Inspiration Schweiz

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«Hohe herrliche
Alpenwelt!»


Emil Nolde

Emil Nolde gilt als Maler von Grossstadt und Südsee. Dabei war er auch der Schweizer ­Bergwelt zugetan. Er malte und erkletterte sie.

Am Anfang stand, wie so oft, der Zufall. Ohne grosse Ambitionen und mehr aus Abenteuerlust hatte sich Emil Nolde, Bauernsohn und gelernter Möbelschnitzer aus Nordschleswig, 1892 für eine Stelle als Zeichenlehrer am Gewerbemuseum in St. Gallen beworben. Seine Entwürfe stiessen auf Wohlwollen: Gerade mal 24-jährig und ohne jede Berufserfahrung, setzte er sich gegen 34 Bewerber durch.

In den sechs folgenden Jahren sollte Nolde zu einem regelrechten Gipfelstürmer werden. Der junge Lehrer erholt sich vom Unterricht, indem er die ihn umgebende Bergwelt wandernder- und kletternderweise erkundet. Als Mitglied des Schweizer Alpen-Clubs bezwingt er Jungfrau, Monte Rosa und Matterhorn. «Der Sohn der Ebene», liest man in seiner Autobiografie, «war allmählich ein bekannter Hochtourist geworden. Und wenn verwegenste Klettereien überwunden waren, schaute ich glücklich um mich und jubelte: ‹Hohe herrliche Alpenwelt!›»

Die Faszination für die imposante Erscheinung der Schweizer Bergkulisse schlug sich beim jungen Nolde freilich nicht nur in waghalsigem Alpinistentum nieder, sondern auch in ersten zaghaften Versuchen an der Staffelei. Die «Bergriesen», sein über einen Zeitraum von zwei Jahren entstandener Gemälde-Erstling, auf dem er die Alpen als zechende Greise personalisierte, reichte er hoffnungsvoll zur Münchner Jahresausstellung ein – vergeblich. «Ich wusste noch nicht, wie leicht das Übliche es hat, wie schwer das Aussergewöhnliche.»

Der Erfolg stellt sich indes an ganz anderer Front ein: In Noldes launigem Einfall, bekannten Schweizer Berggipfeln zeichnerisch charakteristische Gesichtszüge zu verpas­sen, wittert der deutsche Verleger Georg Hirth einen Ver­kaufs­schlager. Seine nach Noldes Vorlagen gedruckten Postkarten finden reissenden Absatz; innerhalb weniger Tage gehen 100'000 Stück über den Ladentisch. Der Verkaufserlös von 25'000 Schweizer Franken bringt Nolde den lang ersehnten Freipass in die schöpferische Unabhängigkeit. Und den Beweis, dass er als Künstler tatsächlich bestehen kann: «Der Glaube an wirkliche angeborene Fähigkeit war mir seit der Schweizer Zeit nie mehr gewichen.»

Dennoch kehrt der Maler der Schweiz für viele Jahre den Rücken. Die drei Jahrzehnte, die seiner St. Galler Zeit folgen, sollten ihn – künstlerisch wie privat – stark fordern und prägen. Nach Studienaufenthalten in München, Dachau und Paris reist er nach Dänemark, von wo er mit seiner zukünftigen Frau Ada und einem neuen Namen heimkehrt. Sein Familiengeschlecht, Hansen, erscheint dem Künstler zu profan; mit seinem Geburtsort Nolde signierend, hofft er, auf mehr Beachtung zu stossen.

Die Wintermonate verlebt das seit 1903 auf der Ostseeinsel Alsen heimische Paar meist in Berlin, wo Nolde sich erst der Künstlergruppe Brücke, später den Secessionisten um Max Liebermann anschliesst. Beiderorts hält er es nicht lange aus: Zu gleichförmig sind ihm Ex- wie Impressionisten in ihrer Kunst, und Stilen und Theorien mag sich Nolde ohnehin nicht unterwerfen. Er hat seine eigenen Vorstellungen. Die Werke, die in jenen Jahren entstehen, sind Klas­siker seines Œuvres: Momentaufnahmen der grossstäd­tischen Dekadenz sowie, als Gegenstück, religiöse Sujets – ferner, nach 1912, Eindrücke seiner ausgedehnten Reisen nach Frankreich, Italien, Spanien und Neuguinea.

1924 zieht es Nolde endlich wieder in die Schweiz: In Begleitung von Ada folgt er der Einladung seines ehemaligen Schülers Hans Fehr, der sich mit seiner Familie in Muri bei Bern niedergelassen hat. Dort sind die Noldes bald schon gern gesehene Stammgäste; bis 1941 werden ihre Berner Freunde sie noch mindestens achtmal empfangen.

Diese Aufenthalte prägen Nolde nachhaltig. Seine Begeisterung für die Berge lebt neu auf und findet Einzug in zahlreiche Aquarelle, in denen sich die karge, kühle Schönheit der Alpen in klaren Formen und leuchtenden Farben niederschlagen.

Von diesem Bilderschatz zehrt der Maler auch, als sich in den Dreissigern der Schatten des Nationalsozialismus über seine Heimat legt. 1937 wird Noldes Kunst für «entartet» erklärt; seine Werke verschwinden zu Hunderten aus deutschen Museen. Vier Jahre später folgt ein voll­ständiges Arbeitsverbot. Nolde malt dennoch weiter: «Ich konn­te es nicht lassen!» Heimlich, in einem versteckten Kämmerlein seines Wohnhauses in Seebüll, entstehen die sogenannten «ungemalten Bilder».

In den 1300 nur handflächengrossen, gänzlich aus der Imagination entstandenen Blättern, «die grosse, wirkliche Bilder werden sollten, wenn sie und ich es können», glimmt auch die Erinnerung an die alpine Schweiz immer wieder auf. Für Nolde stellt sein mentaler Bilderfundus der Schweizer Berge eine anregende Gegenwelt zur Nordsee-Kulisse dar – und eine Möglichkeit, der Realität zu entfliehen. Ausgerechnet jetzt findet er, der von Kindsbeinen an «im ständigen Farbrausch gelebt» und zeitlebens die Verschmelzung von Farbe und Fantasie angestrebt hat, wonach er seit Anbeginn seiner Malerkarriere gesucht hatte: In seinen imaginären Bergmotiven findet Nolde eine emotionale Heimat.

1948 begibt sich der Maler ein letztes Mal in die Schweiz – auf Hochzeitsreise. Nachdem seine geliebte Ada im Herbst 1946 gestorben war, hatte Nolde im hohen Alter ein zweites Mal geheiratet; seine junge Braut Jolanthe Erdmann, die Tochter eines Freundes, ist gerade mal 26 Jahre alt. Auf Ein­ladung von Hans Fehr reist das Paar erst nach Bern, macht anschliessend einen Abstecher nach Ascona und verbringt dann einige Wochen in Wengen. Die dort entstandene Aqua­rellserie ist ein regelrechtes Festival der Farben: Die nur noch ansatzweise gegenständlichen Alpenszenerien zerfliessen als leuchtende Farbflecken zu einem entrückten, fantastischen Farbrausch. Nolde ist hier nur mehr gewiefter Choreograf, der Farbtöne und Intensität des Auftrags mit routinierter Pinselregie zur freien Improvisation anregt.

«Ich wollte», schrieb er 1948, «im Malen immer gern, dass die Farben durch mich auf der Leinwand sich so fol­gerichtig auswirken, wie die Natur selbst ihre Gebilde schafft.» Mit 81 Jahren hat Nolde sein Ziel erreicht: Der Maler ist endlich Schöpfer geworden.

Paulina Szczesniak

Seine erste Tragödie löste Stürme
der Heiterkeit aus


Heinrich von Kleist

Drei Monate versuchte Heinrich von Kleist, auf einer Aareinsel bei Thun, Bauer zu werden. Statt dessen schrieb er sein erstes Drama: «Die Familie Schroffenstein».

«Wie ein Eintritt in ein anderes Leben» kam es Heinrich von Kleist vor, als er am 13. Dezember 1801 bei Basel die Schweizer Grenze überquerte. Hinter dem 24-Jährigen lagen neun Monate in Paris – neun Monate der Unentschlossenheit im Hinblick auf eine Berufswahl samt einem nachhaltigen Degout über das Leben in der Grossstadt.

Jetzt war die Zeit reif, das Leben in neue Bahnen zu lenken. Kleist wollte, seinem Idol Jean-Jacques Rousseau folgend, zurück zur Natur, «im eigentlichsten Sinne ein Bauer» werden und sich dazu mit Geld aus seiner Erbschaft in der Schweiz «ankaufen», wie er seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge noch aus Paris mitgeteilt hatte. Seine Formel für dieses Weltfluchtprogramm lautete: «Denn nur in der Welt ist es schmerzhaft, wenig zu sein, ausser ihr nicht.» Wilhelmine lehnte dankend ab. Kleist nahm ihr das übel. Ihr Verhältnis betrachtete er fortan als beendet.

Auf der Suche nach einem Landgut gelangte Kleist im Februar 1802 nach Thun. Bürgerkriegsähnliche Tumulte im Gefolge von napoleonischen Verfassungsreformen stellten Kleists Ansinnen jedoch schon bald infrage. Im April siedelte er auf die Obere Insel beim Ausfluss der Aare aus dem Thunersee über, wo er für vier Monate ein kleines Anwesen bezog, das sich auf der dem See zugewandten Inselspitze befand und 1940 abgerissen wurde.

In launigem Tonfall schilderte er seiner Halbschwes­ter Ulrike den Alltag auf seinem folkloristischen Berner Réduit: «Auf der Insel wohnt auch weiter niemand, als eine Fischerfamilie. Der Vater hat mir von zwei Töchtern eine in mein Haus gegeben, die mir die Wirthschaft führt: ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich ausnimmt, wie ihr Taufname: Mädeli.» Im Übrigen komme er selten von der Insel, «sehe niemand, lese keine Bücher, Zeitungen» und «brauche nichts als mich selbst».

Zuweilen erhielt Kleist Besuch von Heinrich Zschokke. Der gebürtige Magdeburger, ein umtriebiger Geist, wackerer Republikaner und studierter Theologe, lebte damals an der Gerechtigkeitsgasse in Bern, wo er Kleist beherbergt hatte, ehe dieser nach Thun gezogen war. In Zschokkes Wohnung hing ein Bild, das wohl in Vergessenheit geraten wäre, hätte es Kleist nicht zu seinem berühmtesten Lustspiel, dem «Zerbrochenen Krug», inspiriert. Der Kupferstich trug den Titel «Le juge ou la cruche cassée» und war Gegenstand eines «poetischen Wettkampfs».

Daran beteiligten sich neben Zschokke und Kleist auch Ludwig Wieland, der Sohn des Dichters Christoph Martin Wieland, sowie der Verleger Heinrich Gessner, Wielands Schwager und Hauswirt. In den Figuren dieses Stichs, erin­nerte sich Zschokke 1842, «glaubten wir ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem zerbrochenen Majolika-Kruge, und einen grossnasigen Richter zu erkennen. Für Wieland sollte dies Aufgabe zu einer Satyre, für Kleist zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung werden.» Die Skizze, die Kleist den Sieg eintrug, ist nicht erhalten, ebenso wenig die erste Niederschrift des «Krugs» aus dem Jahre 1803. Gesichert ist jedoch, dass Kleist das Lustspiel im Sommer 1806 in Königsberg fertig stellte.

 

Seine Landmann-Pläne zu begraben, kostete Kleist nicht viel. Er setzte aufs Dichten und tat dies nun erstmals auch kund: Er müsse sich nun «mit Lust oder Unlust, gleichviel, an die Schriftstellerei machen», schrieb er im Mai 1802 im letzten Brief an Wilhelmine. Und kurze Zeit zuvor an Ulrike: «Ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht, und eine grosse That.»

Kleist hatte offenbar Gefallen gefunden an seinem Dichterexil. Er sei «von allem Gemeinen so entwöhnt, dass ich gar nicht mehr hinüber mögte an die andern Ufer, wenn ihr nicht da wohntet. Aber ich arbeite unaufhörlich von der Befreiung von der Verbannung du verstehst mich.»

Ulrike hat gewiss verstanden. Immer wieder hatte Kleist in den Briefen Heldenbilder gemalt. Hier imaginierte er erstmals den Dichter als Helden: als verbannten Sohn, der von den Fanfaren des Feuilletons begleitet nach Hause ­zurückkehrt, weil ihm der grosse Wurf gelungen ist. Ein Triumph, der umso kompletter wäre, weil seine Familie zu ihrer Beschämung endlich sähe, dass der Taugenichts eben doch gesellschaftsfähig ist.

Zwar wurde nicht zu Kleists Ruhm getrommelt, als er im Herbst 1802 ziemlich mittellos nach Deutschland zurückkehrte. Aber immerhin hatte er sein erstes Kind ge­bo­ren, das Drama «Die Familie Schroffenstein», das zu grossen Teilen auf der Aareinsel entstanden und Ende November anonym im Verlag seines Freundes Heinrich Gessner erschienen war.

Dieser hatte Kleist zusammen mit Zschokke und Wieland mehrfach in Thun besucht; bei dieser Gelegenheit las Kleist dem Trio aus seinem Erstlingsdrama vor, was offenbar Stürme der Heiterkeit verursachte. In seinen Memoiren hielt Zschokke fest, dass bei der Lektüre des letzten Aktes, in dem die Familienfehde ihrem gräulichen Höhepunkt zutreibt, «das allseitige Gelächter so stürmisch und endlos ward, dass, bis zu seiner letzten Mordszene zu gelangen, Unmöglichkeit wurde».

Kleist nannte seinen Erstling später «eine elende Scharteke». Ihm schwebte Grösseres vor, ein epochales Werk, das «Kind, schön Gedicht, und grosse That» in einem hätte sein sollen. Seine ganzen Hoffnungen setzte er in das Trauerspiel «Robert Guiskard, Herzog der Normänner», an dem er vermutlich ebenfalls während seines Aufenthalts in Thun zu schreiben begonnen hatte. Das Stück wurde nie vollendet. Im Oktober 1803 verbrannte Kleist in Paris sein Guiskard-Manuskript, vernichtet von der Einsicht, dass dieses Werk «für mich zu schwer ist», und bereit, den «schönen Tod der Schlachten» in Napoleons Armee zu sterben. Doch das wäre dann ein anderes Kapitel aus Kleists Leben.

Urs Strässle

«Hier geboren, an dieses ­klaren Flusses Wellenspiel»


Johannes Brahms

Dreimal verbrachte Johannes Brahms ausgedehnte ­Sommer­ferien in Thun. Beim ersten Aufenthalt entstand die ­A-Dur-Violinsonate, die «Thuner».

Gustav Mahler war ein Sommerkomponist. An seinen Sinfonien arbeiten konnte der Wiener Operndirektor nur in den Theaterferien. Johannes Brahms hatte keine derartige Hauptbeschäftigung, aber auch ihm ging im Sommer das Komponieren besonders leicht von der Hand, ob in Pörtschach, Ischl oder Mürzzuschlag in Österreich, in Wies­­­ba­den oder Baden-Baden in Deutschland oder in der Schweiz.

Diesem Land war er seit einer Reise, die er mit Clara Schumann und deren Kindern (nach dem Tod von Robert) un­ternommen hatte, schwärmerisch zugetan und kehrte immer wieder. Zwar war die Schweiz musikalisch nur «halb entwickelt», aber in Basel und Bern, Zürich und Winterthur sassen begeisterte «Brahminen», die sein Werk propagierten und ihren Schöpfer gern empfingen.

«Schweizer Sommer» verbrachte Brahms 1866 in Fluntern und 1874 in Rüschlikon; 1868 nahm er seinen Vater ins Berner Oberland mit. Von Rosenlaui aus schrieb er an Clara eine Postkarte mit einer Alphornmelodie, der er den Text unterlegte: «Hoch aufm Berg – tief im Tal – grüss ich Dich – vieltausend Mal.» Er hat das Signal dann im Schlusssatz seiner Ersten Sinfonie markant eingesetzt.

Drei Sommer, von 1886 bis 1888, hat Brahms in Thun verbracht. Zahlreiche Werke entstanden dort, die zweifellos von der lieblichen Landschaft und deren Kontrast mit der Hochgebirgssilhouette angeregt wurden, ohne dass ein vergleichsweise signalhafter Bezug nachzuweisen wäre. Aber das ist bei der Musik, zumal bei einem «Nichtprogram­matiker» wie Brahms, ohnehin schwer.

Im ersten Sommer – ein langer Sommer, er dauerte vom 27. Mai bis zum 5. Oktober – entstanden mehrere Kammermusikwerke, darunter die 2. Cellosonate op. 99, das 3. Klaviertrio op. 101 sowie Lieder und Chorsätze. Die 2. Violinsonate op. 100, die er ebenfalls in diesen Wochen schrieb, trägt gar den Beinamen «Thuner Sonate». Sie «malt» die Landschaft nicht, sondern zeigt höchstens einen Abdruck der wohlig-beschwingten Stimmung, die Brahms in seiner Sommerresidenz erfüllte. Er hatte sich beim Tischlermeister und Kaufmann Johann Spring eingemietet, im heute eingemeindeten Vorort Hofstetten in einem geräumigen Holzhaus direkt am Ufer der Aare, mit Blick auf den Fluss und die Bergriesen dahinter: Niesen, Eiger, Mönch, Jungfrau.

«Ich glaube, es ist die schönste Wohnung, die ich noch hatte», schreibt er an seinen Verleger Simrock. Er hatte Platz (zum Auf- und Abgehen durch mehrere Zimmer, dabei komponierte er), und er hatte Ruhe; im nahen Bern wohnte Joseph Viktor Widmann, Redaktor beim «Bund» und ein alter Freund, den er übers Wochenende besuchen konnte. Der «Freienhof», ein gemütlicher Biergarten, war nicht weit, «für meine Behaglichkeit ist das nichts Kleines». Zu dieser Behaglichkeit gehörte gutes Essen, guter Wein, eine kräf­tige Zigarre und witzige Konversation. Geselligkeit war in Thun möglich, aber wichtiger noch: Allein sein konnte er, so viel er wollte.

Brahms war ein Frühaufsteher; morgens bereitete er sich seinen Kaffee selber (die Kaffeemaschine hatte er aus Wien mitgebracht) und ging dann spazieren; am Ufer entlang, auf die Hügel, über Wiesen und durch den Wald. Dabei flogen ihm die Einfälle zu, die er dann in der Wohnung ausarbeitete. «Alle Welt kennt ihn, wenn er, im Wollhemd, leichtem Rock und Beinkleid, aber ohne Weste und Halstuch, oft auch ohne Kragen, den Hut in der Hand, stundenlange Wege in der Umgebung macht», berichtet ein Zeitgenosse.

Ausserordentlich inspirierend muss der Anblick der Natur mit ihrem lieblichen Vordergrund und dem grandio­sen Gebirgspanorama auf den gebürtigen Flachländer gewirkt haben. So «voller Melodien» sei die Landschaft, «dass er aufpassen muss, dass er nicht drauftritt», heisst es in einem Brief. Einige sind in die A-Dur-Sonate eingegangen. Diese ist aber natürlich kein Natur-, sondern ein Kunstprodukt, gespeist auch weniger von Natur- als von Kunstverweisen.

Dass die Sonate mit derselben Tonfolge beginnt wie das Preislied aus Wagners «Meistersingern», ist Zufall. Regelrecht zitiert finden sich dagegen mehrere Lieder aus eigener Feder; im Seitenthema des ersten Satzes erklingt «Wie Melodien zieht es», Verweise gibt es auch auf «Komm bald», ein weiteres Lied nach Versen seines norddeutschen Landsmanns Klaus Groth, und auf «Mein Lieb ist schön wie die Sonne». Das waren sozusagen musikalische Vertrau­lichkeiten, denn die Sonate ist «in Erwartung der Ankunft einer lieben Freundin» geschrieben, wie Brahms verriet. Dabei handelte es sich um die Sängerin Hermine Spies, die zweimal auf einen Tag hereinschaute und mit Brahms neue und alte Lieder am Klavier durchnahm.

Auch in Bern, wohin es ihn am Wochenende immer wie­der zog, sorgte er für musikalische Unterhaltung, trug zwar mit Vorliebe Bach vor, war sich aber auch nicht zu schade, der Jugend zum Tanz aufzuspielen. Auch besuchte er mit grossem Vergnügen Operettenaufführungen im «Schänzli».

Zu einer engeren Zusammenarbeit mit Widmann kam es dagegen nicht; dieser hatte darauf gehofft, Brahms werde ein Opernlibretto von ihm vertonen. Aber mit der Oper hatte der Komponist ebenso abgeschlossen wie mit Heiratsplänen. Stattdessen bedichtete umgekehrt Widmann die «Thuner Sonate», nachträglich. Er entwarf mit blühender Fantasie einen Traum von einem Ritter und einem Mädchen, das in einem Feennachen fährt, gezogen von Libel­len. Der Traum verfliegt, das Lied bleibt: «Doch, mag es klingen auch vor tausend Ohren / im Fürstensaal, in stolzen Städten viel – / Es bleibt doch unsres Landes, hier geboren / An dieses klaren Flusses Wellenspiel.» So bleibt, dürfen wir verstehen, die A-Dur-Sonate Thun zugehörig. Brahms jedenfalls hat das Gedicht sehr gemocht.

Martin Ebel

Vom Himmel kommt es,
zur Erde muss es


Johann Wolfgang von Goethe

Mit seinem Herzog wanderte Goethe zum Staubbachfall. Er regte ihn zu seinem Gedicht «Gesang der ­Geister über den Wassern» an.

Zweieinhalb Stunden braucht man heute aus dem geschäftigen Zürich bis nach Lauterbrunnen. Goethe, der von Basel kam, liess es 1779 gemächlicher angehen. Er wählte auch nicht die Direttissima. In neun Tagen tastete er sich über Moutier, Biel, Bern und Thun bis in das damals schon berühmte Trogtal vor, zu Fuss, in einem «engen Wägelgen» oder per Schiff. In seiner Begleitung: Diener mit Gepäcktieren, der «schöne Wedel» (Kammerherr Otto Moritz von Wedel) und Goethes Chef, der Herzog Ernst August, in dessen Dienst er seit vier Jahren in Weimar stand.

Goethe war dreissig, der Herzog zweiundzwanzig; das Alters- und Intelligenzgefälle kontrastierte mit dem ständischen Abstand, der zwischen einem Herzog und einem Bürgerlichen (auch wenn dieser Geheimrat und Minister war) damals zwangsläufig bestand. Eigentlich war das Verhältnis noch komplizierter: Goethe war zugleich Kumpel (in den Anfangsjahren hatten die beiden gewaltig über die Stränge geschlagen) und Fürstenerzieher; die Schweizer Rei­se sollte die Persönlichkeit des jungen Landesherrn durch gezielt ausgewählte Eindrücke – Natur, Kultur, Menschen – bilden und veredeln.

Das erforderte viel Fingerspitzengefühl und fiel Goethe nicht immer leicht. In einem Traum hatte er sich schon mit ihm überworfen und war ihm davongelaufen. Aber auch der Herzog hatte es nicht immer leicht mit Goethe, der ihm im November eine Tour auf den Furkapass abverlangte, durch tiefen Schnee und von einem Geier als einzigem Lebewesen begleitet. Lauterbrunnen war verglichen damit ein Kinderspiel. Man kam im Pfarrhaus unter, das dafür eingerichtet war, Touristen aufzunehmen: Und die gab es schon im ausgehenden 18. Jahrhundert durchaus. Das Tal mit seinen 72 Wasserfällen zählte zu den Pflichtstationen jeder ordentlichen Schweizreise. Highlight, das man damals nur noch nicht so nannte: der Staubbachfall mit seinem fast 300 Meter freien Fall.

Albrecht von Haller hatte ihn in seinem epochemachenden Lehrgedicht «Die Alpen» gewürdigt, aber den poetischen Text, den wir heute noch mit diesem Fall verbinden, schrieb natürlich Goethe: den «Gesang der Geister über den Wassern».

Irgendwann zwischen dem 9. und dem 11. Oktober 1779 muss er, auf den unmittelbaren Eindruck hin, die freien, reimlosen Verse niedergeschrieben haben; denn danach drängten sich mit der Grossen Scheidegg und den Reichenbachfällen schon neue Bilder dazwischen. Dem Brief an Charlotte von Stein, der am 14. Oktober von Thun abging, lag das Manuskript des Gedichts bei. «Kein Gedancke, keine Beschreibung noch Erinnerung reicht an die Schönheit und Grösse der Gegenstände, und ihre Lieblichkeit in solchen Lichtern Tageszeiten und Standpunckten.» Nur die Dichtung kann den Eindruck bewahren: indem sie ihn transformiert.

Ursprünglich waren die sechs Strophen auf zwei Stimmen verteilt; in der Fassung des Erstdrucks 1789 hat Goethe den Dialog aufgegeben zugunsten eines Geisterchores. Der spricht nicht aus den Wassern selbst, sondern über ­ihnen schwebend; der Tonfall ist ruhig, fast dozierend. Der Wasserkreislauf («Vom Himmel kommt es, / zum Himmel steigt es, / Und wieder nieder / Zur Erde muss es, / Ewig wechselnd») inspiriert den Dichter zu einer metaphorischen Deutung der menschlichen Seele: Auch diese ist himmlisch und irdisch zugleich.

 

In den Mittelstrophen folgt der Dichter dem Strahl auf seinem weiteren Weg, von Klippen aufgehalten, dann schleichend im flachen Bett des Wiesentals, «Und in dem glatten See / Weiden ihr Antlitz / Alle Gestirne». Es ist Gedankenlyrik, die aber die Prägung des Eindrucks in einer Fülle von Alliterationen aufbewahrt (strömt / steil / Strahl / stäubt allein in der zweiten Strophe); wenn man will, steht der Doppelkonsonant st für die Klippe, das harte Element; das w (Wiesental, Weiden, Wind, Welle, Wogen) für die Weichheit des Wassers.

Es bleibt der einzige lyrische Ertrag dieser Reise; der Rest ist Prosa – Tagebuch und Briefe, die Goethe später zusammengefasst und bearbeitet als «Briefe aus der Schweiz» herausgab: als wichtigen Schritt weg vom ichbezogenen Sturm und Drang hin zur objektiveren, klassischeren Einstellung gegenüber der Natur und ihren ewigen Gesetzen. Ein anderer, für das klamme Herzogtum eminent wich­tiger Ertrag war ein Kredit, den der Herzog vom Kanton Bern bekam. Starke Eindrücke gewann der junge Monarch unter Goethes Führung neben der Furka-Gewalttour noch im Mer de Glace bei Chamonix, als menschliche Sehenswürdigkeit wurde ihm in Zürich Lavater vorgeführt («er ist die Blüte der Menschheit, das Beste vom Besten», fand Goethe damals noch).

Und heute? Die Verkehrssprache in Lauterbrunnen ist Englisch, asiatisches Englisch. In indischen, japanischen und chinesischen Reiseführern müssen die Wasserfälle des Lauterbrunnentals eine ähnliche Rolle spielen wie im 18. Jahrhundert für die bildungsreisenden Europäer. Der Staubbach ist schon vom Zug aus gut zu erkennen, man begreift sofort, woher er seinen Namen hat: als ob da unentwegt Sandfuhren über die Klippe geschaufelt würden. Das Wasser scheint einen vierten Aggregatzustand zu erreichen: Zertrümmert durch den gewaltigen Aufprall, fliegen die befreiten Moleküle schwerelos durch die Luft (das ist natürlich unwissenschaftlich, aber in Goethes Nähe erlaubt, der auch noch nichts vom Periodensystem wusste).

Man hat einen Tunnel zum Berg geschlagen, der auf eine Galerie führt, sodass man den Wasserfall von innen nach aussen betrachten kann. Die Gemeinde bittet um Spenden; sie will die Galerie noch um 30 Meter verlängern; eine noch grössere Attraktion für unsere asiatischen Freunde. Am Fuss des Tobels findet sich der «Gesang der Geister» in Metall graviert; sonst erinnert nichts mehr an den Besuch des Dichters. Nur der Wasserfall donnert herab wie eh und je, und ein leises Gefühl der Erhabenheit angesichts dieser offenbaren Unerschöpflichkeit und Unerschütterlichkeit des Elements erfasst auch den Besucher aus dem geschäftigen Zürich.

Martin Ebel