Kirchliches Leben im Wandel der Zeiten

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Aus der Reihe: Erfurter Theologische Studien #104
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2. Wessenbergs gesamtdeutsche Kirchenpläne auf dem Wiener Kongress

Wessenberg war kein Mann der Politik; er entzog sich deshalb 1805 auch Dalbergs Angebot, ihn in sein Metropolitankapitel zu berufen und für seine Nachfolge in Aussicht zu nehmen.28 Aber er war gleichwohl ein eminent politisch denkender Mensch, der die politischen und kirchlichen Umbrüche seiner von den napoleonischen Kriegen erschütterten Zeit und ihre Folgen sehr realistisch einschätzte, wie etwa seine Denkschrift „Über die Folgen der Säkularisationen“ von 180129 oder seine Aufzeichnungen über seine Teilnahme als Begleiter Dalbergs an dem von Napoleon inszenierten Pariser Nationalkonzil 1811 belegen.30 Drei Jahre später (1814) wurde Napoleon gestürzt, und Dalberg verlor seine Stellung als Fürstprimas des Rheinbunds und seine weltliche Herrschaft.31 Er hatte sich seit dem Untergang der Reichskirche in der Säkularisation von 1803 wie kein anderer unermüdlich, in mehreren Anläufen, ungeachtet aller Widerstände und Demütigungen, um einen Neuaufbau der Kirche Deutschlands auf der Grundlage eines Konkordats mit dem Papst bemüht, seit der napoleonischen Gründung des Rheinbunds und dem Ende des Reiches 1806 auch in Anklammerung an Napoleon, den er (wie nicht wenige seiner Zeitgenossen) bewunderte und von dem er sich am ehesten noch wirkmächtige Unterstützung erhoffte. Aber mit allen seinen Bemühungen war er gescheitert. Der Kaiser in Wien hatte ihn 1803/04 im Stich gelassen, Napoleon hatte ihn mit leeren Versprechungen hingehalten, und bei Papst und Römischer Kurie war er mit seinen Kirchenplänen auf entschiedenen Widerstand gestoßen, weil er nämlich eine alle Staaten auf ehemaligem Reichsboden umfassende geeinte deutsche Kirche mit primatialer Spitze anstrebte, was man ihm in Rom als Hybris, Papst in Deutschland sein zu wollen, und somit als Häresie auslegte.32 Dalberg war aber keineswegs von persönlichem Ehrgeiz getrieben. Er verfolgte vielmehr die Idee einer zwar selbstverständlich mit Rom verbundenen, dem Papst als centrum unitatis ecclesiae loyal ergebenen „nationalen“ Kirche, die aber entsprechend reichskirchlicher Tradition ihre inneren Angelegenheiten möglichst eigenständig regeln können sollte. Und durch einen vom Papst jurisdiktionell bevollmächtigten Primas an der Spitze – einer Art Zwischeninstanz zwischen Patriarch und Metropolit, gleichsam als Ersatz für den Kaiser als vormaligen geborenen advocatus ecclesiae – sollte ein Gegengewicht zur Abwehr oder doch Eindämmung der im damaligen „kirchlichen Vakuum“ überhandnehmenden massiven Eingriffe der aufgeklärten Staatsgewalten in innerkirchliche Angelegenheiten geschaffen werden. Obwohl politisch völlig ohnmächtig und bei den Siegermächten in Misskredit, weil er bei Napoleons Sturz nicht wie die übrigen Rheinbundfürsten rasch die Front gewechselt hatte, entschloss sich Dalberg, seinen (1812 von ihm persönlich zum Priester geweihten) Konstanzer Generalvikar – eben gerade im Augenblick, als sich über diesem das päpstliche „Gewitter“ zusammenbraute – auf den 1814 in Wien anberaumten Kongress der europäischen Mächte zu entsenden, damit er dort im Zusammenhang mit der bevorstehenden territorialen Neugestaltung Deutschlands nochmals für eine gesamtdeutsche Lösung der Kirchenfrage im Sinne seiner Idee werbe.

Wessenberg war sich der Schwierigkeiten seiner Wiener Mission wohlbewusst; dennoch unterzog er sich ihr, weil ihm der „Fürstenprimas“ – wie er schrieb – „als das einzige geeignete Organ erschien, um von Amtswegen die Einleitung zu einer zeitgemäßen kirchlichen Einrichtung Deutschlands zu veranlassen“, und „ich die volle Gewißheit hatte, daß sonst die Finsterlinge freien Spielraum haben würden, und ich wenigstens hoffen durfte, in Wien, wo nicht das Gute zu bewirken, doch viel Bösem und Verkehrtem entgegenzuwirken“33. Da er keinen offiziellen Gesandtenrang bekleidete, vermochte er nur private Kontakte zu den Kongressgesandten zu knüpfen, was ihm jedoch dank seiner verwandtschaftlichen Beziehungen zu den beiden Vertretern Österreichs auf dem Kongress, nämlich zu seinem Bruder Johann Philipp, in dessen Haus er wohnte, und zum österreichischen Außenminister (und nachmaligen österreichischen Staatskanzler) Clemens Wenzel Lothar Fürsten von Metternich-Winneburg (1773-1859), der den Kongressvorsitz führte, erleichtert wurde. Als sich in den Diskussionen auf dem Kongress frühzeitig ein Zusammenschluss der deutschen Mittelstaaten – mit oder ohne Preußen und Österreich – zu einem Staatenbund abzuzeichnen begann, reklamierten drei selbsternannte, tatsächlich vom Luzerner Nuntius gesteuerte Sprecher des deutschen Episkopats (der aber als solcher kaum mehr existierte) in einer an den Kongress gerichteten Denkschrift die Wiederherstellung der deutschen Kirche mitsamt ihren einstigen Gütern und Rechten, und zwar unter Hinweis auf die Restitution der 1801/02 von Frankreich okkupierten linksrheinischen Reichsgebiete34, für deren Verluste die davon betroffenen weltlichen Reichsfürsten damals mit säkularisiertem Reichskirchenbesitz entschädigt worden waren. Zugleich agitierten diese „Oratoren“ und ihre Anhängerschaft im Zusammenwirken mit dem Wiener Nuntius Antonio Gabriello Severoli mit allen Mitteln gegen Wessenberg und dessen Mission. Gegnerschaft erwuchs ihm desgleichen von Seiten des Kardinalstaatssekretärs Ercole Consalvi, der auf dem Kongress den Papst vertrat und ursprünglich nur den Auftrag hatte, die Wiederherstellung des von Napoleon okkupierten Kirchenstaats, der päpstlichen „Sovranità Temporale“, sowie die Restitution der durch die Säkularisation in Deutschland konfiszierten Kirchengüter zu fordern. Die Befassung mit der deutschen Kirchenfrage als solcher wurde ihm erst von den „Oratoren“ aufgedrängt; jedoch befürwortete er zunächst ebenfalls eine Gesamtordnung der Kirche Deutschlands auf der Grundlage eines Bundeskonkordats, jedoch keinesfalls im Sinne Dalbergs und Wessenbergs.35 Unter diesem Eindruck hielt es Wessenberg an der Zeit, sich nun auch seinerseits zu Wort zu melden, weit entfernt davon, sich wie diese drei „Oratoren“ und Consalvi der Illusion hinzugeben, man könne das „Rad“ nochmals zurückdrehen und die deutschen Fürstenstaaten zu einer Rückgabe der säkularisierten Kirchengüter veranlassen. Am 23. November 1814 überreichte er dem Fürsten Metternich, ebenfalls „im Namen des deutschen Episkopats und gemäß dem Auftrage und der Aufforderung der bedeutendsten Vorsteher der deutschen Kirche“ – Dalberg durfte er dabei offiziell nicht erwähnen –, vier Denkschriften36. Deren wichtigste hatte er mehreren „hervorragende[n] Geistliche[n], Bischöfen und Bistumsverwesern, zur Begutachtung zugeleitet“ und für sie von den meisten „volle Zustimmung“ erhalten37, so dass er sich als ihr Sprecher verstehen durfte. Diese Denkschrift38 betraf das eigentliche Anliegen seiner Mission: die dringend notwendige Neuordnung der „seit zwölf Jahren“ in einem beispiellosen „Zustande von Verlassenheit“ sich befindenden katholischen Kirche Deutschlands durch ein von der obersten Bundesbehörde mit dem päpstlichen Stuhl abzuschließendes Konkordat über die kanonische Einrichtung, Dotierung und gesetzliche Sicherstellung ihrer Erz- und Bistümer „im Umfange des deutschen Bundes“. Das Konkordat solle als wesentlicher Bestandteil der Verfassung des deutschen Bundes unter dem Schutz der obersten Bundesbehörde und des Bundesgerichts stehen, und im Umfang seiner Geltung sollten alle Bistümer zusammen „ein Ganzes, als deutsche Kirche unter einem Primas bilden“. Es folgten Einzelheiten über die Dotierung, über die Wiederherstellung der (von den Staaten eingezogenen) milden Stiftungen und über die von den Staatsbehörden zu schützende „freye Wirksamkeit der katholischen Kirchenbehörden“.

Während im Frühjahr 1815 infolge der plötzlichen Rückkehr Napoleons auf die politische Bühne der Kongress zwischenzeitlich stagnierte und sich aufzulösen drohte, arbeitete Wessenberg eine weitere umfängliche Denkschrift aus, die er im April 1815 unter dem Titel „Die Deutsche Kirche. Ein Vorschlag zu ihrer neuen Begründung und Einrichtung“ anonym im Druck erscheinen und verteilen ließ39. Sie enthielt 1. eine ausführliche Erläuterung seiner Konzeption einer künftigen deutschen Kirche40, 2. Gedanken „Ueber den Geist und das Wesen eines Konkordats für den deutschen Staatenbund“41, 3. den „Entwurf eines Konkordats für den deutschen Staatenbund“42, um auf dieser Vertragsbasis „ein harmonisches Verhältniß und Zusammenwürken der politischen und geistlichen Gewalten zur Beförderung des sittlich religiösen Wohls der Völker“ zu begründen43, und 4. den Entwurf eines „organischen Gesetzes“ zum Konkordatsvollzug44, verbunden mit einem Appell zu religiöser Toleranz, um nach der konfessionellen „Durchmischung“ der Bevölkerung in den einzelnen Staaten infolge der Säkularisation die staatliche Integration konfessioneller Minderheiten zu befördern45.

 

Kernpunkt des Konkordatsentwurfs – der unter anderem viele Reformanliegen Wessenbergs wie die Klerusbildung und -fortbildung enthielt – betraf den Vorschlag, die deutsche Kirche in drei Kirchenprovinzen mit je einem Erzbischof in Mainz, Salzburg und Münster zu gliedern und den Erzbischof von Mainz als ehemaligen Kurfürsten und Reichserzkanzler mit der „Würde eines Primas der deutschen Kirche“ zu bekleiden. Er sollte unbeschadet der Rechte der beiden anderen Erzbischöfe den ersten Rang unter ihnen einnehmen und den Vorsitz in allen Versammlungen der deutschen Bischöfe – die seit Jahrhunderten nicht mehr gemeinsam getagt hatten – innehaben.46 Kraft päpstlicher Übertragung sollte ihm, zusammen mit dem ältesten Bischof der jeweiligen Provinz, – nicht einem Nuntius – die Führung der Informativprozesse über die kanonische Eignung der neugewählten Bischöfe47 sowie „die Korrespondenz und Leitung der Verhandlungen in allen gemeinsamen Angelegenheiten der deutschen Kirche mit dem Päpstlichen Stuhle sowohl, als der obersten Bundesbehörde“ vorbehalten sein.48 Mit anderen Worten: Wessenberg intendierte, ganz im Sinne Dalbergs, eine primatiale Verfassung der deutschen Kirche zur Wahrung möglichster Eigenständigkeit in ihren ureigensten Belangen, entsprechend ihrer tausendjährigen Tradition, gleichwohl in durchaus enger Bindung an den Heiligen Stuhl. Die deutschen Bundesstaaten sollten zur Dotation der Erzbischöfe, Bischöfe, Domkapitel und diözesanen Einrichtungen wie der Priesterseminare entsprechend der Zusicherung des Reichsrezesses von 1803 verpflichtet werden, und zwar in Form von liegenden Gütern in kirchlicher Selbstverwaltung49: „Die Verbindlichkeit dazu haftet als heilige Schuld auf den säkularisirten geistlichen Staaten“50, d.h. der Reichsdeputations-Hauptschluss, als Reichsgesetz mit dem Untergang des alten Reiches erloschen, sollte gleichwohl weiterhin Rechtsgeltung behalten (was de facto auch geschah). Aber den Staaten sollten auch weitreichende Rechte eingeräumt werden, vor allem bei der – aus damaliger staatlicher Sicht brisanten – Neubesetzung der Bischofsstühle und Domkapitel. Hier war vorgesehen, dass der zuständige Landesherr aus einem innerhalb dreier Monate nach Eintritt der Vakanz durch Wahl zu bestimmenden Dreiervorschlag des jeweiligen Domkapitels ein ihm genehmes „Subject“ auswählen könne, welches sodann vom Domkapitel dem Papst zur Bestätigung präsentiert werden sollte.51 Für die Besetzung der Domkapitelspräbenden war im Entwurf ein Dreiervorschlag des jeweiligen Bischofs vorgesehen, aus dem der Landesherr einen ihm genehmen Kandidaten auswählen sollte52 – Vorschläge, die nachmals, gewiss in kanonistischen Modifikationen, in die Vertragsabschlüsse der einzelnen deutschen Staaten mit dem Heiligen Stuhl eingingen, wenn auch päpstlicherseits nur als erzwungen zugestandene Konzessionen.

In den beigegebenen Überlegungen wird der Vorschlag einer primatialen Verfassung mit der Notwendigkeit begründet, der deutschen Kirche „Einheit und Zusammenhang“ zu geben als Grundvoraussetzung, damit sie „die ihr zur nützlichen Würksamkeit nöthige Selbständigkeit und Würde erlangen“, „den Anmassungen der Römischen Kurie hinreichenden Widerstand leisten“ (Wessenberg unterschied mit Grund zwischen Papst und Kurie) und so „im Stande seyn“ könne, „eine reine Disziplin zu handhaben, und gemeinsames Fortschreiten in der wahren Bildung der Völker zu befördern“53. Dagegen würde eine „Kirchen-Einrichtung durch Privat Konkordate“ zwischen den einzelnen deutschen Höfen und Rom die erwünschte „Gleichförmigkeit“ solcher Einrichtung behindern und „dem Römischen Hofe die größte Leichtigkeit verschaffen, das Divide et impera zu spielen“54. „Ohne Primas, der das Band der Einheit in dem deutschen Episkopat befestige, die Relationen der Bischöfe mit Rom unterstütze, … und nach Erforderniß ihre Gerechtsame vertheidige, wäre die deutsche Kirche in jeder Hinsicht in einer ungünstigern Lage, als die Kirche[n] jeder andern Nation …. Sie würde keinem Angriff auf ihre Verfassung und Rechte, er möchte von Staatsbehörden oder von Römischen Kurialisten geschehen, lange würksame Gegenwehr zu leisten vermögen. Die Nachgiebigkeit und Schwäche des Einzelnen würde den Nachtheil des Ganzen nach sich ziehen“55. Zudem würde, wenn der Primas die Informativprozesse über neu gewählte Bischöfe führte, eine ungebührliche Verzögerung der Besetzung vakanter Bischofsstühle durch Rom „aus Gründen, die der Religion und der wesentlichen Kirchenverfassung fremde sind“, verhindert, da in solchen Fällen der Primas einem für fähig und würdig erkannten Kandidaten „nach Verfluß des kanonischen Termins [d.h. nach sechs Monaten], die kanonische Bestätigung zu erteilen habe“, entsprechend den Verordnungen der frühesten Konzilien und „der Praxis der zwölf ersten Jahrhunderte des Christenthums“56, wie Wessenberg hier allerdings gut gallikanisch oder febronianisch57 argumentierte. Doch Wessenbergs (und gleicherweise Dalbergs) febronianisch (oder episkopalistisch) geprägte Auffassung vom Verhältnis des Episkopats zum Papsttum war damals nördlich der Alpen vorherrschende Lehre der Theologen und Kanonisten.58

Die Dotation der Bischofsstühle, Domkapitel und zentralen Diözesaneinrichtungen durch liegende Güter unter kirchlicher Selbstverwaltung (als unabdingbare Ersatzleistung der Säkularisationsgewinnler) erschien Wessenberg nach den Erfahrungen seit 1803 notwendige Voraussetzung unabhängigen kirchlichen Wirkens. „Der Beruf des geistlichen Standes“, der „ein anderes Reich, als das irdische … zum Ziele seiner Bestrebungen“ habe, fordere „eine freye, unabhängige Seele“, weshalb es nicht gut wäre, seine Subsistenz „von der Willkühr des weltlichen Armes“ abhängig zu machen, was aber „mit Besoldungen verbunden“ sein würde.59 Des weiteren plädierte Wessenberg dafür, dass Bischof und Domkapitel als „Gutbesitzer“ auch Mitglied der Landstände sein sollten, um „dadurch in das gemeinsame Interesse des Vaterlands verflochten [zu] werden, und an den Vortheilen und Lasten der Staatsverwaltung unmittelbaren Antheil [zu] nehmen“60. In einer „ansehnliche[n] Ausstattung“ der kirchlichen Anstalten sah er nicht zuletzt auch einen Gewinn der deutschen Staaten, da „die ächte Grundbildung des Volkes … vorzüglich von der Beschaffenheit dieser Anstalten“ abhänge, denn: „Rohe und unwissende Seelsorger sind die ärgste Landplage. Ausserdem daß sie unfähig sind, zur bessern Bildung des Volkes beizutragen, sind sie noch das stärkste Hinderniß derselben“61.

Wessenbergs Entwurf strafte alle Lügen, die ihm Staatshörigkeit und Auslieferung der Kirche an den Staat unterstellten. Jedoch lag ihm daran, dass zwischen den beiden Institutionen Kirche und Staat, „wovon die eine die innere sittlich religiöse Ordnung, die andere aber die äussere, polizeiliche und rechtliche Ordnung zum Zwecke hat, … freundliches Einvernehmen“ herrsche und beide „sich zur Förderung alles dessen, was die Wohlfahrt der Völker verlangt, die Hände biethen“62. Dagegen sah er den Sinn eines Konkordats nicht darin, dass sich die Kirche in ihm einseitig ihre privilegierte Stellung verbriefen lasse und dem Staat die dazu erforderlichen finanziellen Lasten aufbürde, sondern dass in ihm beide Institutionen zu einem Ausgleich ihrer gegenseitigen gerechten Ansprüche gelangen, zum Wohl der Menschen, zur Beförderung ihres „Glücks“ (um es „aufgeklärt“ zu formulieren).63

Doch die Kirchenfrage spielte auf dem Wiener Kongress eine untergeordnete Rolle. Bereits erste Anläufe zu einer Ausdehnung der Bundeskompetenz auf die kirchlichen Angelegenheiten stießen auf den entschiedenen Widerspruch vor allem der königlich-bayerischen Regierung, die mit allen Mitteln die konkordatäre Gründung einer Landeskirche unter ihrer Kuratel anstrebte.64 Schließlich wurde die Kirchenfrage auf die in Frankfurt anberaumte erste Bundesversammlung vertagt. Wessenberg suchte die Zwischenzeit für intensive Verhandlungen mit den einzelnen deutschen Höfen zu nützen. Aber als diese Versammlung mit einjähriger Verspätung Anfang November 1816 endlich stattfand, war die Kirchenfrage obsolet geworden. Sie kam dort gar nicht mehr auf die Tagesordnung. Die einzelnen Bundesstaaten hatten sich nach dem Beispiel Bayerns für Partikularverträge mit Rom entschieden, und die Römische Kurie schwenkte entsprechend diesen Wünschen auf separate Vertragsverhandlungen mit den einzelnen deutschen Staaten ein.65 In Rom trauerte man dem Untergang der allzu selbstbewussten Reichskirche keineswegs nach, vielmehr ergriff man dort diese Zäsur nunmehr als willkommene Gelegenheit mit dem erklärten Ziel, die vertragliche Neuorganisation der Kirchen in den deutschen Ländern einseitig als Akt päpstlicher Vollgewalt darzustellen und damit endlich die römischkanonistische Rechtsauffassung von der plenitudo potestatis des Papstes über die Gesamtkirche und jede Einzelkirche zumindest auf dem Papier „festzuschreiben“ und so faktisch zur Anerkennung zu bringen. Der Text des Bayerischen Konkordats von 1817 (siehe hier Art. I) und der für die übrigen Länder „kraft apostolischer Machtvollkommenheit“ erlassenen päpstlichen Zirkumskriptionsbullen belegt, dass der Römischen Kurie dies auch glückte – in ihrer papalistisch orientierten Zielsetzung zweifellos ein „Etappensieg“. Tatsächlich aber interpretierten und vollzogen die einzelnen deutschen Souveräne, gleich ob katholisch oder protestantisch, ihre mit Rom geschlossenen Verträge nach Napoleons Beispiel „organisch“ nach Maßgabe ihrer staatskirchlichen Prinzipien. Zwar statteten sie ihre nun päpstlich errichteten katholischen „Landeskirchen“ finanziell angemessen aus, unterwarfen sie aber auf Jahrzehnte hin ihrer Staats- und Polizeigewalt, mit den bekannten Folgen bis hinein in die Kulturkämpfe des endenden 19. Jahrhunderts. Ob ein Primas an der Spitze einer geeinten deutschen Kirche ausgleichender hätte wirken können, bleibt allerdings eine offene Frage.

Wessenberg indes warb auch nach dem Abschluss des Bayerischen („Privat“-)Konkordats nochmals für seine Idee, in der Hoffnung, die übrigen deutschen Mittelstaaten doch noch für eine Vereinigung ihrer Bistümer unter einem gemeinsamen Erzbischof gewinnen zu können (mögen auch Österreich, Preußen und Bayern „mit allem Grund für ihre Bistümer eigene Erzbischöfe verlangen“). 1818 trat er zu diesem Zweck erneut mit einer umfänglichen, auf zahlreiche Quellen- und Literaturbelege in den Anmerkungen gestützten Denkschrift an die Öffentlichkeit: „Betrachtungen über die Verhältnisse der Katholischen Kirche im Umfange des Deutschen Bundes“66. Dieser gemeinsame Erzbischof – so argumentierte er hier – könnte „zugleich die Stelle des deutschen Primas bekleiden“, dessen „Verhältniß … rein kirchlich“ wäre, der deshalb „in Zukunft in politischer Hinsicht keinem Staat eine Besorgniß einflößen“ müsste; denn der Primas „wäre nichts, als der Mittelpunkt der Nationalkirche“, deren Vereinigung „bloß moralisch“ sein und „auf Uebereinstimmung der Grundsätze“ beruhen würde, „welche unter die Aegide der Landesverfassungen und unter dem Schutz aller deutschen Souveräne gestellt sind“: „Im Innern der deutschen Staaten gewährt eine solche Vereinigung Beruhigung, und im Verhältniß mit dem römischen Hofe sichert sie den deutschen Bisthümern die Rechte und Freyheiten, welche die gesunden Grundsätze des Kirchenrechts verlangen, und deren Handhabung in dem Interesse jedes Staats gelegen ist“67.

 

Trotz sehr bedenkenswerter (bis heute aktueller) Vorschläge im Einzelnen blieb auch dieser Aufruf bei den Mittelstaaten ohne Echo, wenngleich manche dieser Vorschläge von den angesprochenen Regierungen aufgenommen wurden, in ihre Verträge mit Rom einflossen und in die Praxis umgesetzt wurden. Dennoch fiel die Idee einer primatialen Verfassung der Kirche in Deutschland nicht völliger Vergessenheit anheim. Als nämlich nach der Revolution von 1848 die fürstlichen Kabinette den Kirchen mehr Bewegungsfreiheit einräumen mussten und die sogleich allerorten aus dem Boden schießenden „Piusvereine“ sich noch im selben Jahr in Mainz zum ersten deutschen „Katholikentag“ vereinigten, ergriff der Kölner Erzbischof Johannes von Geissel (1845-1864) die Initiative zur Einberufung einer Bischofskonferenz, die sich schließlich im Oktober 1848 in Würzburg versammelte, während im Frankfurter Parlament die Debatten über die Reichsverfassung und die Kirchenfrage in vollem Gange waren. Auf dieser ersten deutschen Bischofskonferenz unter Erzbischof Geissels Vorsitz brachte der Münchner Kirchenhistoriker Ignaz Döllinger (1799-1890) als maßgeblicher Konferenzberater in einem großangelegten Referat die Idee einer deutschen „Nationalkirche“ mit einem Primas an der Spitze und die Einberufung einer deutschen Nationalsynode in die Diskussion ein. Freilich wollte er, damals noch „ultramontan“ gesinnt, seine Idee, um Missverständnissen zumal an der nationalkirchlichen Bestrebungen zuinnerst abgeneigten Römischen Kurie vorzubeugen, gänzlich anders verstanden wissen als Febronius und Wessenberg: „Die so geordnete deutsche Kirche“ – so führte er aus – „würde, weit entfernt, die Einwirkung des Apostolischen Stuhles auf die deutschen kirchlichen Zustände zu schwächen oder zu beschränken, dieselbe vielmehr erleichtern, in eine engere, festere und regelmäßigere Verbindung mit dem allgemeinen Centrum unitatis treten, als dies bei dem gegenwärtigen Zustand der Zersplitterung und Vereinzelung geschehen kann.“ Doch die Mehrheit der Konferenzteilnehmer wagte nicht, dem Gedanken einer Nationalkirche durch Beschlussfassung näherzutreten. Döllinger musste einsehen: „Die Nationalkirche ist für diesmal durchgefallen.“ Aber die Konferenz beschloss einstimmig, in Rom um die Genehmigung einer Nationalsynode nachzusuchen, und Döllinger mag mit diesem Beschluss die Hoffnung verbunden haben, auf dieser Synode seine Idee erneut einbringen und möglicherweise auch durchsetzen zu können. Seine (vermutliche) Hoffnung trog. Papst und Kurie hüllten sich zunächst in Schweigen, was auch mit der Flucht des Papstes vor der Revolution in Rom nach Gaëta zusammenhängen mochte. Erst mit Breve vom 17. Mai 1849, mit halbjähriger Verzögerung, erging die Antwort Pius’ IX. (1846-1878), und zwar pikanterweise nicht an den Konferenzvorsitzenden Erzbischof Geissel, sondern an den Salzburger Erzbischof (und Primas Germaniae) Friedrich von Schwarzenberg, und sie lautete negativ.68 Seitdem hüteten sich die deutschen Bischöfe, die Frage einer Nationalsynode, geschweige denn einer primatial verfassten deutschen Kirche, je wieder aufzugreifen.

1 J. Beck, Freiherr I[gnaz]. Heinrich v[on]. Wessenberg. Sein Leben und Wirken. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der neuern Zeit. Auf der Grundlage handschriftlicher Aufzeichnungen Wessenbergs, Freiburg 1862; K.-H. Braun, Die Causa Wessenberg, in: ders. (Hg.), Kirche und Aufklärung- Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860) (Schriftenreihe der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg), München-Zürich 1989, 28-59; F. X. Bischof, Das Ende des Bistums Konstanz. Hochstift und Bistum Konstanz im Spannungsfeld von Säkularisation und Suppression (1802/03-1821/27) (MKHS 1), Stuttgart 1989 (grundlegende Untersuchung); M. Bangert, Bild und Glaube. Ästhetik und Spiritualität bei Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860) (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 11), Fribourg-Stuttgart 2009; B. Stark (Hg.), Ignaz Heinrich von Wessenberg 1774-1860. Kirchenfürst und Kunstfreund, Konstanz 2010. – M. Weitlauff, Zwischen Katholischer Aufklärung und kirchlicher Restauration. Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860), der letzte Generalvikar und Verweser des Bistums Konstanz, in: RJBKG 8 (1989) 111-132; ders., Ignaz Heinrich von Wessenbergs Bemühungen um eine zeitgemäße Priesterbildung. Aufgezeigt an seiner Korrespondenz mit dem Luzerner Stadtpfarrer und Bischöflichen Kommissar Thaddäus Müller, in: ders. / Hausberger, K. (Hg.), Papsttum und Kirchenreform. Historische Beiträge. Festschrift für Georg Schwaiger zum 65. Geburtstag, St. Ottilien 1990, 585-651; ders., Dalberg als Bischof von Konstanz und sein Konstanzer Generalvikar Ignaz Heinrich von Wessenberg, in: K. Hausberger, Carl von Dalberg. Der letzte geistliche Reichsfürst (SRUR 22), Regensburg 1995, 35-58; ders., Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860), Domherr von Konstanz und Augsburg, Generalvikar des Bistums Konstanz. Kirchlicher Reformer und Kirchenpolitiker zwischen Säkularisation und Neuorganisation der Kirche Deutschlands. Mit einem Quellen- und Dokumentenanhang. Zum 150. Todestag, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 44 (2010), Band I, 1-335 (zum Folgenden siehe diese Darstellung). - Ignaz Heinrich von Wessenberg, Unveröffentlichte Manuskripte und Briefe. Herausgegeben von Kurt Aland und Wolfgang Müller. I/1: Autobiographische Aufzeichnungen. Herausgegeben von Kurt Aland, Freiburg-Basel-Wien 1968; II: Die Briefe Johann Philipps von Wessenberg an seinen Bruder. Herausgegeben von Kurt Aland, Freiburg-Basel-Wien 1987; III: Kleinere Schriften. Herausgegeben von Kurt Aland, Freiburg-Basel-Wien 1979; IV: Reisetagebücher. Herausgegeben von Kurt Aland, Freiburg-Basel-Wien 1970; R. Herzog / O. Pfyl (Bearb.), Der Briefwechsel 1806-1848 zwischen Ignaz Heinrich von Wessenberg und Heinrich Zschokke (Quellen zur Schweizer Geschichte. Neue Folge. III. Abt.: Briefe und Denkwürdigkeiten X), Basel 1990; M. Weitlauff / M. Ries (Bearb.), Ignaz Heinrich Reichsfreiherr von Wessenberg. Briefwechsel mit dem Luzerner Stadtpfarrer und Bischöflichen Kommissar Thaddäus Müller in den Jahren 1801 bis 1821, 2 Teile (Quellen zur Schweizer Geschichte. Neue Folge. III. Abt.: Briefe und Denkwürdigkeiten XI), Basel 1994. – K. Aland, Wessenberg-Studien (I), in: ZGO 95 (1943) 550-620; Wessenberg-Studien II: Wessenberg und die Konstanzer Rettungsanstalt. Ebd. 96 (1948) 450-567; Wessenberg-Studien III: Das Schrifttum I. H. von Wessenbergs. Ebd. 105 (1957) 475-511.

2 J. Beck, Wessenberg, 14; I. H. v. Wessenberg, Unveröffentlichte Manuskripte I/1, 18.

3 I. H. v. Wessenberg, Unveröffentlichte Manuskripte, I/1 20, 178; M. Schaich, „Religionis defensor accerrimus“. Joseph Anton Weissenbach und der Kreis der Augsburger Exjesuiten, in: Weiß, C. / Albrecht, W. (Hg.), Von „Obscuranten“ und Eudämonisten. Gegenaufklärerische und antirevolutionäre Publizistik im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997, 77-125.

4 H. Schiel, Johann Michael Sailer. Leben und Briefe I-II, Regensburg 1948-1952; G. Schwaiger, Johann Michael Sailer. Der bayerische Kirchenvater, München-Zürich 1982; ders. / P. Mai (Hg.), Johann Michael Sailer und seine Zeit (BGBR 16), Regensburg 1982; K. Baumgartner / P. Scheuchenpflug (Hg.), Von Aresing bis Regensburg. Festschrift zum 250. Geburtstag von Johann Michael Sailer am 17. November 2001 (BGBR 35), Regensburg 2001; M. Weitlauff, Johann Michael Sailer (1751-1832), in: ders. (Hg.), Lebensbilder aus dem Bistum Augsburg. Vom Mittelalter bis in die neueste Zeit (JBVABG 39), Augsburg 2005, 221-250.

5 M. Weitlauff, Ignaz Heinrich von Wessenberg [2010], 39-42. Zu Karl Theodor von Dalberg siehe neuestens die umfassende Darstellung: H. Hömig, Carl Theodor von Dalberg. Staatsmann und Kirchenfürst im Schatten Napoleons, Paderborn-München-Wien-Zürich 2011.

6 J. Beck, Wessenberg, 78 f.; I. H. v. Wessenberg, Unveröffentlichte Manuskripte, I/1 26 f.

7 I. H. v. Wessenberg, Unveröffentlichte Manuskripte, I/1 29 f. - Sein Bruder Aloys Anton Ludwig folgte 1804, da ihm durch die Säkularisation die Aussicht auf einen Wirkungskreis in den Hochstiften Basel und Augsburg entzogen war, unter formeller Beibehaltung seiner dortigen Kanonikate einem Ruf als Prinzenerzieher an den kursächsischen Hof in Dresden; 12 Jahre wirkte er hier und besorgte auch den ganzen Unterricht der Prinzen in deutscher, lateinischer und französischer Literatur, Geschichte, Erdbeschreibung, Staatsrecht und Staatswirtschaft. Ebd. 175-186 (Wessenbergs Biographie seines Bruders Aloys), hier 182 f.

8 Frieden von Lunéville, 9. Februar 1801. H. H. Hofmann (Hg.), Quellen zum Verfassungsorganismus des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1495-1815 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 13), Darmstadt 1976, 323-325.

9 Konkordat Pius’ VII. mit Napoleon, Paris, 15. Juli 1801. C. Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des Römischen Katholizismus, Tübingen 41924, 419 f.

10 F. Jürgensmeier, Das Bistum Mainz. Von der Römerzeit bis zum II. Vatikanischen Konzil (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 2), Frankfurt am Main 1988, 254-267.

11 „Der Stuhl zu Mainz wird auf die Domkirche zu Regensburg übertragen. Die Würden eines Kurfürsten, Reichs-Erzkanzlers, Metropolitan-Erzbischofs und Primas von Deutschland bleiben auf ewige Zeiten damit vereiniget. Seine Metropolitan-Gerichtsbarkeit erstreckt sich in Zukunft über alle auf der rechten Rheinseite liegenden Theile der ehemaligen geistlichen Provinzen von Mainz, Trier und Köln, jedoch mit Ausnahme der königl. Preussischen Staaten; ingleichen über die Salzburgische Provinz, so weit sich dieselbe über die mit Pfalz-Baiern vereinigten Länder ausdehnt [also ohne das habsburgische Österreich]. Was das Weltliche betrifft, so wird die Ausstattung des Kurfürsten-Erzkanzlers zuvörderst auf die Fürstenthümer Aschaffenburg und Regensburg begründet. … Ferner gehören zu dieser Ausstattung: die Reichsstadt Wetzlar, in der Eigenschaft einer Grafschaft und mit voller Landeshoheit“, samt allen Abteien und Klöstern in den genannten Fürstentümern. Reichsdeputations-Hauptschlusses vom 25. Februar 1803, § 25. K. Zeumer (Bearb.), Quellen zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, Tübingen 21913, 509-528 (Nr. 212), hier 516 f.; M. Weitlauff, Die Säkularisation in Bayern. Ereignisse und Probleme, in: Schmid, A. (Hg.), Die Säkularisation in Bayern 1803. Kulturbruch oder Modernisierung? (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Reihe B, Beiheft 23), München 2003, 29-84.