eine falsche gewesen.“33

Aus Tradition ein Protestant

Ernst von Weizsäcker, ein „Mann wie aus dem Bilderbuch der alten protestantischnationalen Führungsschicht“34, war als Botschafter beim Heiligen Stuhl keine schlechte Wahl. Bis 1956 wurde dieser Posten grundsätzlich mit einem Protestanten besetzt35, aber nicht jeder Protestant im Auswärtigen Amt hätte die Mischung aus Nähe und Distanz zur katholischen Kirche und ihren römischen Vertretern und die persönliche Vertrautheit mit dem Christentum mitgebracht, die notwendig sind, wenn man sich in kurzer Zeit in den ungewohnten Konstellationen des Vatikans zurechtfinden muss. „Als fremder Diplomat brauchte man wohl zwei bis drei Jahre, um in das innere Getriebe der römischen Kurie einigermaßen einzudringen.“36 Aus der Sicht des Amtes war von Weizsäcker aber auch ein erfahrener Diplomat, der elegante Begründungen für außenpolitische Positionen liefern konnte, mit denen seine kurialen Gegenüber selbst dann leben konnten, wenn sie wussten, dass die eigentliche Begründung völlig anders lauten müsste.

Ein gutes Beispiel dafür liefert der Staatsbesuch Adolf Hitlers in Rom im Mai 1938, bei dem es aus der Sicht des Auswärtigen Amtes zu keiner persönlichen Begegnung des Führers mit Papst Pius XI. kommen sollte. Von Weizsäcker hatte klar vorgegeben: „Ein solcher Besuch kommt natürlich nicht in Frage.“37 Die erste Begründung, der Führer folge einer Einladung des Königs von Italien und habe keine Veranlassung, bei dieser Gelegenheit andere Souveräne zu besuchen, war freilich wenig überzeugend. Der nächste Vorschlag, auf eine bisher nicht ergangene Einladung hinzuweisen, hätte das Risiko mit sich gebracht, „dass der Vatikan eine solche alsdann aussprechen würde.“38 Tatsächlich war dieses Risiko minimal, weil der Vatikan grundsätzlich auf ein Ansuchen für eine Audienz wartet und von sich aus keine Einladungen ausspricht. Schließlich informierte von Weizsäcker Botschafter von Bergen, der Führer erwidere den Besuch des Duce vom vergangenen Jahr und beanspruche deshalb einen Sondercharakter, der bei früheren Romreisen von Staatsoberhäuptern so nicht gegeben war. Dieser Staatsbesuch in Italien sei deshalb auch ohne Audienz beim Hl. Vater denkbar.39

Zweites Beispiel: Papstwahl 1939. Als Reaktion auf die Wahl von Eugenio Pacelli zu Papst Pius XII. schlug das Auswärtige Amt am 2. März 1939 vor, die diplomatischen Glückwünsche „korrekt, aber angesichts der bekannten Einstellung des früheren Kardinals Pacelli zu Deutschland und der nationalsozialistischen Bewegung nicht besonders warm zu halten.“40 Botschafter von Bergen wurde beauftragt, die Glückwünsche im Namen des Führers mündlich – an den stellvertretenden Staatssekretär Tardini – zu überbringen. Das Schreiben Hitlers an Papst Pius XII. vom 29. April 1939 beantwortete lediglich das vorhergehende Schreiben des Papstes vom 6. März 1939 an den „Hochzuehrenden Herrn Adolf Hitler Führer und Kanzler des Deutschen Reiches“, in dem Papst Pius XII. versichert hatte, er bleibe dem deutschen Volk „in innigem Wohlwollen zugetan“ und erflehe ihm jenes wahre Glück, „dem aus der Religion Nahrung und Kraft erwachsen.“41

Im dritten Beispiel geht es um die Entscheidung Hitlers, diplomatische Beziehungen zum Vatikan nur mehr für das Reichsgebiet in den Grenzen des Jahres 1933 zu unterhalten.42 In dem monatelangen Streit stand zur Diskussion, ob die Kurie ausschließlich für die Gebiete zuständig sei, die 1933 bereits zum Deutschen Reich gehört hatten, oder auch für die Gebiete, die später z.B. durch den Anschluss Österreichs oder die Eroberungen des Weltkriegs dazugekommen waren. Weizsäcker positionierte sich zunächst auf der Seite der katholischen Kirche, konnte sich intern aber gegen die „Mächte des Hauptquartiers“ nicht durchsetzen. Hitler hatte die diplomatischen Beziehungen Deutschlands zum Vatikan bei einem Abendessen am 4. Juli 1942 selbst thematisiert und war zu diesem Zeitpunkt „durchaus nicht der Meinung“, dass „wir“ nach der Pensionierung von Bergens „eine Neubesetzung dieses Botschafterpostens ins Auge fassen müssten.“ Das Auswärtige Amt habe sich in seinem ständigen Drang nach neuen Kompetenzen von dem päpstlichen Legaten übertölpeln lassen. „Nun möge es sehen, wie es aus der Sache wieder herauskomme.“ Der Nuntius könne nach dem Krieg „getrost nach Rom zurückkehren, und wir sparten uns die Unkosten für eine Vertretung am Vatikan. Nur das Auswärtige Amt werde sicher dem verlorengegangenen Botschafterposten nachweinen.“43

Danach, so Weizsäcker, „blieb uns, d.h. dem Nuntius und mir, nichts anderes übrig, als die getroffene Entscheidung offiziell zu beachten, in Wirklichkeit sie gemeinsam nach Kräften zu umgehen.“ „Nach den Entscheidungen des Führers unterhält Deutschland in Zukunft Beziehungen mit der Kurie nur für das Altreich. Wenn also der Vatikan oder der Nuntius in Berlin an das Auswärtige Amt mit Fragen herantreten, die andere Gebiete der deutschen Machtsphäre betreffen, so wird das Auswärtige Amt jede Erörterung hierüber ablehnen.“44 Von Ribbentrop hat diese Linie am 16. März 1943 in einem Schreiben an den Staatssekretär Weizsäcker noch einmal bekräftigt.45 In der Frage der Gültigkeit des Reichskonkordats vertrat von Weizsäcker gegenüber Nuntius Orsenigo entsprechend konsequent die offizielle Linie der strikten Beschränkung auf das Altreich und erklärte sich bei allen anderen Anliegen als für „nicht zuständig.“46

Botschafter beim Heiligen Stuhl 23. Juni 1943 – 13. Juli 1944

Der Personalwechsel an der Vatikan-Botschaft 1943 verlief alles andere als optimal47; das bewährte Duo Diego von Bergen und Fritz Menshausen48 fühlte sich von Weizsäcker und dessen langjährigen Mitarbeiter Albrecht von Kessel ohne Not vorzeitig aus dem Amt gedrängt49 und zeigte sich entsprechend zugeknöpft. „Statt zu erkennen, dass wir die Fackel einer humanitären Tradition gern aus ihren Händen entgegengenommen hätten, warfen sie sie empört in den Staub, aus dem Weizsäcker sie allerdings mühelos aufhob und neu entzündete.“50 Wie auch immer, die Konsequenz war, dass von Weizsäcker sich sein römisches Informationsnetz selbst knüpfen musste.

Seine ersten Eindrücke waren wenig schmeichelhaft: „Mir kommt das heilige Kollegium, soviel ich davon jetzt sehe, wie ein sehr konservatives und personell überaltertes Ministerium vor, das sich in seiner Burg verschanzt und verteidigt, und nicht viel mehr.“51 „Wer im Vatikan etwas weiß, der sagt es nicht, und wer etwas sagt, der weiß nichts.“52 „An keinem Auslandsposten hatte ich bisher so wenig Sicherheit vor Überraschungen wie hier in Rom. … Im Vatikan gibt es nur sehr wenig Orientierte und eine strenge Schweigeregel. … Man muß hier also sehr scharf hinhören.“53

Bereits im April akkreditiert54, traf von Weizsäcker erst am 23. Juni 1943 mit Verspätung in der Villa Napoleone, Via Piave Nr. 23, der deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl, ein.55 Weizsäckers offizielle Antrittsrede56 gehört zu den „ungehaltenen“ Reden der Diplomatiegeschichte. In dem redaktionellen Berliner Abstimmungsprozess hatten Hitler und Ribbentrop wiederholt inhaltlich an wesentlichen Stellen eingegriffen, so dass Weizsäcker schließlich mit einem „Monstrum von Rede“ in Rom eintraf, in der er seine eigene Linie nicht mehr wiederfand. Der Botschafter hat seine Rede in der 30 Minuten dauernden Audienz am 5. Juli 1943 dann auch gar nicht vorgetragen, sondern mit wenigen protokollarischen Sätzen lediglich zu den Akten gegeben.

Die persönliche Einstellung und die Erwartungen von Weizsäckers blieben dabei im Dunkeln. Im offiziellen Redetext beschwor er die gemeinsamen Interessen Berlins und des Vatikans gegen den Bolschewismus und „unterstellte dem Papst eine fast selbstverständliche und positive Nähe zu den behaupteten Zielen des Krieges im Osten.“57 In einem Telegramm an das Auswärtige Amt meldete Weizsäcker nach Berlin, was man dort hören wollte: Er habe bei seiner Antrittsaudienz Gelegenheit gehabt, den deutschen Einsatz gegen den Bolschewismus gebührend hervorzuheben. Der Papst habe das Gespräch ohne „sichtbare Leidenschaft, aber mit einem Unterton von geistlichem Eifer geführt, der nur bei der Behandlung der Bolschewistenbekämpfung in eine Anerkennung gemeinsamer Interessen mit dem Reich überging.“58 Nach zwei Monaten glaubte Weizsäcker entdeckt zu haben, der Vatikan sei in Sorge, „dass die Aufgabe der Verteidigung Europas über die deutsche Kraft gehe und dass diese Defensive nicht ausreiche, … um die bolschewistische Gefahr zu bannen.“59 Im September 1943 berichtete der Botschafter, Kardinalstaatssekretär Maglione habe gegenüber der italienischen Regierung deutlich gemacht, das Schicksal Europas hänge von dem siegreichen Widerstand Deutschlands an der russischen Front ab. Das deutsche Heer sei das einzig mögliche Bollwerk („baluardo“) gegen den Bolschewismus.60

Von seinem Wechsel aus Berlin nach Rom, vom Zentrum der Weltpolitik in ein ruhigeres Randgebiet, hatte sich von Weizsäcker eine Stärkung seiner Einwirkungsmöglichkeiten auf einen akzeptablen Friedensschluss erhofft. Ulrich von Hassell, der am 2. Februar 1938 als Quirinal-Botschafter in Rom entlassen worden war, weil Goebbels die Parole ausgegeben hatte: „Ein richtiger Nazi muss nach Rom“61, notierte sich am 20. April 1943 in seinem Tagebuch skeptisch: „Weizsäcker hat am Vatikan einen Posten, der sehr wichtig sein könnte, aber es unter diesem Regime nicht ist. Es ist die übliche falsche Etikette für die Nazis.“62

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