Kirchlicher Dienst in säkularer Gesellschaft

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Kirchlicher Dienst in der pluriformen Moderne als Ort der Kirche
Ralph Bergold
I. Kirche und kirchlicher Dienst

Zu allen Zeiten ist die Kirche von dem Bewusstsein geprägt, dass die einzelnen Gläubigen von Jesus Christus zu einer Gemeinschaft der Glaubenden zusammengerufen wurden und der Kirche die Verantwortung für die Bewahrung und Weitergabe der Botschaft Jesu anvertraut wurde. In Erfüllung dieses Sendungsauftrages der Kirche hat es im Laufe der Zeiten viele Formen und viele Ämter und Dienste gegeben. Maßgeblich hat das II. Vatikanische Konzil grundlegende Aussagen der dogmatischen Konstitution Lumen Gentium (LG) über das Kirchenverständnis und die Bedeutung und Stellung des kirchlichen Dienstes getroffen.1 Dabei ging es auch um die Mitwirkung der Laien und deren Anteil am kirchlichen Dienst. Da ist von Einheit des Leibes Christi (LG 4 u. 7), von Gemeinschaft und Communio (LG 13–15) und vom pilgernden Gottesvolk die Rede, das heißt von einer Größe, die geschichtlich unterwegs ist (LG 8).

Die Kirche ist nach dem II. Vatikanischen Konzil Volk Gottes, aber eines Gottes, der nicht nur die absolute Transzendenz ist, sondern ein Gott der absoluten Immanenz, ein Gott des Lebens und der Geschichte. Die Kirche wird somit zum Dialog Gottes mit den Menschen. Mit dem Bild des Gottesvolkes will das Konzil die gemeinsame Verantwortung aller Gläubigen für das Evangelium und den Aufbau des Reiches Gottes verdeutlichen. Daneben, und dies wird sehr deutlich in der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes (GS) des II. Vatikanischen Konzils, gibt es auch eine Verantwortung des Glaubens und der Gläubigen gegenüber der Welt (GS 7). Und dieses geschieht maßgeblich durch das gelebte Leben.

Diese Mitverantwortung der Laien und der Sendungsauftrag an die Laien sowie die Bedeutung, die das Zeugnis des christlichen Lebens für die gesamte Sendung der Kirche hat, wird in dem Dekret über das Laienapostolat Apostolicam Actuositatem (AA) des Konzils noch detaillierter benannt. Das Dekret spricht von der Berufung aller Gläubigen zum Apostolat (AA 2) und alle sollen entsprechend ihren Fähigkeiten zum Wachstum und Aufbau der Kirche beitragen. Die Laien nehmen aufgrund ihrer Taufe teil am priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Christi und verwirklichen in der Kirche, aber vor allem und in besonderer Weise in der Welt, ihren Anteil an der Sendung des ganzen Gottesvolkes. Sie sind berufen, „nach Art des Sauerteigs, ihr Apostolat in der Welt auszuüben“ (AA 2).

II. Wandel der Ära

Nun erleben wir in der heutigen Zeit enorme und grundlegende Veränderungen in allen Bereichen des Lebens, der Gesellschaft, der Welt, die Auswirkungen auf den kirchlichen Dienst haben, beziehungsweise den kirchlichen Dienst verändern. Papst Franziskus sagte auf der Jahresversammlung der italienischen Bischöfe radikal: „Wir leben nicht in einer Ära des Wandels, sondern erleben den Wandel einer Ära“.2 Damit kündigte er einen beunruhigenden Wandel der Ära an und warnte gleichzeitig davor, sich in einer letztlich beruhigenden Ära des Wandels weiterhin einzurichten. Es ist der Wandel einer gesamten Ära, ein Übergang in ein neues Zeitalter. Die gesamte Ära wandelt sich. Das heißt nicht der Wandel ist der Motor der Veränderung, sondern die Veränderung des gesamten Kontextes. Das heißt nicht alles wird schneller, kurzfristiger, komplexer, unüberschaubarer, pluriformer, digitaler, brüchiger etc., sondern wir erleben den Wandel in ein Zeitalter der Pluralität, der Beschleunigung, Virtualität, Komplexität, der Migration etc.

Vier für den kirchlichen Dienst relevante Kennzeichen dieser neuen Ära möchte ich im Folgenden nennen:

1. Pluralität

Das erste Hauptkennzeichen ist die Pluralität, und zwar Pluralität in allen Bereichen, so auch in den Lebenswelten der Menschen. Peter Berger spricht hier von einem „Explosiven Pluralismus“, da sich die Möglichkeiten der Art und Weise zu leben, innerhalb von einer Generation sprungartig vervielfältigt haben.3 Wir verzeichnen eine Pluralität im religiösen Bereich und der Weltanschauungen; denn die Zahl der Religionen aber auch der Konfessionslosen steigt. Auch im ethischen Bereich erleben wir plurale Prozesse. Es finden immer mehr Debatten und Werturteile statt. Protestgruppen wie Rechtspopulisten und Rechtsradikale begründen mit dem Kampf um Werte ihr Engagement.

Die Kirche und der kirchliche Dienst stehen inmitten dieser pluralen Ära und müssen sich mit diesem Kontext auseinandersetzen. Die Pluralität wird noch durch die zunehmende Medialisierung exponentiell gesteigert.

Die Frage stellt sich, wie man in einer solchen pluralen Welt leben kann? In einer solchen Welt entstehen Ängste und Orientierungslosigkeit, Sehnsucht nach Geborgenheit und Heimat, nach Verbindlichkeit und Klarheit. All das sind Herausforderungen, vor der eine Kirche und ein kirchlicher Dienst inmitten einer Ära der Pluralität steht. Glaubwürdigkeit, Erkennbarkeit, Authentizität, Vertrauenswürdigkeit, Vorbildlichkeit erlangen dabei eine zunehmend wichtige Bedeutung.

2. Flüchtigkeit

Ein zweites prägendes Kontextmerkmal der neuen Ära, die Zygmunt Baumann als „Flüchtige Moderne“4 bezeichnet, ist das veränderte Raum- und Zeitgefühl. Nichts ist von Dauer. Die Zeit ist nicht länger ein Kontinuum, das sich als verlässliche Konstante durch die Lebensgeschichte zieht, sondern ist eine Abfolge von Episoden. Die Zeit wird auf den Punkt gebracht. Der Augenblick, die Jetzt-Zeit wird zum entscheidenden Zeitmaß und Zeitgefühl.

Auch die menschliche Identität durchläuft diesen Episodenprozess. Man spricht von der flüchtigen Identität und von Patchwork-Identitäten. Die Identität ist keine Lebenslinie mehr, sondern eine Ansammlung von Episodenpunkten ohne inneren Zusammenhang. Menschen unserer Gegenwart sind nicht mehr eingebettet in ein festes System, das ihnen auf Dauer Sicherheit, Orientierung und Halt gibt, sondern sie sind „entbettet“. Und die flüchtige Moderne bietet auch keine Chancen zu einer Wiedereinbettung. Die Möglichkeiten sich neu zu betten, zerbröseln bevor man es sich bequem gemacht hat. Und in der Flüchtigkeit der Zeit herrscht Bettenknappheit.

Die zunehmende Beschleunigung führt zu einer zunehmenden „Entfremdung“ des Menschen, so der Soziologe Hartmut Rosa5. Das Paradoxe dabei ist, dass zum Beispiel durch technische Beschleunigungen wie Computer, Internet, Verkehrsmittel wie Auto, Haushaltstechnologien wie Geschirr- und Waschmaschine, nicht mehr Zeit zur Verfügung gestellt wird, sondern die Menschen noch gehetzter werden. Immer mehr E-Mails müssen geschrieben werden, immer größere Entfernungen müssen bei Arbeit und Freizeit zurückgelegt werden, immer mehr Kleidungen und Geschirr werden angeschafft und werden gebraucht. Der Grund liegt darin, dass die Wachstumsraten höher als die Beschleunigungsraten sind und die Zeitknappheit ein ständiger Begleiter ist. Wachstum, Wettbewerb, und das zunehmende Problem der Endlichkeit in der diesseitigen Welt sind die Motoren dieser Beschleunigung. Die Folge dieser Beschleunigung ist, dass die Zeit schrumpft. Hartmut Rosa spricht hier von einer sogenannten Gegenwartsschrumpfung. Der Erfahrungsraum der Vergangenheit und der Erwartungsraum der Zukunft fallen zusammen, schrumpfen zur Jetzt-Zeit zusammen. Durch die Beschleunigung durch Multitasking wird das Leben erlebnisreicher aber auch erfahrungsärmer.

Auch der Raum und das Raumgefühl schrumpfen mit zunehmender Beschleunigung zum Beispiel im Transportwesen und in der Kommunikation. Moderne Reisende kämpfen mit Flugplänen, Umsteigezeiten, Staus und Verspätungen, aber nicht mehr mit dem Hindernis des Raums. Der Raum wird in der Moderne immer kleiner. Der Raum verliert dabei aber auch für die meisten sozialen Handlungen und Interaktionen seine vorrangige Bedeutung. Dieses hat Auswirkungen auf unser Empfinden des In-der-Welt-Seins.

3. Neue Lebensformen

Wie leben die Menschen in dieser Flüchtigkeit, in der flüchtigen Moderne? Zygmunt Baumann beschreibt die Lebensweise in der vorhergehenden Ära der Moderne mit der Figur des Pilgers.6 Der Pilger ist auf der Suche nach der Wahrheit, auf dem Weg zu einem bestimmten Ziel. Für den Pilger sind Raum und Zeit noch feste verlässliche Konstanten.

In dem Wandel der Ära von der Moderne in die flüchtige Moderne ist das Leben als Pilgerreise aber nicht mehr gegeben. Die Zukunft ist nicht mehr kontrollierbar. Der Aggregatzustand der neuen Ära ist fluid. Muster, Ordnungen, Strukturen, Pläne verflüssigen sich und nehmen immer wieder neue Formen an.

In der flüchtigen Moderne wird die Lebensform des Pilgers abgelöst. Zygmunt Baumann ersetzt den Pilger durch neue Typen und Lebensstile. Der post-moderne Mensch in der postmodernen Gesellschaft agiert mehr und mehr als Flaneur, als Vagabund, als Tourist und als Spieler.7 Dabei wechseln diese Typen innerhalb eines Lebens. Es gibt kein entweder - oder, sondern jeder Typ vermittelt einen Teil der Geschichte.

Der Flaneur bewegt sich als Fremder unter Fremden und ist ihnen selbst ein Fremder. Begegnungen sind Episoden, es sind Ereignisse ohne Vorgeschichte und Konsequenzen. Der Flaneur nimmt flüchtige Bruchstücke auf und spinnt sie zur Geschichte zusammen. Er baut ein eigenes Drehbuch zusammen ohne Einfluss auf das Schicksal, die Geschichte etc. Unter Flanieren versteht man alltagssprachlich ein Herumspazieren. Der Ort des Flaneurs ist die Einkaufsstraße. Hier lässt sich bequem von einem Platz zum nächsten wandern.8

Der Vagabund kann und will niemals ein Einheimischer sein. Er gewöhnt sich nicht allzu sehr an einen Ort, weil andere unbekannte Orte winken und möglicherweise besser als der jetzige sind und ihn weitertreiben. Das fällt ihm auch nicht schwer, da es immer weniger beständige Orte gibt. Der Vagabund ist nicht Vagabund aufgrund widriger Umstände oder Unfähigkeit, sich niederzulassen, „sondern aufgrund der Knappheit an besiedelten Orten“.9

 

Der Tourist ist wie der Vagabund ständig auf Achse. Der Tourist ist allerdings im Vergleich zum Vagabunden freiwillig unterwegs. Ihn treibt die Lust an neuen Erfahrungen. Er will den Kitzel des Fremdartigen und Bizarren, den er aber abschütteln kann, wenn er genug hat. Im Gegensatz zum Vagabunden hat der Tourist ein Heim, in das er zurückkehren kann, was ihm dann aber wieder auf Dauer zu eng wird und es ihn wieder hinaustreibt. Der Tourist schwankt zwischen Heimweh und der Furcht vor der Heimatgebundenheit. Auf seinen Reisen wagt sich der Tourist zwar in fremde, aber abgesicherte und geregelte Gebiete. Baumann formuliert es so: Die Welt des Touristen ist „grenzenlos, freundlich, willig gegenüber den Wünschen und Launen des Touristen und immer zu Diensten“.10

Schließlich der Spieler. Im Spiel gibt es weder Unvermeidlichkeiten (das heißt Zwang) noch reinen Zufall, das Spiel ist nicht vorhersagbar aber durch Spielregeln auch nicht unabänderlich. Es geht um Spielzüge, darum seine Karten möglichst gut auszuspielen. Der Spieler ist auf die Einschätzung und Abwägung von Risiko und seiner Intuition angewiesen. Jedes Spiel muss ein Anfang und ein Ende haben. Das Ende darf wiederum das nächste Spiel nicht beeinflussen. Das oberste Ziel eines Spiels ist es, zu gewinnen. Daher gibt es im Spiel keinen „Raum für Mitleid, Erbarmen, Mitgefühl oder Zusammenarbeit“.11

Flaneure, Vagabunden, Touristen, Spieler - das sind die Lebensformen des Menschen in der postmodernen Welt. Es fehlt an Verbindlichkeit, Verantwortlichkeit, Langfristigkeit, Beständigkeit. Das Leben wird zum Spaziergang, zum Bummeln, zum Entdecken, ein Streben nach dem Sieg. Der Mensch wird zunehmend heimatlos. Die gemeinsame Grundtendenz dieser vier Typen ist die zunehmende Fragmentierung menschlicher Beziehungen. Beziehungen werden mehr und mehr oberflächlich und schnell widerrufbar. Orte lösen sich auf, Arbeitsplätze lösen sich auf oder verändern sich ständig. Unsicherheit wird zum Lebensmotiv. Was ist heute noch sicher?

4. Wahrnehmungssehnsucht

Kommen wir kurz zu einem vierten Aspekt der heutigen Kontexte. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Pluralisierung der gegenwärtigen Gesellschaft und Lebenswelten treten immer häufiger Individualisierungsphänomene auf. Der heutige Lebensplan sieht vor: maximale Selbstverwirklichung und das ganz große Glück. Die Menschen müssen immer mehr ihr Leben in eigener Regie entwerfen. Selbstthematisierungen und Selbstinszenierungen wie Castingshows in der Modewelt, aber auch die vielen Biographien, die verstärkt auf den Büchermarkt kommen, sind Zeichen dieser Individualisierung. Das Selfie, das mit einer Digitalkamera oder einem Smartphone aufgenommene Selbstportrait, ist zum Trend der letzten Jahre geworden. Dahinter steckt die Ursehnsucht des Menschen nach Wahrnehmung und Anerkennung. Man will wahrgenommen werden. Das ist wie beim Theaterkünstler auf der Bühne, der das Zuschauen braucht. Der österreichische Schriftsteller Peter Handke sagte in seinem 2006 veröffentlichten Gespräch mit Peter Hamm: „Das Zuschauen ist etwas, das wir alle brauchen, dass uns jemand zuschaut auf eine umfassende Weise.“12 Durch Wahrnehmung und Anerkennung bekommt unser Sein einen Sinn und wir unsere Identität. Identität ist zunehmend eine Aufgabe geworden. Identität ist die Arbeit an der eigenen Geschichte. Wer heute gefragt wird, wer er ist, der antwortet nicht mit seiner Berufsbezeichnung z. B. ich bin Lehrer, ich bin Apotheker, sondern man erzählt seine Geschichte, wie man zu dem geworden ist, was man gerade macht. Erzähle mir, wer du bist. Es sind die Selbsterzählungen, die Selbstnarrationen, die zur Identität konstruiert werden. Man spricht in der heutigen Identitätsforschung von einer sogenannten narrativen Identität13. Diese Individualisierungsprozesse und die Sehnsucht, wahrgenommen zu werden, führen die Menschen aus der Gesellschaft (sei sie als anonym, kalt, plural etc. gekennzeichnet) heraus in die Gemeinschaft hinein. Auf den Unterschied von Gesellschaft und Gemeinschaft hat schon Anfang des letzten Jahrhunderts der Soziologe Ferdinand Tönnies14 hingewiesen. Durch Privatisierung und Rückzugsbewegung aus dem öffentlichen Leben mit gleichzeitiger Zuweisung für öffentliche und staatliche Leistungen und Aufgaben sucht der heutige Mensch eher Gemeinschaften auf.

Was haben diese aktuellen soziologischen Zeitdiagnosen für eine Bedeutung, bzw. was für eine Herausforderung ergibt sich aus diesen Kennzeichen und schließlich: was hat dies für Folgen für Kirche, für kirchliche Einrichtungen und den kirchlichen Dienst heute?

III. Kirchlicher Dienst und Dienstgemeinschaft

Die Kirche und jeder einzelne Christ tragen in der Nachfolge Jesu dazu bei, dass Menschen ein erfülltes Leben finden können und Gemeinschaften und Gesellschaften menschenwürdig gestaltet werden und leisten damit einen Beitrag zum Aufbau des Reiches Gottes. Dieser Grundauftrag wiederum bedeutet, dass alle in einer Einrichtung der Kirche Tätigen, unabhängig von ihrer arbeitsrechtlichen Stellung, mit dazu beitragen, dass die Einrichtung ihren Teil am Sendungsauftrag der Kirche leisten kann.

Zum größten Teil sind die kirchlichen Dienste und Einrichtungen dem tertiären Sektor zugeordnet, das heißt dem Dienstleistungssektor. Sie erbringen Dienstleistungen wie andere Dienstleistungsbetriebe auch und zwar maßgeblich im Bereich der Krankenpflege, Sozialfürsorge, Beratung, Schule, Erwachsenenbildung und Verwaltung.15 Bei aller Vergleichbarkeit des kirchlichen Dienstes mit anderen Diensten im betriebswirtschaftlichen und ökonomischen Bereich, stellt der kirchliche Dienst jedoch eine Besonderheit dar. Um die Eigenart und Unterscheidung des kirchlichen Dienstes zu kennzeichnen, ist der Begriff der „Dienstgemeinschaft“ geprägt worden.

Norbert Feldhoff, dem diese Festschrift gewidmet ist, hat in seiner Funktion als Generalvikar und als Dompropst des Erzbistums Köln, aber auch als Vizepräsident des deutschen Caritasverbandes und langjähriger Vorsitzender der arbeitsrechtlichen Kommission bei allen seinen Vorträgen und Veröffentlichungen auf die Besonderheit und Bedeutung der Dienstgemeinschaft hingewiesen.16 Er stellte dabei klar, dass die Dienstgemeinschaft kein soziologischer Begriff ist, der die Gemeinschaft aller in der kirchlichen Einrichtung Tätigen meint, sondern ein „religiös begründetes Leitprinzip des kirchlichen Dienstes“17 ist. In dem 2010 vom deutschen Caritasverband verabschiedeten Text „Impulse für den Begriff der Dienstgemeinschaft“18 wird eine Unterscheidung der unterschiedlichen Bedeutungsaspekte dieses Begriffs vorgenommen. Zum Ende des Dokumentes heißt es:

„Die Zusammenstellung der verschiedenen Inhalte und Deutungen des Begriffes Dienstgemeinschaft zeigt, dass es sinnvoll ist, vor allem zwischen zwei wichtigen Funktionen des Begriffs zu unterscheiden. Die erste betrifft vor allem arbeitsrechtliche Aspekte. Die zweite betrifft Aspekte einer christlich geprägten Organisationskultur in Caritaseinrichtungen. (…) Bei der Verwendung des Begriffs Dienstgemeinschaft ist stets zu präzisieren, welche Aspekte des Begriffs gemeint sind: Die arbeitsrechtlichen oder die kulturellen Aspekte.“19

Der Caritasverband warnt sogar davor, den Begriff Dienstgemeinschaft außerhalb des Arbeitsrechtes zu verwenden.

Gerade Norbert Feldhoff ist es zu verdanken, dass er auf die kulturellen Aspekte und näher hin das theologische Fundament kirchlicher Dienstgemeinschaft hingewiesen hat.20 So sagt Feldhoff anknüpfend an die Enzyklika Novo Millennio Ineunte von Papst Johannes Paul II.: “Wenn die Mitarbeiter in unseren Diensten und Einrichtungen wirklich das ‚kostbarste Vermögen‘ sind, dann müssen sie ernst genommen werden.“21

In der Präambel der Erklärung der deutschen Bischöfe von 1993 zum kirchlichen Dienst heißt es:

• „Der Berufung aller Menschen zur Gemeinschaft mit Gott und untereinander zu dienen, ist der Auftrag der Kirche.“

• „In lebendigen Gemeinden und Gemeinschaften bemüht sie sich, weltweit diesem Auftrag durch die Verkündigung des Evangeliums, die Feier der Eucharistie und der anderen Sakramente sowie durch den Dienst am Menschen gerecht zu werden.“

• „Diese Sendung verbindet alle Glieder im Volk Gottes, sie bemühen sich, ihre je an ihrem Ort und je nach ihrer Begabung zu entsprechen.“

• „Diesem Ziel dienen auch die Einrichtungen, die die Kirche unterhält und anerkennt, um ihren Auftrag in der Gesellschaft wirksam wahrnehmen zu können. Wer in ihnen tätig ist, wirkt an der Erfüllung dieses Auftrags mit. Allen, die in den Einrichtungen mitarbeiten, bilden- unbeschadet der Verschiedenheit der Dienste und ihrer rechtlichen Organisation- eine Dienstgemeinschaft.“22

In diesem Sinne haben alle Dienste und Einrichtungen der Kirche einen diakonischen Charakter. Wenn auch dem Begriff nach die Dienstgemeinschaft ein deutsches Sondergut ist, so ist sie nach dem theologischen Gehalt ein universalkirchliches Gemeingut, wenn es sich basierend auf dem Kirchenverständnis des II. Vatikanischen Konzils auf die Gemeinschaft des Dienstes zum Heil der Menschen bezieht.23 Der kirchliche Dienst gehört zum Wesen der Kirche und ist ein elementarer Lebensvollzug der Kirche.

Wenn wir von einem Wandel der Ära ausgehen mit den genannten Kennzeichen, dann stellt sich die Frage, welche Konsequenzen dieses für den kirchlichen Dienst hat.

IV. Kirchlicher Dienst als Ort der Kirche

Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen aber auch der zunehmend verschärften wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie Anbieterwettbewerb, Kostendruck durch die Einführung neuer Vergütungssysteme, die Umstellung vom Kostendeckungsprinzip auf Leistungsentgelte, die zunehmende Ausgliederung bestimmter Einrichtungen (Outsourcing)24 muss der kirchliche Dienst verändert werden, bzw. modernisiert werden, um auch künftig in leistungsstarken und zukunftssicheren Einrichtungen zur Umsetzung zu kommen. Die kirchliche Trägerschaft, in deren Einrichtungen die kirchlichen Dienste stattfinden, muss neu aufgestellt werden. Für die kirchlichen Träger kommt es darauf an, den politischen und gesellschaftlichen Verlust so aufzufangen, dass das Ende der finanziellen Möglichkeiten des Staates nicht zugleich das Ende der kirchlichen Trägerschaft bedeutet. Die Konzentration der Kräfte in große Trägergesellschaften führt zu einem Verlust der Trägervielfalt. Was, so ist zu fragen, wird aus der gemeinschaftsorientierten und ortsverbundenen Eigenart der Dienste kirchlicher Träger, wenn eine wachsende Zahl kleinerer Träger aufgibt und letztlich nur einige wenige Sozialkonzerne existieren?25 Was wird aus der Trägervielfalt als Ausdruck persönlichen Engagements kleiner Gruppen und Gemeinschaften? Für den kirchlichen Dienst und die kirchliche Trägerschaft darf nicht das enttäuschte Vertrauen in die finanziellen Möglichkeiten des Staates durch ein optimistisches und einseitiges Vertrauen in die Möglichkeiten des Marktes und die Arbeitsweisen moderner Wirtschaftsunternehmen ersetzt werden. Die notwendigen ökonomischen Überlegungen und Ausrichtungen müssen auf „kirchengemäße“ Weise geschehen, weil ansonsten die eigentliche Leistung, der eigentliche Sinn, der sich in den Bereichen pastoraler Begleitung, Verkündigung, Bildung, Diakonie, Kult, Kultur und in menschenfreundlichem, sinnvermittelndem Klima äußert, verlorengeht. Zum Schaden für die Menschen, die diesen Dienst brauchen oder ausüben.

Norbert Feldhoff formuliert es so:

„Als Mitarbeiter und Träger kirchlicher Einrichtungen stehen wir vor der Erwartung, dass es in unseren Dienstgemeinschaften irgendwie anders, humaner - christlicher eben - zugehen soll, als in rein privatwirtschaftlichen Organisationen oder staatlichen Betrieben.“26

Das ist auch der Grund, warum gerade in Zeiten der pluriformen, flüchtigen Moderne viele Menschen dem Angebot und Diensten in kirchlicher Trägerschaft vertrauen. Viele entscheiden sich für ein kirchliches Krankenhaus, für eine katholische Schule oder einen kirchlichen Kindergarten, wenn sie die Auswahl haben. Dazu trägt sicher der hohe Stellenwert einer ganzheitlichen Betrachtungsweise in kirchlichen Einrichtungen bei.

 

In diesem Zusammenhang stellt das Thema Personal und Führungskräfte eine wichtige Herausforderung dar. Je mehr, wie bei den postmodernen Lebensformen beschrieben, ein bindungsloses Freiheitsverständnis idealisiert wird, desto weniger Raum bleibt für die Entfaltung der Fähigkeit, sich in den Dienst des Nächsten zu stellen, für ihn dauerhaft nicht nur professionell, sondern auch menschlich da zu sein und in diesem Tun Freiheit zu erfahren. Von dieser Alternative zum modernen Freiheitsideal, von der Unverbindlichkeit, Unbeständigkeit, ungebundener und ungehinderter Selbstentfaltung, lebt aber gerade der kirchliche Dienst.

Kirchliche Trägerschaft, kirchliche Dienstgemeinschaft braucht Personen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die offen sind für dieses in der Ära der Flüchtigkeit, Unverbindlichkeit, Schnelllebigkeit, der Sehnsüchte und Ängste unverzichtbare Lebensideal.

Dringend erforderlich ist daher in heutigen Zeiten die Personalarbeit. Personalarbeit ist dabei Bildungsarbeit, ist Befähigung zur Kultur des gemeinsamen Lebens. Sie ist das Herzstück kirchlicher Trägerschaft. Norbert Feldhoff verweist in diesem Zusammenhang auf das biblische Zitat Mk 6,34: „Bei euch muss es anders sein“ und plädiert für ein partnerschaftliches Miteinander in der Dienstgemeinschaft.27

Dies bedeutet, dass der kirchliche Dienst nicht auf Organisation reduziert werden darf. Er lebt von Menschen, die Kirche leben und die sich in ihrem Dienst, seien es Dienstnehmer oder Dienstgeber, an den jeweiligen Gründungspersönlichkeiten der Einrichtung oder an andere Vorbilder aus der Geschichte und im letzten an Jesus Christus in ihrer eigenen Dienstgemeinschaft orientieren.

Die Frage nach dem Personal führt letztlich zum Selbstverständnis und zur Identität des kirchlichen Dienstes in der heutigen Zeit, in einer neuen Ära. Nun wurde in der Vergangenheit die rechtliche und zeitliche Organisation aus guten Gründen derjenigen von Wirtschaft und öffentlichen Dienst angepasst. Nicht zuletzt machte die Übernahme der Tarife des öffentlichen Dienstes für die meisten Mitarbeitenden im kirchlichen Dienst das Arbeitsverhältnis gegen Bezahlung zum maßgeblichen Leitbild auch im kirchlichen Dienst. Dabei wird mittlerweile auch in der Wirtschaft inzwischen in weiten Teilen erkannt, dass die Pflege und der Erhalt der geistigen Werte, der Vorstellungen, Ideale und Identitäten, die das Unternehmen tragen, nicht weniger wichtig sind, als die ausschließlich pragmatische Gestaltung der Strukturen.

In dem viel beachteten Buch von Thomas J. Peters und Robert H. Waterman jr. über den Erfolg amerikanischer Unternehmen, das 1982 unter dem Titel „Insearch of Excellence“28 erschienen ist, steht:

„Ich glaube, der wirkliche Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg lässt sich sehr häufig darauf zurückführen, wie gut das Unternehmen es versteht, die großen Energie- und Talentreserven seiner Mitarbeiter zu nutzen. (…) Bei jedem erfolgreichen Unternehmen, das über viele Jahre Bestand hat, wird man wahrscheinlich feststellen, dass es seine Widerstandskraft nicht der Organisationsform oder einer gekonnten Verwaltung verdankt, sondern der Kraft der Überzeugung und dem Maß, in dem sich die Menschen im Unternehmen diese Überzeugungen zu eigen machen.(…) Ich bin fest überzeugt, dass jedes Unternehmen, um zu überleben und erfolgreich zu sein, einen solchen Bestand an Grundüberzeugungen braucht, von denen es sich bei allen Entscheidungen und Maßnahmen leiten lässt. Sodann glaube ich, dass der wichtigste Einzelfaktor für den Unternehmenserfolg das getreuliche Festhalten an diesen Überzeugungen ist.“29

Bezüglich der Grundüberzeugung bringt Norbert Feldhoff in seinen Vorträgen und Artikeln zum kirchlichen Dienst die katholische Soziallehre ins Spiel30, die von Solidarität, Subsidiarität, Personalität, aber auch von Partizipation und Mitbestimmung spricht. Der Mensch muss bei allem Geld, Maschinen, Strukturen etc. wiederentdeckt werden.

„Für alle unsere Dienste und Einrichtungen in Pastoral, Bildung und Caritas müssen die Menschen, für die wir da sind, im Mittelpunkt stehen. Genauso wichtig ist allerdings, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die diese Dienste leisten, im Mittelpunkt der Sorge und Verantwortung der verantwortlichen Träger und Leitungen stehen müssen.“31

In allen diesen Bereichen der Finanzen, der Mitarbeitenden und dem Selbstverständnis und der Identität kirchlicher Träger und Dienste stehen wir zurzeit in einem Wandel des Bestehenden. Der arbeitsrechtliche Dritte Weg wird zunehmend in Frage gestellt. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirche wird durch die aktuellen Urteile des Europäischen Gerichtshofes und des Bundesarbeitsgerichts neu zu bestimmen sein. Die Loyalitätsanforderungen werden der Realität angepasst. Die Glaubwürdigkeit der Kirche und kirchlicher Arbeitgeber wird auch unter dem Aspekt Umgang mit Sexualität und den Missbrauchsfällen (spiritueller, sexueller, pädophiler etc.) auf den Prüfstand gestellt. Die arbeitsrechtliche Grundordnung des kirchlichen Dienstes seit 2015 muss an vielen Stellen noch umgesetzt werden.

Doch für diesen Wandel der Ära gilt das, was Paulus im Römerbrief zum Wandel sagte:

„Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euch durch ein neues Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist.“ (Röm 12,2)

Feldhoff sagt:

Es geht vor allem „um die Kultur in unseren Einrichtungen und Diensten. Es schadet der Glaubwürdigkeit der Kirche, wenn wir nach außen für ‚Dienstgemeinschaft‘ eintreten, in unseren Unternehmen aber kaum etwas von Gemeinschaft des Dienstes zu spüren ist.“32