Kirchliches Leben im Wandel der Zeiten

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Aus der Reihe: Erfurter Theologische Studien #104
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Priester und Priesterbildung

Mit einer gewissen Befriedigung konnte Keppler auch auf den Klerus des Bistums blicken. Nachwuchsmangel herrschte nicht: „Da in allen Teilen der Diözese der Zugang zu den höheren Studien leicht offensteht, steht immer die nötige Anzahl von gesitteten Knaben zur Verfügung, die zum Priestertum der heiligen Kirche hinstreben können.“33 Auffällig in seinem Bericht nach Rom ist, wie Keppler einerseits die Rottenburger Tradition der Priesterbildung bejaht, andererseits aber immer fest das römische Anforderungsprofil mit dem Ideal „Tridentinisches Seminar“ im Auge hat.34 Im Bereich der Knabenseminare konnte Keppler auf das Bischöfliche Knabenseminar (Martinushaus) in Rottenburg und das Seminar in Mergentheim verweisen. Daneben bestanden in Ehingen (Josephinum) und Ellwangen (Borromäum) private, von Priestern geleitete Gymnasialkonvikte. Hinzu kamen Lateinschulen in anderen Städten, welche die Schüler ebenfalls auf das sogenannte Landexamen vorbereiteten, das mit 14 Jahren als landesweiter Konkurs durchgeführt wurde und den Weg zu den niederen Konvikten in Ehingen und Rottweil ebnete. Jedes Konvikt hatte ca. 80 Alumnen im Alter von 14 bis 18 Jahren, die zwar am örtlichen öffentlichen Gymnasium studierten, wo aber auch geistliche Studienräte unterrichteten. Laudes und Vesper im Oratorium, tägliche Heilige Messe sowie gemeinsamer Sakramentenempfang gewährleisteten nach Kepplers Ansicht das „tridentinische“ Profil. Ähnliches galt für das Wilhelmsstift, in das man nach einem weiteren rigorosen Examen gelangen konnte. Auch dort gebe es täglich gemeinsames Stundengebet und Heilige Messe, jährliche Exerzitien, eine samstägliche Exhorte und die Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst in der Pfarrkirche (St. Johannes). Im Hinblick auf das römische Ideal der weltfernen Priesterbildung bat Keppler um Verständnis dafür, dass den Konviktoren Ausgang erlaubt werden müsse, denn das Haus sei eng. Auch die Vorlesungen könnten leider nicht alle im Haus stattfinden.

Mit hymnischen Worten pries Keppler sodann die Tübinger Fakultät: Diese habe von Anfang an die theologische Wissenschaft zur Spitze der Vollkommenheit bringen wollen. Überall auf der Welt würden noch die Namen von Möhler, Hefele und Kuhn gefeiert, die Theologische Quartalschrift werde von allen Theologen in hohen Ehren gehalten. Obwohl sie sich an einem schwierigen Ort befinde, habe sie doch immer die Rechte der Kirche verteidigt und sei auch dem Apostolischen Stuhl immer treu anhänglich gewesen, auch wenn es in der Vergangenheit bei manchen und bei manchen Aussagen an der klugen Zurückhaltung gemangelt habe. Keppler, der wie kein anderer Rottenburger Bischof seinem Stolz auf das Wilhelmsstift und die Fakultät Ausdruck zu verleihen vermochte,35 umschiffte also die Krise des I. Vaticanums und die nachfolgende Sterilisierung der Fakultät mit sehr großzügigen Worten. Dies war angesichts des Misstrauens, das auch noch um 1900 in Rom gegenüber den theologischen Universitätsfakultäten, und speziell gegenüber Tübingen, bestand, nicht erstaunlich.36 Eine differenzierte Wahrnehmung offenbart denn auch Kepplers Würdigung der jüngst verstorbenen Professoren der Fakultät: Dem Apologeten Paul von Schanz (1841-1905), der durchaus eine gewisse Offenheit für moderne Fragestellungen an den Tag legen konnte,37 bescheinigte Keppler ein sentire cum ecclesia. Auf Schanz’ Rat hatte er sich ganz gestützt, als 1899 und 1901 in Rom Denunziationen gegen Tübingen gelaufen waren.38 An dem Alttestamentler Paul Vetter (1850-1906) pries Keppler die Gelehrsamkeit, während der kritische Kirchenhistoriker Franz Xaver Funk (1840-1907), dessen Name noch heute eine Rolle in der Wissenschaft spielt,39 eine sehr nüchterne Würdigung erfuhr: Funk habe sich zwar durch die Integrität seines Charakters ausgezeichnet, habe aber durch seine freiere Denkungsart dem Bischof nicht wenig Sorge bereitet. In den letzten Jahren habe er sich aber zurückgehalten. In seinen Vorlesungen habe er den Hörern freilich weder geschadet noch genutzt. Er vermochte es nicht, sie zur Liebe zur Heiligen Kirche und zum Priestertum zu entflammen.40 – Tatsächlich war Funk am Ende seines Lebens verbittert über die Verdächtigungen, denen er von römischer Seite ausgesetzt gewesen war. Das Verbot der italienischen Übersetzung seines bekannten Lehrbuchs der Kirchengeschichte durch die Konsistorialkongregation (1912) musste er nicht mehr erleben. Seine Beurteilung durch Keppler zeigt, dass dem Bischof letztlich eine eng verstandene Kirchlichkeit vor Wissenschaftlichkeit ging. Mit der Fakultät, wie sie sich 1907 darstellte, war Keppler aber sehr zufrieden: Der Neutestamentler Johannes (von) Belser (1850-1916), der Kanonist Johannes Baptist Sägmüller (1860-1942)41, der Dogmatiker Wilhelm Koch (1874-1955), der patristische und scholastische Philosoph Ludwig Baur (1871-1943), den Keppler 1903 gegen den Funk-Schüler Hugo Koch (1869-1940)42 durchgesetzt hatte,43 und der Alttestamentler Paul Rießler (1865-1935) – sie alle seien kirchlich und gut sowie weit entfernt von jedem Verdacht auf Liberalismus und Neologismus; von den böswilligen Protestanten werden sie mit dem Prädikat des „Ulramontanismus“ geehrt und verachtet. Nur der Moraltheologe Anton Koch (1859-1915) – ein Schüler Linsenmanns, der mit Funk zusammen die „liberale Partei“ in der Fakultät gebildet hatte – habe einen gewissen Verdacht des Laxismus und Liberalismus auf sich gezogen, weniger wegen seiner Lehre als wegen seines Lebenswandels. Außerdem sei er früher mit den bayerischen Reformkatholiken verbunden gewesen; doch habe er sich in den letzten Jahren gebessert.44 Keppler konnte damit in Rom eine strengkirchlich durchsanierte Tübinger Fakultät präsentieren; die späteren Konflikte um Wilhelm Koch waren noch nicht abzusehen.45

Im Blick auf das Priesterseminar in Rottenburg, das unter Regens Benedikt Rieg (1858-1941), dem Schüler, Freund und Nachfolger Stiegeles, ohnehin ganz im strengkirchlichen Sinne geprägt war, brauchte Keppler nicht viel zu sagen. Die Seminarausbildung dauere aber leider nur ein Jahr (nicht zwei, wie von Rom vorgesehen), weil die Regierung nicht mehr bezahle. Bei diesem Punkt sowie in der Ordensfrage regte der römische Rezess dann auch an, Keppler solle vorsichtig versuchen, eine Änderung zu erreichen.46 Mit einer gewissen Befriedigung konnte Keppler vermerken, dass sich außerhalb von Tübingen mit seinen 150 Wilhelmsstiftlern und einigen zusätzlichen Stadtstudenten und Rottenburg mit den 30 Alumnen des Seminars keine Priesteramtskandidaten für den Dienst im Bistum vorbereiteten. Nicht im Blick hatte Keppler dabei die große Zahl von Rottenburgern, die in andere Diözesen, vor allem nach Augsburg, ausliefen – vielleicht weil sie die Entbehrungen und Anforderungen einer württembergischen Konviktslaufbahn scheuten. Zeitweise stammte ein Drittel des Augsburger Klerus aus Rottenburg.47

Mit seinem Klerus war Keppler auch sonst zufrieden. Außerhalb der Kirche, der kirchlichen Funktionen und Schule werde keine Soutane, sondern ein angemessener schwarzer Anzug getragen, wobei es keine Skandale oder Redereien gebe. Lobend hob Keppler auch die Fortbildung des Klerus bei den (aus der Zeit der Wessenberg’schen Pastoralreform herkommenden) Kapitelskonferenzen hervor, zu denen sich der Klerus des Dekanats zwei Mal im Jahr traf. Im Vorfeld stellten die Dekane Themen aus der Dogmatik, Moraltheologie, Liturgiewissenschaft, Pastoraltheologie, dem Kirchenrecht und der Exegese, die von den Pfarrern, Kaplänen und Vikaren schriftlich zu bearbeiten seien und auf der Konferenz dann diskutiert würden. Die Akten gingen dann an das Ordinariat, das die Autoren entsprechend lobe oder tadele. Daneben verwies Keppler auf die freien Kapitelskonferenzen, auf denen aktuelle pastorale Themen besprochen werden konnten. Eine richtige Synode sei seit Beginn der Diözese nie gehalten worden; aber Keppler habe stattdessen die zweijährlich stattfindende Dekanekonferenz eingeführt. Diese wurde 1909 noch erweitert, indem Keppler es jedem Kapitel erlaubte, einen zusätzlichen gewählten Delegierten zu der Konferenz zu entsenden.48

Bei der großen Zahl an Priestern hatte Keppler nur von relativ wenigen „schwarzen Schafen“ zu berichten. „Skandale gibt es sehr selten und wenn sie geschehen, werden sie streng bestraft.“49 Ausführlicher schreibt er 1913, dass er in den vergangenen Jahren gegen einen Priester wegen Trunkenheit und gegen vier weitere wegen Keuschheits-Delikten habe vorgehen müssen. Zwei von ihnen mussten die Diözese verlassen, zwei verloren ihr Benefizium und wurden nach einer Bußzeit mit einer weniger bedeutenden Stelle versehen. Gefallene Priester schickte Keppler zu Exerzitien in ein Kloster. Der Skandal in der Pfarrei werde durch sofortige Entfernung und die Sendung eines guten Nachfolgers repariert.50 Etwas bewegter war dann offenbar der Fünfjahreszeitraum von 1913 bis 1918, nicht zuletzt wegen des Krieges. Keppler berichtet, dass er, um einen Skandal zu vermeiden, einen Pfarrer wegen unsittlicher Gespräche und Berührung von Frauen sowie wegen Trunkenheit zur Resignation auf seine Stelle gedrängt habe. Er sei nach der Pensionierung dann bald gestorben. Ein anderer Pfarrer habe mit einer jungen Frau ein Kind gezeugt, habe die Stelle dann verlassen, sich im Krieg bewährt und erhalte nunmehr eine neue Stelle. Zwei Pfarrer hatten Verhältnisse mit Frauen, deren Männer im Krieg waren. Einer von ihnen sei suspendiert und zum Sanitätsdienst eingezogen worden, der andere habe seine Stelle aufgegeben und sich auf Dauer in ein Kloster zurückgezogen. Ein weiterer Pfarrer habe seinen guten Ruf verloren, sei aber, da die Regierung eine Pensionierung verweigert habe, nach Ablauf eines Jahres auf eine andere Stelle versetzt worden. Schließlich hätten zwei Priester schwer gegen das sechste Gebot gesündigt. Da ihr Verbrechen aber geheim geblieben sei, seien ihnen nach einer Bußzeit andere Stellen bzw. Aufgaben übertragen worden. Hier muss aufgrund der Ausdrucksweise von Keppler offenbleiben, wobei genau es sich bei dem sexuellen „crimen“ gehandelt hat.51 Die Relation von 1913 weist übrigens ausdrücklich – aber in einem anderen Kontext – darauf hin, dass der Bischof den geheimen Teil der Dokumente bei sich aufbewahrt; insofern sind die Statusrelationen der wohl einzige historische Anweg zu diesem Thema.52

 

Wenn die württembergische Regierung auch nicht alle seine Pensionierungswünsche erfüllte, so konnte Keppler 1913 immerhin nach Rom melden, dass sich die Besoldungssituation für die Geistlichen beträchtlich verbessert hätte: Seit 1911 sei eine altersabhängige Progression eingeführt worden, so dass Pfarrer neun Jahre nach der Ordination 2.500 Mark pro Jahr erhielten, nach 27 Jahren 3.800 Mark, Kapläne stiegen entsprechend von 2.000 auf 2.800 Mark. Für die Besetzung der Pfarrstellen wurde im Übrigen keine Einzelausschreibung vorgenommen, sondern zweimal jährlich ein allgemeiner Konkurs durchgeführt. Die Domkapitulare erhielten je nach Alter zwischen 5.400 und 6.200 Mark, der Domdekan 7.200 Mark, ein Domvikar 4.000 Mark. Damit lag das Kapitel deutlich über den Bezügen eines damaligen Universitätsprofessors, dem jährlich ca. 3.500 Mark sowie Zusatzleistungen von ca. 1.200 Mark zustanden. Da das Domkapitel zugleich das Bischöfliche Ordinariat bildete,53 war die Besoldung durchaus angemessen. Die hohe Arbeitsbelastung durch die Amtsgeschäfte halte das Kapitel auch davon ab, wie Keppler der Kurie ausführlich darlegte, seine Chorpflichten zu erfüllen. Nur an den Sonn- und Feiertagen versammele es sich zu Laudes, Messe und Vesper sowie im Triduum sacrum zu Matutin und Laudes. Hinzu kämen die marianischen Andachten im Mai und die Rosenkranzandachten im Oktober.

Das Verhältnis zu Regierung und Verwaltung, die politische Mobilisierung der Katholiken

Im 1907 erstellten „Update“ der Relation von 1902 zeichnet Keppler ein relativ idyllisches Bild von der staatskirchenrechtlichen Situation. Das Staatskirchenregiment sei gemildert; es gebe zum Beispiel kein Placetum regium mehr. Der Einfluss der Regierung sei aber groß bei der Verwaltung der kirchlichen Güter, die frommen Stiftungen und die Kongregationen würden ängstlich überwacht, keine Orden erlaubt; zudem bestehe für die Mehrzahl der Benefizien das königliche Patronat. Dies sei aber alles kein großes Problem, da der Katholische Kirchenrat als staatliche Mittelbehörde (bestehend aus zwei Priestern und vier Laien) dem Bischof ergeben sei und seinem Vorschlag folge. Hierbei hatte Keppler wohl vor allem seinen Freund Richard Wahl (*1854) vor Augen, der allerdings schon 1906 gestorben war, sowie den geistlichen Kirchenrat Eduard Vogt (1865-1923).54 Die optimistische Einschätzung Kepplers wurde allerdings bald Lügen gestraft, als der Kirchenrat 1908 nach der Publikation der Enzyklika „Pascendi“ durch Keppler auf das vorher eigentlich nötige Plazet zurückkam. Ähnliche Kontroversen gab es dann noch bei anderen Gelegenheiten bis 1918.55 Sehr enttäuscht war Keppler auch über die 1909 verabschiedete Schulnovelle, welche zwar am konfessionellen Charakter der Volksschule festhielt, aber die geistliche Orts- und Bezirksschulaufsicht abschaffte und in den Mittelschulen die Simultanschule zuließ.56 Für Keppler führte der Weg von der Simultanschule zuerst zur religionslosen und dann zur religionsfeindlichen Schule. Diese politische Niederlage stellte auch den wesentlichen Gehalt seiner kurzen Zwischenrelation von Ende 1909 nach Rom dar.57 1913 resümierte er dann sehr trocken: „Der württembergische König protestantischer Konfession [Wilhelm II.] ist gerecht und wohlwollend dem Bischof gegenüber. Es ist oft schwierig, gegen die Regierung und die Verwaltungsbeamten, die fast alle Akatholiken sind, die Rechte der Kirche und des Bischofs geltend zu machen. Wir sind den menschlichen Gewalten gegenüber frei von der Schuld knechtlicher Gesinnung.“58

Es ist wenig verwunderlich, wenn Bischof Keppler vor diesem Hintergrund die politische Mobilisierung der Katholiken in seinem Bistum als Mittel zur Durchsetzung kirchlicher Interessen und die Zentrumspartei als Transmissionsriemen dafür verstand. Auch die neuere Forschung tendiert dazu, die späte Gründung der Zentrumspartei in Württemberg weniger auf die wirtschaftliche Unzufriedenheit in den agrarisch geprägten katholischen Oberämtern zurückzuführen,59 sondern sie als Konfessionalisierung der württembergischen Landespolitik zu verstehen.60 „Meine Herren! Kutten und Kinder haben uns zusammengeführt, dass wir das württembergische Zentrum gebildet haben“61, so rief der Priester und Schriftleiter des „Deutschen Volksblattes“ Joseph Eckard (1865-1906) 1895 bei der ersten Landesversammlung des württembergischen Zentrums in Ravensburg aus. Kutten und Kinder, die Ordensfrage62 und das konfessionelle Schulwesen standen auch für Keppler im Mittelpunkt des Interesses. Scharfsinnig erkannte Keppler dabei die Vorfeldfunktion des katholischen Vereinswesens, das sich schon beim ersten Württembergischen Katholikentag in Ulm 1890 in der Ordensfrage deutlich zu Wort gemeldet hatte,63 und insbesondere des ebenfalls 1890 gegründeten Volksvereins für das Katholische Deutschland: „Es ist am meisten den männlichen Sodalitäten und insbesondere der großen, ,Volksverein‘ genannten Vereinigung zuzuschreiben, dass die katholischen Männer so in den politischen Dingen versiert und diszipliniert sind, dass wir ihnen bei den politischen und bürgerlichen Wahlen gänzlich vertrauen können; sie geben ihre Stimmen nämlich für die Kandidaten des ‚Zentrums‘ ab. Daher kommt es, dass obwohl die Katholiken im Königreich an Zahl unterlegen sind, dennoch das ,Katholische Zentrum‘ unter den politischen Parteien seiner Aufgabe mit großem Gewicht nachkommen kann.“64 Im Gegensatz zum Zentrum hatte der Volksverein im Bistum bereits unter Hefele mit starker Unterstützung des Bischofs eingeführt werden können, weil Hefele in ihm ein Mittel zur Bekämpfung der socialistischen Irrtümer der Gegenwart erblickte.65 Die so ermöglichte späte Mobilisierung war umso eindrucksvoller. „Der Eifer der schwäbischen Katholiken für den neuen Verein unter der Führung Adolf Gröbers [1854-1919]66 katapultierte ihn – mit Ende 1891 schon rund 13.000 Mitgliedern – an den Platz der drittgrößten Landessektion überhaupt; größer war der Erfolg nur im Rheinland und in Westfalen. Und wenige Jahre später (1897) war die württembergische Sektion mit über 21000 Mitgliedern fast exakt doppelt so groß wie die badische.“67 Mit dem Juristen Gröber hatte das württembergische Zentrum zugleich eine angesehene Führungspersönlichkeit, die 1917 sogar die Führung der Zentrumsfraktion im Reichstag übernehmen konnte. Neben Gröber brachte es vor allem auch der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger zu reichsweiter Bekanntheit.

Nachdem die Verfassungsreform von 1906 die strukturelle adlig-katholische Mehrheit in der Ersten Kammer und die ständische kirchliche Vertretung in der Zweiten Kammer beseitigt hatte,68 war das Wirken des Zentrums in der Zweiten Kammer umso wichtiger geworden. In seinem Lob wurde Keppler hier 1907 geradezu lyrisch: „Und freilich tun sich die Führer dieser Fraktion nicht nur durch Weisheit, sondern auch durch ihre Tugenden vor den anderen hervor; mit solchem Mut und solchem Eifer verteidigen sie die katholische Sache, dass schon die Regierung selbst, die anfangs wenigstens ein genügend großes Misstrauen dem Zentrum gegenüber vor sich hertrug, nicht anders kann, als es zu achten. Es besteht kein Zweifel, dass durch die unermüdlichen Mühen dieser Männer die Rechte der Kirche viel mehr als zuvor gewahrt werden und in hohem Maße gehindert wird, dass gegen die Kirche ungerechte Gesetze verabschiedet werden. Sicherlich haben freilich aus diesem Grund die gehässigen Ausfälle der Protestanten gegen uns so zugenommen, dass sie in der Verleumdung, der ungerechten Behandlung und der feindlichen Verfolgung uns gegenüber schon mit den Sozialisten wetteifern.“69 Wenn Kepplers Vertrauen auf die Wirksamkeit des Zentrums sich auch vor 1918 nur sehr bedingt erfüllen sollte, so bleibt doch seine Identifikation mit dieser in Württemberg immerhin laikal geführten Partei bemerkenswert. Hier lag auch ein gewisser Unterschied zu dem von ihm sonst verehrten Papst Pius X., der die politisch-gesellschaftliche Aktivität von Laien immer unter geistlicher Aufsicht sehen wollte. Obwohl Keppler im Gewerkschaftsstreit um die interkonfessionellen christlichen Gewerkschaften zunächst äußerste Zurückhaltung geübt70 bzw. als Gegner derselben gegolten hatte – Fürstbischof Adolf Bertram von Breslau (1859-1945) schrieb vor seiner Verteidigung der christlichen Gewerkschaften auf der Fuldaer Bischofskonferenz 1912, er hoffe, dass mir, falls ich meinen Platz wieder neben Paul Wilhelm [Keppler] bekomme, der Humor nicht ausgeht71 –, so stellte sich der Rottenburger Bischof ab 1913 öffentlich hinter die christliche Gewerkschaftsbewegung.72 Schon 1902 hatte er eine relativ „demokratische“ Satzung für den Diözesanverband der Arbeitervereine genehmigt.73 Kurz gesagt: Keppler war sicher ein Antimodernist, aber nicht unbedingt ein Integralist. Entsprechend dankte Keppler in seiner Relation von 1913 dem Papst für die mühsam erreichte Duldung der christlichen Gewerkschaften in der Enzyklika Singulari quadam von 1912. Die Einbeziehung der Arbeitervereine in die gemischten Gewerkschaften sei nötig gewesen, damit auch ein Erfolg im Einsatz um mehr Lohn errungen und so den Sozialisten das Wasser abgegraben werden könne. Die katholischen Arbeiter könnten dort zugleich sittliches Vorbild sein. Die Arbeitervereine an sich entsprächen aber ganz den römischen Vorgaben.74

Die katholische Presse in Württemberg

„In keinem Land unternahmen die Katholiken halbherzigere Anstrengungen für das Wachstum ihrer Presse (zwischen 1865-1912 ‚nur‘ 87%).“75 Doch auch hier intensivierten sich ab den 1890er Jahren die Bemühungen. Bischof Keppler konnte dann 1913 insgesamt dreißig katholische Tageszeitungen nach Rom melden.76 Unter ihnen ragte das bereits 1848 gegründete „Deutsche Volksblatt“ in Stuttgart heraus, in dessen Verlag auch das „Katholische Sonntagsblatt“ erschien. Volksblatt und Sonntagsblatt konnten 1891 auf Landesebene eine Quasi-Monopolstellung erreichen, indem die AG Deutsches Volksblatt die ultramontanen „Donzdorfer“ Gegengründungen „[Anzeiger vom] Ipf“ und „Katholisches Wochenblatt“ aufkaufte.77 Auch bezüglich des Volksblattes wurde 1876 ein kurzer Richtungsstreit ausgefochten: Nachdem das Blatt in die Hand des katholischen Demokraten und späteren Zentrumsmannes Rudolf Probst (1817-1899) und seines Schwagers Karl von Streich (1826-1917) gekommen war, befürchtete Bischof Hefele eine zu große Annäherung an die demokratische Volkspartei, die damals in Württemberg von vielen Katholiken gewählt wurde.78 Ab 1877 lenkte der neue Schriftleiter Konrad Kümmel (1848-1936)79 das Blatt aber ganz im Sinne Hefeles wieder mehr in die Richtung der regierenden konservativen Landespartei. Nach Hefeles Tod konnte Kümmel dann durch das Volksblatt zur Gründung des Zentrums in Württemberg beitragen. Kümmel überließ dem schon oben genannten Joseph Eckard 1895 die Schriftleitung des Volksblattes, an der von 1896 bis 1903 auch Matthias Erzberger mitwirkte. Das Volksblatt war damit zum typischen Zentrumsblatt geworden. Kümmel widmete sich nun ganz dem Sonntagsblatt80, das zwar politisch auch eindeutig positioniert war, aber eher in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht interessant ist. Ähnlich wie die Haus- und Volkskalender81 wollte das Volksblatt durch erbauliche Erzählungen Unterhaltung und religiöse Bildung miteinander verbinden. Den Lesern wurde dabei indirekt oder direkt auch ein bestimmter Frömmigkeitsstil (gekennzeichnet durch Wallfahrten, Exerzitien, Herz-Jesu-Verehrung etc.) nahegebracht.82

 

Resümee

Insgesamt fällt auf, wie stark Keppler Rottenburg als Musterdiözese im Sinne des „konservativen Reformpapstes“ Pius X.83 darstellte; dieser verband theologische und kirchenpolitische Intransigenz mit einer formalen Modernisierung der Kirche im Sinne der pastoralen Intensivierung und Effizienzsteigerung. Unverkennbar bleiben aber auch die Reserven, die der Antimodernist Keppler dem römischen Integralismus gegenüber wahrte. Und auch insofern war das Bistum Rottenburg unter Keppler fest im mainstream des deutschen Katholizismus verankert worden.

1 K. Hausberger, Der Rottenburger Bischof Paul Wilhelm von Keppler (1898-1926) – ein Exponent des Antimodernismus im deutschen Episkopat, in: RJKG 21 (2002) 163-177; ders., Eine Denkschrift des Rottenburger Bischofs Paul Wilhelm von Keppler über den Reformkatholizismus aus dem Jahr 1903, in: RJKG 21 (2002) 321-340.

2 D. Burkard, / E. Gatz, / P. Kopf, Rottenburg, in: Gatz, E. (Hg.), Die Bistümer der deutschsprachigen Länder von der Säkularisation bis zur Gegenwart, Freiburg i. Br. 2005, 616-637; sowie noch immer A. Hagen, Geschichte der Diözese Rottenburg, 3 Bde., Stuttgart 1956-1960.

3 A. Hagen, Der Reformkatholizismus in der Diözese Rottenburg (1902-1920), Stuttgart 1962; M. Seckler, Theologie vor Gericht. Der Fall Wilhelm Koch – Ein Bericht (Contubernium 3), Tübingen 1972; J. Köhler, Heinrich Günters Legendenstudien. Ein Beitrag zur Erforschung historischer Methode, in: Schwaiger, G. (Hg.), Historische Kritik in der Theologie. Beiträge zu ihrer Geschichte (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts 32), Göttingen 1980, 307-337 (mit Bibliographie); R. Engelhart, „Wir schlugen unter Kämpfen und Opfern dem Neuen Bresche.“ Philipp Funk (1884-1937). Leben und Werk (Europäische Hochschulschriften III, 695), Frankfurt a. M. 1996; ders., Zwischen Rebellion und Gehorsam. Zur Entlassung des Diakons Josef Heilig aus dem Priesterseminar Rottenburg, Frankfurt a. M. 1997; G. Klapczynski, „Ab initio sic non erat!“ „Modernismus“ am Beispiel Hugo Koch (1869-1940), in: Wolf, H. / Schepers, J. (Hg.), „In wilder, zügelloser Jagd nach Neuem“. 100 Jahre Modernismus und Antimodernismus in der katholischen Kirche (Römische Inquisition und Indexkongregation 12), Paderborn u.a. 2009, 271-288.

4 Vgl. E. Rentschler, Paul Wilhelm von Keppler (1852-1926). Der sechste Bischof von Rottenburg im Urteil seiner Zeitgenossen, in: RJKG 12 (1993) 247-255.

5 D. Burkard, Neues Jahrhundert – neuer Klerus? Priesterbildung und -erziehung in der Diözese Rottenburg an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: RJKG 21 (2002) 179-217, hier 213.

6 Diözesanarchiv Rottenburg (DAR), Q 5.1.1.

7 DAR, Q 5.1.1.

8 C. Arnold, Zwischen Zentrum und Peripherie – die Rottenburger Diözesanidentität (1919-1978), in: RJKG 24 (2005) 35-50.

9 H. Wolf, (Hg.), Zwischen Wahrheit und Gehorsam. Carl Joseph von Hefele (1809-1893), Ostfildern 1994.

10 D. Burkard, Kein Kulturkampf in Württemberg? Zur Problematik eines Klischees, in: RJKG 15 (1996) 81-98; H. Wolf, Württemberg als Modell für die Beilegung des Kulturkampfes in Preußen? in: RJKG 15 (1996) 65-79.

11 Zusammenfassend R. Reinhardt, Art. Hefele, in: Gatz, E. (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder: 1785/1803 bis 1945, Berlin 1983, 295-297.

12 Eng verbunden mit diesem Prozess ist die Frage nach der Herausbildung eines „katholischen Milieus“ in bestimmten Städten und Regionen des Bistums, die hier nicht ausführlich erläutert werden kann. Auch die Milieu-Parameter scheinen aber auf eine „späte“ Milieubildung hinzuweisen, die erst in der Zeit des Nationalsozialismus abgeschlossen wird; Ch. Handschuh, Zwischen katholischer Lebenswelt und Milieu. Das Dekanat Rottweil 1905-1940, in: RJKG 29 (2010) 167-180.

13 Archivio Segreto Vaticano (ASV), S. Congr. Concilii Relationes 694: Rottenburgensis.

14 Ebd.

15 Beide in ASV, Congr. Concist. Relat. Dioec. 695: Rottenburg.

16 Vgl. die Statistik in H. A. Krose, Kirchliches Handbuch für das katholische Deutschland, Bd. 4: 1912/13, Freiburg i. Br. 1913, 213-215.

17 (Jeweils meine Übersetzung) Relatio vom 20. Februar 1913, 27; ASV, Congr. Concist. Relat. Dioec. 695: Frequentia sacramentorum crescit de anno in annum, praesertim ex quo novum de communione decretum emanavit. Pueri nunc omnes, cum undecim vel decimum annum agunt, ad communionem praeparantur atque dum scholae frequentunt sexies per annum omnes simul ad sacram mensam accedunt, singuli saepius, multi omnibus diebus Dominicis. Sexus femineus majori studio sacramenta frequentat; virorum studium paulatim excitandum et augendum erit. Dies war im Vergleich zu 1907 ein deutlicher Fortschritt: Relatio 1907, 15; ASV, Congr. Concilii Relationes 694: Ad communionem quotidianam prater personas religiosas paucos tantum laicos usque modo accedere advertitur; sed crescit celeriter numerus eorum, qui bis ter quater in hebdomada sacra synaxi reficiuntur.

18 Weitere Forschungen müssen ergeben, inwiefern sich hieraus ein statistischer Effekt ergibt, der bei der Handhabung der Milieu-Parameter in Bezug auf das Bistum Rottenburg zu berücksichtigen wäre; vgl. C. Handschuh, Lebenswelt.

19 DAR, Q 5.1.8.

20 Einen Einblick in die religiös-emotionale Bedeutung der Andachten, vor allem auch der später durch die Liturgiereform Pius’ XII. verdrängten Auferstehungsfeier, bieten die Erinnerungen von Maria Müller-Gögler (1900-1987) (Sigmaringen 1980, 334f und passim).

21 Relatio 1913, 4; ASV, Congr. Concist. Relat. Dioec. 695: [...] inter quas fideles cantica religiosa in lingua vernacula maximo cum amore et ardore canunt. Quae consuetudo maximo tantum cum damno eliminari posset; esset enim pertimescendum, ne fideles graviter indignati missas illas usque adhuc valde frequentatas porro negligerent.

22 Relatio 1923, 3; ASV, Congr. Concist. Relat. Dioec. 695.

23 DAR, Q 5.1.1.

24 Relatio 1913, 26; ASV, Congr. Concist. Relat. Dioec. 695: De populo generatim: Ruri adhuc, generaliter dicendo, probi valent mores, vita simplex et laboriosa, fides firma, sincerum religionis studium. In urbibus vero, praesertim maioribus, perniciosa contagionis vi grassantur vitae lautioris studia, alcoholismus, luxuria et exinde vitae familiaris dissolutio et dissipatio.

25 Zur Mischehenproblematik im Bistum Rottenburg vgl. exemplarisch M. E. Gründig, Verwickelte Verhältnisse. Folgen der Bikonfessionalität im Biberach des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, Epfendorf 2002, 142-201.

26 Relatio 1907, 26; ASV, Congr. Concilii Relationes 694.

27 Relatio 1907, 13; ASV, Congr. Concilii Relationes 694.

28 Freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Klaus Schatz SJ, Frankfurt-Sankt Georgen. Seine mehrbändige Geschichte der deutschen Jesuiten im 19. und 20. Jahrhundert erscheint demnächst.

29 E. Gatz, (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 7: Klöster und Ordensgemeinschaften, Freiburg 2006; R. Meiwes, „Arbeiterinnen des Herrn“. Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert (Geschichte und Geschlechter 30), Frankfurt-New York 2000; W. Zimmermann / N. Priesching (Hg.), Württembergisches Klosterbuch. Klöster, Stifte und Ordensgemeinschaften von den Anfängen bis in die Gegenwart, Ostfildern 2003.

30 H. A. Krose, Kirchliches Handbuch 1913, 483.

31 Relatio 1913, 16; ASV, Congr. Concist. Relat. Dioec. 695: Ideo usu edoctus testari potest, in hospitalibus et institutis harum sororum curae subjectis omnibus rebus optime provisum esse, quae ad corporum et animarum salutem necessariae sunt.

32 Ebd. 15.

33 Relatio 1913, 16; ASV, Congr. Concist. Relat. Dioec. 695: Quum ergo in omnibus dioecesis partibus aditus ad literarum studia facile pateat, semper necessarius numerus puerorum bene moratorum suppetit qui ad sanctae ecclesiae sacerdotium adspirare possint.

34 Dies entspricht dem Befund von D. Burkard, Neues Jahrhundert – neuer Klerus? Priesterbildung und - erziehung in der Diözese Rottenburg an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: RJKG 21 (2002) 179-217.

35 Ebd. 198f.

36 Vgl. R. Reinhardt, Zu den Auseinandersetzungen um den „Modernismus“ an der Universität Tübingen, in: ders. (Hg.), Tübinger Theologen und ihre Theologie. Quellen und Forschungen zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen (Contubernium 16), Tübingen 1977, 271-352 hier 278.