Integrative Medizin und Gesundheit

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2.1 Einleitung

Die Mind-Body-Medizin umfasst medizinische Verfahren, welche darauf abzielen, die Selbsthilfe- und Gesundheitskompetenz der Individuen zu stärken, wofür heute insbesondere mentale, aber auch körperliche Techniken zum Einsatz kommen. Sie stellt einen zentralen Teil der Integrativen Medizin dar (Dobos et al. 2006) und ist in diesem Kontext sowohl zentrales „Instrument“ ganzheitlicher und ressourcenorientierter Therapieansätze geworden als auch konzeptioneller Rahmen einer exponentiell wachsenden Erforschung von Grundlagen und Wirkmechanismen der Salutogenese, wozu nunmehr auch die Placebo-, Achtsamkeits- und Meditationsforschung gehören (Esch 2020). Insbesondere die moderne Meditationsforschung hat einen wesentlichen Anteil daran, dass die Mind-Body-Medizin nicht nur populär geworden, sondern auch wissenschaftlich „integrativ wirksam“, d.h. breitenwirksam und zu vielen wissenschaftlichen Disziplinen der Grundlagen- und klinischen Forschung (und deren Anwendung) anschlussfähig geworden ist.

2.2 Mind-Body-Medizin: Wie alles begann …

Im Jahr 1982, zu einer Zeit, in der Begriffe wie „Selbstheilung“ oder gar „Meditation“ keinesfalls allfälliger Jargon des gehobenen Feuilletons oder gar der medizinisch-wissenschaftlichen Fachpresse waren, berichtete die New York Times erstmalig über atemberaubende Studien einer Gruppe von Wissenschaftlern um den Harvard-Kardiologen Herbert Benson (vgl. Esch 2014): Ausgestattet mit vagen Schilderungen von wundersamen Ritualen tibetischer Mönche in den entlegenen Höhen des Himalayas und einer eher „wirren“ Beschreibung von im Westen bis dato kaum bekanntem „g Tum-mo“ (Hitze-Yoga) hatte Benson sich auf den – buchstäblich – steinigen Weg gemacht, um dem vermeintlichen Geheimnis mit modernen wissenschaftlichen Methoden auf die Schliche zu kommen. Im Raum stand die zu untersuchende Behauptung, jene Mönche seien in der Lage, ihre eigene Körpertemperatur auf „Knopfdruck“ um ein solches Maß zu erhöhen, dass sie damit eiskalte, feuchte Leinentücher, die man ihnen umgelegte, dampftrocknen konnten.

Auch wenn es sich um ein religiöses und nicht um ein medizinisches Ritual handelte, so erkannten die Mediziner doch die Bedeutung solcher Fähigkeiten, wenn sie wahr sein sollten; denn das sogenannte „autonome Nervensystem“ und andere Regulatoren, die für die Steuerung von u.a. Blutdruck, Herzfrequenz oder Körpertemperatur zuständig waren, galten bis dato als nicht durch den menschlichen Willen beeinflussbar. Wenn dieses zentrale Dogma des autonomen (vegetativen) Nervensystems wankte, müssten u.a. bestimmte Annahmen auch der Herz-Kreislauf-Medizin überdacht werden. Die Wissenschaftler machten interessante Beobachtungen auf ihrer Expedition, u.a. stellten sie bei den Mönchen während des geschilderten Rituals in der Körperperipherie Temperaturschwankungen von fast 10°C fest. Jener Unterschied – ein Anstieg im Vergleich zur Ausgangstemperatur – stellte sich überraschenderweise schon innerhalb weniger Minuten ein. Und die Tücher, die u.a. über den Rücken der Mönche gelegt wurden, waren bereits nach ca. einer Stunde trocken. Diese außergewöhnliche Fähigkeit verdiente fraglos weitere Ergründung.

2.3 Selbstheilung ist Kopfsache: Mind matters most

Wir kennen vergleichbare Phänomene heute aus dem sogenannten „Biofeedback“, und auch unter Hypnose können messbare Temperaturunterschiede auftreten. Jenes Phänomen, das Benson später in sein Konzept der „Entspannungsantwort“ (engl.: relaxation response) (Benson u. Klipper 2000) übernahm – dem physiologischen Gegenspieler der biologischen Stressantwort –, lässt sich schon mit einfachen Temperaturfühlern für jeden Teilnehmer eines Entspannungskurses schnell nachvollziehen. Diese Erkenntnis – d.h. die Beinflussbarkeit und Veränderbarkeit der peripheren Blutverteilung (und damit der peripheren Körpertemperatur) im Rahmen von Entspannungsritualen oder, in der gegenteiligen Richtung, im Kontext einer induzierten Alarmreaktion – war nicht neu, basierte sie doch u.a. auf den Forschungen des Harvard-Physiologen Walter B. Cannon, der Jahrzehnte zuvor in demselben Labor wie Benson über Stress und Regulation geforscht hatte. Neu war, dass Menschen fähig sein sollten, durch geistige („mentale“) Techniken auf die „unwillkürliche“ autonome Regulation gezielt Einfluss zu nehmen. Benson wurde schnell klar, dass seine wissenschaftlichen Ergebnisse zu kritischen Nachfragen führen würden. Und so machte er sich auf, um unter dem Begriff der „Mind-Body-Medizin“ die Untersuchung solcher Geist-Körper-Phänomene – und eine mögliche Bedeutung für die Medizin – zur Chefsache zu machen. An der Harvard Medical School gründete er das Mind/Body Medical Institute (heute: Benson-Henry Institute for Mind Body Medicine), dem er noch bis vor kurzem als Professor und Direktor selbst vorstand.

Doch von den ersten Untersuchungen im Himalaya bis zu den vertiefenden Studien „nach westlichem Standard“ – inklusive experimenteller humanbiologischer Studien unter Laborbedingungen – sollte es noch ein langer Weg sein. So dauerte es u.a. bis zum Jahr 2001, bis man die Bedingungen geschaffen hatte, um in einem „Kloster auf Zeit“ viele wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen oder zu wiederholen, die bis dato eher anekdotenhaft geblieben waren. Diese initialen Untersuchungen waren die Voraussetzung für eine vernünftige Begründung nachgelagerter wissenschaftlicher Forschungsfragen und Studien, die weltweit nun Beachtung fanden. Plötzlich begann man sich allerorten für solche Mind-Body-Phänomene (auch für die Meditationsforschung generell) zu interessieren, nicht nur in Medizin und Physiologie. Zentrale Fragestellungen waren: Wie ist die Evidenz der Mind-Body-Medizin? Was sind Wirkungen, was die Wirkmechanismen und -wege, die dahinterstehen? Welche Bedeutung haben sie für den gesunden und kranken Menschen? Wie kann die Mind-Body-Medizin gesundheitsförderlich, präventiv oder therapeutisch genutzt werden? Wann, für wen? Jetzt spätestens begann eine neue Ära der Selbstregulationsforschung und der Mind-Body-Medizin.

2.4 Rituale und eine Kultur der Heilung

Der renommierte amerikanische Evolutionspsychologe Matt Rossano sorgte 2007 mit dem Artikel „Did Meditating Make Us Human?“ (Hat das Meditieren uns zum Menschen gemacht?) für Aufsehen, der im angesehenen Cambridge Archaeological Journal erschien (Rossano 2007). Die zentrale These von Rossano lautete: Lagerfeuer-Rituale, wie sie sich in der Form – ggf. mit Gesang, Tanz etc. – wohl erst beim modernen Menschen ereigneten und einer Art „Gruppen-Meditation“ gleichkamen, haben die Fähigkeit einer fokussierten Aufmerksamkeit trainiert, was wiederum zu einer Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses insgesamt geführt haben mag; dieses nicht nur beim Einzelnen, sondern auch im evolutiven, phylogenetischen Prozess. Rossano spekulierte, dass Meditation und das, was er „schamanistische Heilungsrituale“ nannte, unsere biologische und genetische „Fitness“ verbesserten. Jenen frühen Kult bezeichnet er, im Einklang mit anderen Wissenschaftlern, als die älteste Form einer Religion, wie sie darüber hinaus in praktisch allen traditionellen menschlichen Gesellschaften zu finden sei. So beschreibt auch Michael Balter in Science (Balter 2000), bezugnehmend auf Funde in der Grotta di Fumane in Norditalien, ca. 35.000 Jahre alte Steinplatten mit Darstellungen von menschlichen Umrissen, die deutlich Geweih als Kopfschmuck erkennen lassen – andernorts als typisch für Schamanen oder „Medizinmänner“ bekannt. Schon in den 1980er-Jahren hatten Richard Katz und andere Harvard-Anthropologen festgestellt (Katz 1982), dass schamanistische Heilungsrituale möglicherweise eine wichtige adaptive Funktion bei unseren Vorfahren hatten und einen Evolutionsvorteil darstellten. Teil jener Rituale waren wohl, folgt man u.a. Rossano, auch meditative Techniken.

Wir können davon ausgehen, dass derartige Rituale von frühesten schamanistischen Tänzen und Heilungszeremonien, von Gruppengesängen oder dem stillen Sitzen am Lagerfeuer, über Beschreibungen religiöser Praktiken in Mesopotamien oder Ägypten, bis hin zu jahrtausendealten präbuddhistischen Yoga-Formen in Tibet, nicht rein „zufällig“ in unseren menschlichen Handlungskanon aufgenommen bzw. konserviert wurden und heute in diversen Kulturen wiederentdeckt werden. Auch die Faszination, die derartige Rituale auf viele Menschen ausüben, mag kein Zufall sein. Der Soziologe und Anthropologe James McClenon geht sogar so weit zu behaupten (McClenon 2001), dass eine gewisse „Anfälligkeit“ für die vermeintlich vorteilhaften physiologischen und psychologischen Effekte von Meditations- und Heilungsritualen einen Selektionsvorteil in der menschlichen Evolution dargestellt haben könnte. Zumindest aber scheinen wir für die gesundheitsförderlichen, präventiven oder therapeutischen Wirkungen religiöser bzw. kulturell tief verwurzelter Medizin-Praktiken „voreingestellt“ zu sein, d. h. eine Art biologische oder genetische Veranlagung zu haben. Dabei ist das Anziehende dieses Ansatzes, meinen auch McClenon und Rossano, möglicherweise weniger im Glauben zu suchen (oder in einer spezifischen Religion), sondern im praktizierten Ritual selbst, welches als transreligiös interpretiert werden kann.

2.5 Rituale und Selbstheilung in der Medizin

Die moderne Medizin beginnt mit Hippokrates von Kos (460–371 v.u.Z.) und den Asklepiaden. Schon damals findet sich eine Betonung von Lebensstil bzw. „Lebenskunst“ als wichtige Voraussetzung für Gesundheit und Heilung. So war Hippokrates’ „Diaita“ weit mehr als eine Ernährungslehre. Es war auch eine Anleitung zur Selbstfürsorge. Ebenfalls wird schon mit der Dreiteilung gearbeitet, die von nun an lange bestimmend in der europäischen Medizin sein sollte: Neben der Chirurgie bzw. dem ärztlichen Eingriff und der Pharmakologie waren Lebensführung und Eigenverantwortung essenzielle Bestandteile nicht nur der Behandlung, sondern eben auch der Gesundheitsversorgung (vgl. Therapeia), Gesundheitsforschung (vgl. Hygieina) und Gesundheitsvorsorge (vgl. Prophylaxis). Interessanterweise spielte, neben der Tugendhaftigkeit, der Kunst und der Wissenschaft, auch die Religion eine wichtige Rolle beim Erhalt der Gesundheit. Lebensziel war u.a. der Erhalt von Ordnung, Ausgleich und Gesundheit. Dieses war eine Frage des systematischen Vorgehens (Wissenschaft), der gemäßigten, geordneten und ausdrucksvollen Lebensweise (Tugend, Kunst) sowie eines frommen oder religiösen Lebens, d.h. des Glaubens – hier v.a. als kulturelles Konstrukt. Selbstverantwortung war ein zentrales Element. In der Philosophie dieser Zeit spiegelten sich jene Auffassungen wider (u.a. bei Aristoteles) (vgl. Esch 2014).

 

In den folgenden Jahrhunderten tauchte immer wieder die Betonung der Selbstfürsorge im medizinisch-therapeutischen Kontext auf, aber auch im religiösen, denn nach wie vor waren beide Bereiche eng miteinander verbunden. Häufig äußerte sich diese „Synthese“ oder Einbindung im Sinne einer „inneren Kraft zur Heilung“, d.h. unter der Annahme einer Selbstheilungstendenz und -fähigkeit des Menschen. Wir finden eine derartige Komplementarität zwischen der „äußeren Medizin“ (oder Religion) einerseits und der Selbstfürsorge/-heilung (dem „inneren Arzt“) andererseits u.a. bei Galen im 3. Jahrhundert (vgl. van der Eijk 2011). Dieser orientierte sich an Hippokrates und Aristoteles und zeichnete eine Medizin vor, die davon ausging, dass Gesundheit – und nicht Krankheit – der Normalzustand sei (der Mensch also von Natur aus „gesund“) und dass funktionale Zusammenhänge und innere Regulationsprozesse zu beachten seien, welche prinzipiell die Tendenz zur Heilung hätten, d.h. zum „inneren Gleichgewicht“ führten. Der Arzt war in diesem Kontext mehr Unterstützer und Ermöglicher als eigentliches „Pharmakon“ oder „Agens“ – Medizin bedeutete, dass der Therapeut bzw. Behandler mit der Natur zusammenzuarbeiten hatte. Der Einzelne hatte in hohem Maße Einfluss auf die Gesundheit. Ähnliches finden wir später bei Paracelsus (vgl. Esch 2014) im 16. Jahrhundert, der u.a. das Zusammenspiel zwischen dem „Medicus“ – zuständig für medizinische Prozeduren und die Therapie (inkl. der Agenzien) – und „Archaeus“ beschrieb. Die Idee eines Archaeus entsprach dabei weitestgehend jenem „inneren Arzt“, einer ordnenden Kraft, die nach Paracelsus auch eine Verbindung zum fein- oder nichtstofflichen Bereich besaß. Gemeint war hier wohl das, was wir heute mit „Bewusstsein“ oder „Geist“ (engl. mind) bezeichnen – Konzepte, die es in dieser Form im heutigen Europa, kurz vor Descartes, nicht gab. Auch in der Ordnungstherapie eines Sebastian Kneipp im 19. Jahrhundert tauchen deutliche Analogien auf.

All diesen oben beschriebenen Entwicklungen war gemein, dass Heilung mit der Annahme regulativer Prozesse einherging, d.h. sie war dynamisch und strebte im Normalfall von sich aus zum Gleichgewicht, zur Gesundheit also, die wiederum der Beeinflussung durch den Einzelnen zugänglich war. Wenn diese „natürliche Tendenz“ zu Gesunderhalt oder Wiederherstellung (Restitutio) nicht ausreichte oder die Selbstregulation überfordert war, konnte Einflussnahme von außen geboten sein. Noch bei Rudolf Virchow im 19. Jahrhundert (Virchow 1875) findet sich jene Idee der Selbstregulation (und Krankheit als Manifestation einer Überforderung derselben), bevor sie im Zuge der aufkommenden Naturwissenschaft aus dem Blickfeld der Medizin geriet. Es kam zu einem Auseinanderdriften der zugrunde liegenden Konzepte, mit der Konsequenz, dass „Glaube“ (im beschriebenen Sinn) und Selbstregulation zunehmend an den Rand gedrängt wurden, zusammen oder getrennt voneinander. Dort, in der Naturheilkunde und Komplementärmedizin usw., überdauerten sie und führten, bis vor kurzem, ein bescheidenes, aber doch reales Dasein. In der sogenannten Schulmedizin tauchten sie als Placebo-Effekte (auch als Kontext- oder unspezifischer Effekte bezeichnet und seit dem Jahr 2000 zunehmend wissenschaftlich erforscht) immer wieder auf. Hier allerdings kamen sie aus der Hand des Arztes oder Wissenschaftlers, deren Bedeutung in einer Art Gegenbewegung kontinuierlich gewachsen war.

2.6 Heilung in der modernen Medizin

Heute sieht die Situation anders aus. Sei es aus Gründen der Kosteneffizienz, einer stärkeren „Kundenorientierung“, einer zunehmenden Hilflosigkeit bei chronischen und funktionellen Erkrankungen oder tatsächlicher wissenschaftlicher Erkenntnis in der Medizin: Ein zunehmender therapeutisch-medizinischer Pluralismus hält Einzug. Integration löst Separation ab, sagen Befürworter. Das blieb nicht ohne Widerstand, gerade auch in Deutschland. In den USA verlief die Debatte weniger aufgeregt: Dort hatten viele der geschilderten Ideen nicht nur in der Psychologie überdauert, was u.a. am großen William James lag, sondern z.B. auch in der Soziologie, die ebenfalls über Gesundheit und Ressourcen forschte. Themen wie Salutogenese, Kohärenz, Hardiness und Resilienz, d.h. innere Faktoren für Gesundheitsschutz, Widerstandsfähigkeit und Stressresistenz (vgl. Esch 2002), hatten es geschafft, sich auch an Elite-Universitäten zu halten und sich immer wieder – auch im medizinischen Kontext – Gehör zu verschaffen.

Ein Durchbruch erfolgte schließlich durch zwei parallele Entwicklungen: Die geschilderten Arbeiten u.a. zur Mind-Body-Medizin von Herbert Benson und sein Modell des „dreibeinigen Stuhls“ (s. Abb. 1) korrelierten mit einer „Psychologie des Gesunden“, der sogenannten „Positiven Psychologie“ (Esch 2017) bzw. „Resilienzforschung“ (Esch 2020). Das passierte mit maßgeblicher Unterstützung der amerikanischen Gesundheitsadministration und führte schließlich u.a. auch zur Etablierung einer wissenschaftlichen komplementären und Integrativen Medizin (Complementary and Integrative Medicine, CIM) unter Einbeziehung der Mind-Body-Medizin, neben der bereits bestehenden Gesundheitspsychologie. Die andere wichtige Entwicklung war eine sich intensivierende Meditations- und Bewusstseinsforschung, die auf eine immer stärker als Brückendisziplin auftretende, integrierend wirkende Neurowissenschaft traf, mit immer faszinierenderen technisch-wissenschaftlich-experimentellen Möglichkeiten. Ergänzt wurde diese Entwicklung noch durch die Förderung einer transdisziplinären Dialogkultur sowie durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zur Autoregulation und dem Placebo-Effekt.

Abb. 1 Dreibeiniger Stuhl eines modernen Gesundheitswesens bzw. einer ressourcenorientierten Medizin (in Anlehnung an Herbert Benson, angepasst und übersetzt von Tobias Esch [Esch 2017]).

2.7 Moderne Definition, Ausprägungen und Wirksamkeit der Mind-Body-Medizin

Die moderne Mind-Body-Medizin, wie sie v.a. in den USA zwischenzeitlich geläufiger Bestandteil der primären Gesundheitsversorgung geworden ist, vereint heute als Oberbegriff eine Vielzahl von wirksamen Ansätzen im Kontext einer individuellen bzw. „patientenzentrierten Gesundheitsfürsorge“ und ist daher konzeptionell und praktisch anschlussfähig zu vielen aktuellen Strömungen und Disziplinen in der praktischen Medizin, in Therapie- und Grundlagenforschung (Dobos u. Paul 2019). Sie ergänzt u.a. die bis dahin vorrangig somatisch orientierte allgemeine Medizin um verhaltens- und lebensstilorientierte Aspekte im Sinne einer professionellen Stärkung von Selbsthilfe- und Selbstheilungskompetenzen.

Das amerikanische Gesundheitsministerium beschreibt die Mind-Body-Medizin als Disziplin, die sich fokussiert auf (NIH 2019):

The interactions among the brain, the rest of the body, the mind, and behavior.

The ways in which emotional, mental, social, spiritual, experiential, and behavioral factors can directly affect health.

Mind-Body-medizinische Techniken sind dann solche, die (NCCIH 2019):

Intent to use the mind to affect physical functioning and promote health.

Enhance each person’s capacity for self-knowledge and self-care.

Die Mind-Body-Medizin basiert folglich auf der Anerkennung einer zentralen „Geist-Körper-Achse“, d.h. auf möglichen Interaktionen zwischen Gehirn und Körper bzw. Bewusstsein und Verhalten. Dabei steht im Zentrum die Frage, ob und wie emotionale, geistig-seelische (d.h. mentale), soziale, spirituelle, erfahrungs- und/oder verhaltensbezogene Faktoren die Gesundheit beeinflussen können. Mind-Body-medizinische Techniken wären dann folglich solche, die auf Grundlage dieser Annahmen die Gesundheitskompetenz und das Selbstfürsorgepotenzial der Individuen nachweislich stärken.

Die Mind-Body-Medizin kommt heute vielerorts praktisch zum Einsatz, v.a. im Kontext von primärer Prävention und Gesundheitsförderung sowie daneben in der Behandlung von lebensstilassoziierten, insbesondere chronischen oder funktionalen Erkrankungen. Hierunter fallen typischerweise die häufigsten Beratungsergebnisse, wegen derer die Menschen auch in Deutschland ihren (Haus-)Arzt aufsuchen (Laux et al. 2010) – beispielsweise muskuloskelettale Beschwerden (inkl. Schmerzerkrankungen und chronisch-entzündlichen/rheumatischen Erkrankungen), Fettstoffwechselstörungen, endokrinologische und metabolische bzw. ernährungsbedingte Erkrankungen (u.a. Diabetes mellitus II), Bluthochdruck, depressive Störungen oder Magen-Darm-Funktionsstörungen. Zusätzlich wird die Mind-Body-Medizin unterstützend in der Behandlung von onkologischen Erkrankungen sowie in der begleitenden Suchtbehandlung (z.B. bei der Raucherentwöhnung) wie auch zur allgemeinen Vorsorge, Gesundheitsförderung, Resilienzstärkung und Stressreduktion eingesetzt (vgl. Esch 2020).

Im Unterschied zur psychosomatischen Medizin ist der Einsatz der Mind-Body-Medizin nicht an eine (Psycho-)Pathologie oder das Vorliegen einer spezifischen psychosomatischen Störung gekoppelt. Mind-Body-medizinische Techniken können – müssen aber nicht – störungsspezifisch und indikationsbezogen eingesetzt werden. Im Gegensatz zur (tiefenpsychologischen) Psychotherapie aber ist das primäre Ziel der Mind-Body-Medizin nicht die Aufdeckung und Klärung eines (intra-)psychischen Konfliktes o.Ä., auch werden in der Regel keine psychodynamischen Erklärungen für ein Verhalten gesucht, das als defizitär eingeordnet wird (Paul u. Altner 2019). Mind-Body-medizinische Interventionen zielen stattdessen auf die Entwicklung gesundheitsfördernder Haltungen und Verhaltensweisen im Alltag ab. Diesem Ansatz liegt das Modell der Salutogenese zugrunde, d.h. die Annahme, dass es neben krankheitsauslösenden oder -begünstigenden Faktoren (vgl. Pathogenese) generell auch solche gibt, die primär Gesundheit erzeugen oder erhalten helfen, die sog. „Gesundheitsschutzfaktoren“ bzw. „Widerstandsressourcen“ und Belastungen kontrollierenden – „salutogenen“ – Faktoren (vgl. Antonovsky 1996; s. Kap. I.1).

Die Mind-Body-Medizin knüpft an der allgemeinen Idee der Selbstwirksamkeit und ihrer gezielten Förderung (Trainierbarkeit) u.a. im Rahmen einer ressourcenorientierten Integrativen Medizin an (Dobos et al. 2006). Das Individuum und seine individuellen Kompetenzen stehen dabei im Mittelpunkt. Auf der Ebene der Beschreibung ihrer Mechanismen und Wirkfaktoren wird häufig auch von der Auto- oder Selbstregulation bzw. einer „Selbstregulations-Medizin“ gesprochen (Esch 2014). Den konzeptionellen Rahmen bildet der bereits beschriebene dreibeinige Stuhl (s. Abb. 1). Als Mind-Body-medizinische Methoden sind Interventionsstrategien etabliert, die dem sog. „BERN-Prinzip“ folgen – dieses sind Maßnahmen, die entweder auf das Verhalten (B – Behavior), insbesondere das kognitive Denkverhalten (Handlungsbewusstsein), und/oder die Bewegungs- (E – Exercise) bzw. Entspannungspotenziale (R – Relaxation) und/oder eine gesunde Ernährung (N – Nutrition) abzielen (vgl. Esch u. Esch 2015). BERN ist kein definiertes Programm, sondern beschreibt als Akronym den Bezugs- und Handlungsrahmen, das „Framework“, der verschiedenen Mind-Body-Interventionen. Wichtiger Bestandteil dieses multifaktoriellen Ansatzes sind auch soziale Unterstützung (i.d.R. als Teil der Verhaltenssäule aufgefasst) sowie Spiritualität, Glaube und Meditations- bzw. Achtsamkeitstechniken (i.d.R. als Teil der Entspannungssäule). Damit reiht sich die Mind-Body-Medizin in allgemeine Prinzipien der Gesundheitsförderung ein.

 

Umgesetzt in der Praxis wird die Mind-Body-Medizin (wie auch individuelle Maßnahmen der Gesundheitsförderung) typischerweise im Rahmen der Primärprävention oder komplementär in der Behandlung von konkreten Erkrankungen, hier jedoch zumeist nicht aus der „Hand“ der behandelnden Ärzte, sondern durch speziell ausgebildete „Experten der Gesundheitsförderung“ (vgl. Werdecker u. Esch 2019). Aus diesem Grund wird hierfür auch vom „Zweitürenmodell“ gesprochen – der Idealvorstellung, dass Patienten bei konkreten Beratungsanlässen etwa in der Primärversorgung in eine (ambulante) Einrichtung gehen, um dort hinter zwei Türen jeweils zum einen auf den Arzt für das pathogenetisch ausgerichtete Behandlungsmanagement zu treffen, zum anderen auf den Therapeuten für Gesundheitsförderung bzw. Mind-Body-Trainer/-Instruktor, Ordnungstherapeuten (den Experten für Gesundheitsförderung und Salutogenese), für die gezielte Aktivierung der Selbstheilungs- und Gesundheitspotenziale. In den letzten Jahren hat sich die Evidenzlage für dieses Vorgehen bzw. den Einsatz der Mind-Body-Medizin in Prävention und Gesundheitsförderung – insbesondere in der Primärversorgung – sowie in der Therapie verschiedener Erkrankungen stark verdichtet (vgl. Esch 2020). Zusätzlich haben neuere Erkenntnisse potenzieller Mechanismen und Wirkfaktoren (s. Abb. 2; Esch u. von Bernus 2019) einen großen Vorschub für die zunehmende Verbreitung und Akzeptanz der Mind-Body-Medizin im Gesundheitswesen vieler Länder geleistet.