Integrative Medizin und Gesundheit

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5 Self-Care-Maßnahmen der Integrativen Medizin in einer digitalen Welt

Claudia M. Witt und Daniel Pach

Zusammenfassung

Die Digitalisierung spielt in der Gesellschaft und der Medizin eine rasant zunehmende Rolle. Zudem wird in Zeiten knapper Ressourcen im Gesundheitssystem mehr „Gesundheitskompetenz“ und „Self-Care“ der Bevölkerung gefordert. In der Mind Body Medicine spielt beides eine wichtige Rolle und ein Ziel ist die Stärkung der Selbstwirksamkeit. Digitale Angebote haben das Potenzial, einen niedrigschwelligen Zugang zu mehr Gesundheitskompetenz zu ermöglichen. Techniken der Verhaltensänderung lassen sich hier gut integrieren.

Im Digitalen-Versorgung-Gesetz wurde in Deutschland jüngst ein Leistungsanspruch der Krankenversicherten auf digitale Gesundheitsanwendungen ermöglicht. Das Potenzial ist groß und die digitale Medizin erlebt aktuell eine Aufbruchstimmung. Eine App mit medizinischem Bezug kann damit von Ärzten auf Rezept verordnet und von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden, wenn sie bestimmte Standards einhält. Davon kann auch die Integrative Medizin profitieren.

Unsere eigene Forschung zu Gesundheitsapps mit komplementärmedizinischen Interventionen zeigt, dass sich komplementärmedizinische Interventionen gut in digitale Gesundheitsanwendungen übersetzen lassen und wirksam sind. Zudem besteht großes Potenzial, künftig komplementärmedizinische Maßnahmen in konventionelle Apps zu integrieren.

Digitale Gesundheitsanwendungen und Integrative Medizin lassen sich grundsätzlich gut verbinden und es ist in Zukunft die Frage, wie ein gutes Zusammenspiel zwischen Behandelndem und Erkranktem besser mit der Digitalisierung verlinkt werden kann.

Summary

Digitalization is rapidly playing an increasingly important role in both medicine and, of course, society at large. In times of scarce resources in the health system, a heightened level of “health literacy” and “self-care” among the general population is a must. Both are crucial for Mind Body Medicine, one goal of which is to strengthen self-efficacy. Digital services have the potential to provide low-threshold access to increased health literacy. Behavioral change techniques can be easily integrated into this process.

The Digital Healthcare Act in Germany recently made it possible to benefit from digital health applications. The potential is great and digital medicine is currently experiencing the spirit of optimism. A medical-related app can be prescribed by doctors on prescription and reimbursed by statutory health insurance providers, if it meets certain standards. Integrative medicine can also benefit from this same process.

Our research on health apps with complementary medicine interventions shows that these interventions translate well into digital health applications and are effective. In addition, there is a great deal of potential when it comes to integrating complementary medicine interventions into conventional apps in the future.

Digital health applications and Integrative Medicine can be combined in an effective way while looking forward, the question is how a positive interaction between a health professional and a patient can be linked with digitalization in an optimized fashion.

5.1 Digitalisierung

Die Digitalisierung spielt in der Gesellschaft eine wichtige Rolle und Digital-Health-Interventionen nehmen im Alltag deutlich zu. Menschen kommunizieren über Smartphones, stimmen über e-Voting ab, kaufen online ein, leben in Smart Homes und lesen mindestens wöchentlich über die Fortschritte künstlicher Intelligenz in der Zeitung. So wie das Lesen, Rechnen und Schreiben ist der Umgang mit digitalen Medien und neuer Technik zentral für das tägliche Leben der meisten Menschen geworden. Die Digitalisierung betrifft also nicht nur Teile der Gesellschaft, sondern die Bevölkerung als Ganzes. Sie stellt bestehende Paradigmen infrage, ermöglicht neue Formen der Patientenversorgung und erfordert neue Fähigkeiten in einer sich rasch verändernden gesellschaftlichen Realität. Krankenkassen haben eigene Gesundheitsapps, und digitale Kompetenz ist die zentrale Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts geworden. Zum Beispiel haben sich psychotherapeutische Internetinterventionen in Studien (Karyotaki et al. 2018) den üblichen psychotherapeutischen Settings in ihrer Wirksamkeit nicht unterlegen gezeigt. Dadurch wird ein niedrigschwelliger und schneller Zugang zu einer Therapie wie Psychotherapie, die oft lange Wartezeiten mit sich bringt, ermöglicht. Allerdings lässt sich davon ausgehen, dass an solchen Therapiestudien vermehrt Menschen mit einem Interesse an digitalen Interventionen teilnehmen und die Ergebnisse nicht so einfach auf andere Erkrankte übertragen werden können. Andererseits entwickelt sich die Digitalisierung der Gesellschaft und damit auch der Medizin so schnell, dass dies in einigen Jahren vielleicht keine Frage mehr ist. Nichtsdestotrotz müssen Aspekte wie digitale Kompetenz der Betroffenen und Datenschutz in Zukunft mehr Beachtung finden.

5.2 Self-Care für Mind und Body

In Zeiten knapper Ressourcen im Gesundheitssystem wird der Ruf nach mehr „Gesundheitskompetenz“ der Bevölkerung laut. Es wurde festgestellt, dass die unzureichende Fähigkeit der Patienten, Gesundheitsinformationen zu verstehen und im Gesundheitssystem zu navigieren, ein wichtiger Indikator für die Unangemessenheit des Zugangs zur Gesundheitsversorgung ist. Darüber hinaus wird von Menschen mit problematischer Gesundheitskompetenz erwartet, dass sie im Umgang mit ihren gesundheitlichen Problemen eine schlechte Selbstwirksamkeit zeigen (Palumbo 2017). Digitale Angebote können einen niedrigschwelligen Zugang zu mehr Gesundheitskompetenz ermöglichen. Dies schließt neben reinen Gesundheitsinformationen auch die Kompetenz ein, Maßnahmen zur Prävention von Erkrankungen oder zur Behandlung leichter akuter Symptome (z.B. Erkältungen) oder chronischer Erkrankungen (z.B. Rückenschmerzen) selbstständig anzuwenden („Self-Care“).

Das Verständnis, dass ein Zusammenwirken von Mind und Body grundlegend für eine umfassendere Prävention aber auch die Therapie von Erkrankungen ist, ist Teil der integrativen Betrachtung von Gesundheit (Witt et al. 2017). Die sogenannte Mind Body Medicine (MBM) berücksichtigt dies, und so, wie sie aktuell in der Schweiz angewendet und gelehrt wird (Witt et al. 2019), ist Gesundheitskompetenz und Selbstwirksamkeit ein grundlegendes Ziel.

Im Rahmen der Self-Care werden zudem indikationsspezifisch evidenzbasierte Self-Care-Maßnahmen empfohlen. Da hierbei aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse mit langjähriger therapeutischer Expertise unter der Berücksichtigung der Werte und Wünsche der Patienten kombiniert werden, spielen auch digitale Methoden zunehmend eine wichtige Rolle. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es darum geht, für jeden Erkrankten die bestmöglich passende Intervention zu wählen und das kann je nach Bedürfnis der Person digital oder das übliche analoge Setting sein. Bei den konzeptionellen Bestandteilen der neueren digitalen Interventionen spielen neben den komplementärmedizinischen Elementen (z.B. Akupressur oder Entspannungsverfahren), insbesondere gesundheitspsychologische Aspekte wie z.B. Techniken der Verhaltensänderung (z.B. Zielbildung oder soziale Unterstützung), eine zunehmend wichtige Rolle.

5.3 Gesundheitsanwendungen in einer digitalen Welt

Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) finden im Alltag zunehmend Anwendung. Zu ihnen zählen die unkomplizierte Schrittzähler-App, die die zurückgelegten Schritte über das Smartphone oder die Smartwatch aufzeichnet, grafisch aufbereitet und somit zu mehr Bewegung im Alltag motivieren soll, oder auch ausgereifte multimodale digitale Therapiekonzepte zur unterstützenden Behandlung von Kopf- oder Rückenschmerzen (kaia 2020; M-sense 2020). Die Kombination von allgemeinen Informationen, multimedialen Anleitungen, Tracking, Feedback und anderen Maßnahmen zur Verhaltensänderung ermöglicht es Patientinnen und Patienten, ihre eigene Krankheitsvorsorge oder auch die Therapie stärker selbst in die Hand zu nehmen. Intelligente mobile Geräte, wie Smartphones, Smartwatches oder zukünftig smarte Kopfhörer, sogenannte Hearables, können ständig verfügbar sein und vielfältige Daten mit medizinischem Nutzen im Alltag sammeln, analysieren und bereits auch interpretieren. Diese Interpretationen und Handlungsempfehlungen können dann an die Nutzerinnen und Nutzer kommuniziert werden, auf Wunsch sogar häufiger und intensiver als üblicherweise in der Mensch-zu-Mensch-Interaktion bisher möglich ist. So versucht die digitale Gesundheitsanwendung vielleicht nach einem Tag, mit wenig Bewegung zum Beispiel zu einem Abendspaziergang anzuregen, regt an, bei einem stressigen Arbeitstag zwischendurch auch eine Minute achtsam zu pausieren, oder weist auf unregelmäßigen Herzrhythmus hin, der möglicherweise im Zusammenhang mit Vorhofflimmern steht (Perez et al. 2019). In Zukunft muss man vermutlich deutlich seltener zu seinem Arzt oder seiner Ärztin gehen, man hat sie am Handgelenk, in der Hosentasche oder trägt sie als intelligente Kopfhörer im Ohr.

Die digitale Medizin erlebt aktuell eine Aufbruchstimmung. Mit dem „Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG)“ wurde ein Leistungsanspruch der Versicherten auf digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) geschaffen (BfArM 2020). Dadurch können künftig Ärztinnen und Ärzte Apps verschreiben. Die gesetzliche Krankenversicherung übernimmt dafür die Kosten.

 

So können sich Patientinnen und Patienten, die zum Beispiel auf eine Psychotherapie warten, regulär bei einer existierenden elektronischen Variante einschreiben, die dann mit standardisierten Modulen und telemedizinischer Betreuung arbeitet (Selfapy 2020). Oder statt Physiotherapie wird es die Option geben, eine App zu nutzen, die zu symptomorientierten Übungen anleitet und diese ggf. sogar mittels Bilderkennung und maschinellem Lernen korrigieren kann.

Das Potenzial ist zweifellos sehr groß. Im besten Fall können die Veränderungen durch fortgeschrittene Digitalisierung die Autonomie der Patienten stärken, die Prävention von Erkrankungen verbessern und das Gesundheitssystem unter anderem aufgrund von Effizienzsteigerungen insgesamt preiswerter machen. Das Gesundheitssystem könnte sogar neu gedacht werden. Im schlechtesten Fall werden herkömmliche Angebote eingeschränkt, Monopole gebildet, und Patienten verlieren weiter ihre Autonomie sowie persönliche hoch schützenswerte Daten. Sie werden zum Spielball von Algorithmen, die intransparent über Diagnosen und Therapien (mit-)entscheiden und versuchen, die „Compliance“ der Nutzerinnen und Nutzer zu „optimieren“. Die paternalistische Herangehensweise kehrt zurück und die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die die Patientenrechte eher gestärkt hatten, würden damit konterkariert werden.

Ein bedeutendes Paradigma der modernen Medizin ist die evidenzbasierte Medizin. Hierbei beruht die optimale Therapie auf der Verknüpfung der besten klinischen Evidenz, der klinischen Expertise des Arztes und berücksichtigt dabei auch die Werte und Wünsche der Patientinnen bzw. Patienten (Sackett et al. 1996). Aktuell sind jedoch viele digitale Gesundheitsanwendungen bezüglich ihres medizinischen Nutzens nicht annähernd so gut untersucht, wie man es von Medikamenten und nicht-medikamentösen therapeutischen Verfahren inzwischen selbstverständlich erwarten würde. Interessanterweise spielte und spielt die fehlende Evidenz in der Diskussion zur Integration komplementärmedizinischer Verfahren in die Normalversorgung praktisch immer eine große Rolle. Verfahren, die nicht evidenzbasiert sind, gelten häufig als unwissenschaftlich, unabhängig davon, ob diese Verfahren aus Kostengründen nicht gut untersucht sind, oder sich bei gründlicher wissenschaftlicher Untersuchung als unwirksam oder unsicher erwiesen haben. Selbst komplementärmedizinische Verfahren, die inzwischen gut untersucht sind und gute Wirksamkeitsnachweise zeigen, wie die Akupunktur bei Allergischer Rhinitis oder zur Migräneprophylaxe, sind noch nicht Teil der Normalversorgung. Man hat den Eindruck, dass digitale Gesundheitsanwendungen aktuell deutlich weniger kritisch betrachtet werden als komplementärmedizinische Verfahren.

Die Regulierung nimmt jedoch inzwischen zu. Und auch der Druck, die Studienlage zu Digitalen Gesundheitsanwendungen zu verbessern, verstärkt sich bereits. Er wird sehr wahrscheinlich mittelfristig sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene weiter zunehmen.

Wesentlich für die Regulierung sind u.a. die ab Mai 2021 verpflichtend anzuwendende europäische Medizinprodukte-Verordnung (DIMDI 2020) von 2017 und das bereits angesprochene DVG. Dabei hat das DVG, welches Ende 2019 in Deutschland auf den Weg gebracht wurde, eigentlich zum Ziel, die Rolle der Digitalen Gesundheitsanwendungen zu stärken. Eine App mit medizinischem Bezug kann damit von Ärzten auf Rezept verordnet und von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden. Es muss jedoch auch ihr Nutzen sowie die Sicherheit nachgewiesen werden. Aufgrund der europäischen Medizinprodukte-Verordnung (DIMDI 2020), gelten sehr viele Apps mit medizinischem Bezug auch relativ schnell als reguliertes Medizinprodukt. Eine zunehmende Professionalisierung der Hersteller von digitalen Gesundheitsanwendungen wird damit notwendig werden, da die formalen und organisatorischen Anforderungen für ein Medizinprodukt relativ hoch sind. Sie sind so hoch, dass sie durch kleine dynamische Teams mit relativ wenig Kapital kaum zu meistern sein werden. Es bleibt abzuwarten, ob in Zukunft nur Produkte bereits etablierter oder besonders kapitalstarker Unternehmen eine Chance erhalten, langfristig durch die Krankenkassen erstattet zu werden. Dies wäre nicht nur im Hinblick auf Innovation und Konkurrenz bedauerlich, es würde vermutlich zu Monopolen für einzelne Themenfelder oder Indikationen führen. Dieser Umstand würde vermutlich einer Kostensenkung im Gesundheitssystem eher nicht in die Hände spielen.

Aber auch wenn durch die Regulierung digitale Gesundheitsanwendungen verstärkt wissenschaftlich untersucht werden, müssen wir noch einige Zeit warten, bis aussagekräftige randomisierte kontrollierte Studien in der Anzahl und Qualität verfügbar sind, wie es für pharmakologische Therapien selbstverständlich ist und auch regelmäßig für die Untersuchung komplementärmedizinischer Verfahren gefordert wird. Dies hat vielfältige Gründe.

Die Herausforderungen für die klinische Untersuchung digitaler Gesundheitsanwendungen sind vielfältig: Die Entwicklung der digitalen Technologien verläuft sehr schnell und unterliegt einer ständigen Anpassung (Michie et al. 2017). Traditionelle klinische Studien, die oft mehrere Jahre bis zu aussagekräftigen Ergebnissen benötigen, sind mit dieser Entwicklung nicht kompatibel. Während die Entwicklung eines neuen Medikaments 10 bis 15 Jahre in Anspruch nehmen kann, veröffentlichen die großen Hersteller von Smartphones mindestens einmal im Jahr ein neues Modell, inklusive des dazugehörigen überarbeiteten Betriebssystems. Eine neue App kann sogar in wenigen Monaten entwickelt werden.

Bei den Entwickelnden von digitalen Gesundheitsanwendungen ist häufig keine Expertise für klinische Studien vorhanden. Und auch ist noch unklar, wie klinische Studien adäquat beschleunigt werden können, um mit den technologischen Entwicklungen Schritt zu halten. Die universitäre Forschung verfügt nicht über professionelle multidisziplinäre Entwicklerteams, die für die Entwicklung kommerzieller App-Projekte inzwischen Standard sind. Die notwendige Expertise, um heutzutage eine medizinische Smartphone-App bzw. digitale Gesundheitsanwendung zu entwickeln, ist vielfältig und kostspielig. Allein in die Programmierung einer App sind häufig verschieden spezialisierte Programmierer und Programmiererinnen, Designer und Designerinnen, sowie Verantwortliche für Projektmanagement involviert. Komplexere Apps für den medizinischen Bereich werden ohne psychologische und regulatorische Expertise auch nicht mehr auskommen können. Für die Durchführung einer klinischen Studie sind neben wissenschaftlicher Expertise auch Kompetenzen zu Daten- und Patientenmanagement sowie zum Monitoring notwendig. Ist eine medizinische App dann fertig entwickelt, ist es nicht selbstverständlich, dass die Patienten und Patientinnen diese dann auch tatsächlich nutzen. Und dafür ist es wichtig, dass diese gut für jede potenzielle Nutzergruppe optimiert ist.

Sollten sich in einer klinischen Studie die digitalen Gesundheitsanwendungen als wirksam, ggf. sogar kosteneffektiv erweisen, stellt sich die Frage, wie diese Ergebnisse dann verwendet werden können. Medikamente werden üblicherweise nach erfolgreichen Studien und positiver Nutzenbewertung in die Behandlung integriert und von den Krankenkassen erstattet. Auch für komplementärmedizinische Verfahren gelten aussagekräftige Studien als gutes Argument für eine Erstattung durch die Krankenkassen. Zu beobachten war dies für die Akupunktur, deren Kosten seit 2007 die gesetzlichen Krankenkassen für chronische Rückenschmerzen der Lendenwirbelsäule und des Kniegelenks übernehmen (Melchart et al. 2006). Für digitale Gesundheitsanwendungen soll die Erstattung durch das DVG in Zukunft einfacher möglich werden.

Es bleibt jedoch abzuwarten was passiert, wenn nach erfolgreicher Studiendurchführung die zugrunde liegenden Technologien veraltet sind. Viele etablierte Therapien, zum Beispiel die Behandlung des Bluthochdrucks mittels ACE-Hemmers, stammen aus dem letzten Jahrhundert. Verfahren wie Yoga oder die Akupunktur als aktuelle Verfahren der Integrativen Medizin, sind zum großen Teil sogar deutlich älter. Im Gegensatz dazu würde heutzutage kaum jemand ein 10 Jahre altes iPhone produktiv nutzen wollen. Aktuelle digitale Gesundheitsanwendungen würden auf alten Geräten nicht funktionieren und neue Geräte würden 10 Jahre alte Anwendungen technisch nicht unterstützen. Das hat zur Folge, dass digitale Gesundheitsanwendungen, die aktuell zugelassen werden, regelmäßig mit erheblichem Aufwand gepflegt und angepasst werden müssen, damit sie auch in 10 Jahren noch nutzbar sind. Es ist möglich, dass sich dabei grundlegende Funktionalitäten verändern. Müssten diese Anwendungen dann auch regelmäßig neu untersucht werden? Dies alles ist kostspielig. Der zukünftige Umgang mit dieser Problematik wird spannend. Vermutlich kann die Integrative Medizin die Entwicklung der Nutzung digitaler Gesundheitsanwendungen jedoch beeinflussen.

5.4 Chancen für die Integrative Medizin

Sowohl eine positive als auch eine negative Entwicklung der digitalen Medizin kann die Integrative Medizin stärken. Entweder wenden sich Patientinnen und Patienten vermehrt von der digital bestimmten Medizin ab, oder integrative Behandlungsansätze werden selbstverständlich bei der Entwicklung digitaler Gesundheitsanwendungen mitgedacht und komplementärmedizinische Verfahren in die Anwendungen integriert. Zum Teil geschieht dies bereits. So enthält beispielsweise eine bekannte App für Migräne und Kopfschmerzen, neben Tracking- und Informationselementen, Anleitungen zu Entspannungsverfahren. Auch zählen Apps zu Yoga und Mindfulness bereits zu den kommerziell erfolgreichen Gesundheitsanwendungen, die zum Beispiel in den USA bereits zum Teil von Gesundheitsdienstleistern erstattet werden. Auch eine große deutsche Krankenkasse propagiert eine App zu Achtsamkeit. Und eine populäre deutsche App, die unter anderem durch Ernährungsprotokolle das Abnehmen unterstützen möchte, gibt inzwischen auch Hinweise zum Heilfasten. Dies sind Anknüpfungspunkte, um die aktuellen Entwicklungen, auch aus Sicht der Integrativen Medizin, mitzuprägen. Die Voraussetzungen dafür sind eigentlich gut. Das Zeitfenster ist jedoch schmal. Die Forschungsexpertise, die für die Evaluierung komplementärmedizinischer Verfahren genutzt wurde und wird, ist zum Teil auch für die Evaluierungen dieser neuen digitalen Gesundheitsanwendungen sehr nützlich. Therapeutische digitale Gesundheitsanwendungen sind häufig komplexe Interventionen. Der Placeboeffekt, positive Erwartungen sowie Kontexteffekte, werden vermutlich für die Wirksamkeit dieser Verfahren eine Rolle spielen. Die Forschung zur Integrativen Medizin verfügt bereits über viel Erfahrung, die hierfür zur Anwendung kommen kann. Mixed-Methods-Ansätze, also die Kombination von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden, werden inzwischen nach Möglichkeit für die Evaluierung komplementärmedizinischer Verfahren gewählt. Forschung zu Effekten von Placebo und Erwartungshaltung ist fest in der Integrativen Medizin verankert. Und auch die Einbeziehung von Stakeholdern in den Forschungsprozess kommt inzwischen häufiger zur Anwendung. Die Forschung zur Integrativen Medizin kann die Forschung zu digitalen Gesundheitsanwendungen entscheidend mitprägen. Darüber hinaus sind aber auch die Inhalte der Integrativen Medizin für die Neuentwicklung von digitalen Gesundheitsanwendungen interessant. Betrachtet man zum Beispiel die Klassische Naturheilkunde, so fällt auf, dass sich viele Elemente der Phyto-, Hydro-, Ernährungs-, Bewegungs- und Ordnungstherapie entweder als eine digitale Unterstützung für die ärztliche Therapie oder sogar als eigenständige Lösung ohne medizinisches Fachpersonal eignen würden. Eine digitale Gesundheitsanwendung könnte Tees und deren Zubereitung auf Basis bestehender Symptome, dem Alter des Nutzers und eingenommenen Medikamenten vorschlagen, die korrekte Anwendung von Güssen beschreiben, Ernährung oder Bewegung tracken und gewünschte Ziele visualisieren, sowie motivieren ausreichend zu schlafen. Zum Teil existieren Teile dieser Szenarien bereits als App. So sind bereits komplexe Schlaf-Apps verfügbar, die unter Einbeziehung von Smartwatches nicht nur die Dauer des Schlafes rückmelden können, sondern auch Auskunft zu Schlafqualität und resultierendem Fitnessgrad geben.

Die Forschung zu Gesundheitsapps mit komplementärmedizinischen Interventionen in den letzten 10 Jahren zeigt sehr klar, dass sich Entspannungsverfahren für onkologische Patienten (z.B. CanRelax) (Mikolasek et al. 2018), aber auch Akupressur bei Menstruationsschmerzen (z.B. Luna) (Blödt et al. 2018; Wang et al. 2020) und andere Self-Care-Maßnahmen gut in digitale Gesundheitsanwendungen übersetzen lassen und sich wirksam in der Reduktion von Symptomen zeigen. Dies lässt vermuten, dass komplementärmedizinische Angebote in digitaler Form helfen können, einen niedrigschwelligen Zugang zu mehr Gesundheitskompetenz zu ermöglichen.

 

Sowohl Medizin als auch Gesundheit werden zukünftig sehr stark digital geprägt werden. Digitale Gesundheitsanwendungen werden dabei eine große Rolle spielen.

Die beschriebene Entwicklung sollte als Chance angenommen werden. Es stellt sich für die Zukunft eigentlich nicht die Frage, ob die digitalen Gesundheitsanwendungen zum Teil der Integrativen Medizin werden oder zumindest eine stärkere Verknüpfung angestrebt werden sollte. Es besteht vielmehr die Frage, wie ein gutes Zusammenspiel zwischen Behandelndem, Erkranktem und den digitalen Angeboten ermöglicht wird. Ob dabei die Nutzung der digitalen Gesundheitsanwendungen unbedingt ärztlich koordiniert wird und wie viel Therapeut es überhaupt braucht, wird in nächster Zeit sicherlich spannender Diskussionsstoff sein.