Historische Begegnungen

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Quellen und Literatur
Quellen:

– Amtliche Sammlung der älteren Eidgenössischen Abschiede, Bd. 4, Abt. 1a. Brugg 1873.

– Egli, Emil: Actensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation in den Jahren 1519 bis 1533. Zürich 1879.

– Farner, Oskar: Hulrdrych Zwinglis Briefe, Bd. 1 (1512–1523), Zürich 1918; Bd. 2, Zürich 1920.

– Harder, Leland (Hg.): The Grebel Letters and Related Documents. [Wipf & Stock Publishers] Eugene, Oregon/USA 1985.

– Hottinger, J.J.; Vögeli, H. H. (Hg.): Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte, hg. von Frauenfeld 1838, Bd. 1.

– Kessler, Johannes: Sabbata [Chronik]. St. Gallen 1902.

– Köhler, Walther: Das Buch der Reformation Huldrych Zwinglis von ihm selbst und gleichzeitigen Quellen erzählt. München 1931.

– Muralt, Leonhard von; Schmid, Walter: Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz. Zürich 1952ff.

– Strickler, Johannes: Actensammlung zur Schweizerischen Reformationsgeschichte in den Jahren 1521–1532, 5 Bde. Zürich 1878–1884.

– Vadianische Briefsammlung, Bd. I–VII. In: Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte. St. Gallen 1888–1913.

– Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Berlin 1904ff (im Internet zugänglich).

Literatur:

– Baumgartner, Mira: Die Täufer und Zwingli. Eine Dokumentation. Zürich 1993.

– Bender, Harold S.: Conrad Grebel. The Founder of the Swiss Brethren. Eugene, Oregon/USA 1998.

– Blanke, Fritz: Brüder in Christo. Die Geschichte der ältesten Täufergemeinde (Zollikon 1525). Zürich 1955.

– Leu, Urs B.; Scheidegger, Christian (Hg.): Die Zürcher Täufer 1525–1700. Zürich 2007.

– Gäbler, Ulrich: Huldrych Zwingli. München 1983.

– Goertz, Hans-Jürgen: Konrad Grebel. Ein Radikaler in der Zürcher Reformation. Eine biografische Skizze. Zürich 2004.

– Goeters, J. F. Gerhard: Die Vorgeschichte des Täufertums in Zürich. In: Festschrift für Ernst Bizer, hg. v. L. Abramowski/J. F. G. Goeters, 1969.

– Kamber, Peter: Reformation als bäuerliche Revolution. Zürich 2010.

– Keller-Escher, Carl: Die Familie Grebel. Blätter aus ihrer Geschichte. Frauenfeld 1885.

– Krajewski, Ekkehard: Felix Mantz (ca. 1500–1527). Das Leben des Zürcher Täuferführers. Dissertation Universität Zürich. Zürich 1956.

– Lichdi, Diether Götz: Konrad Grebel und die frühe Täuferbewegung. [Logos Verlag] Lage 1998.

– Schilling, Heinz: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie. München 2012.

– Strübind, Andrea: Eifriger als Zwingli. Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz. Berlin 2003.

– Wirz, Hans Georg: Zürcher Familienschicksale im Zeitalter Zwinglis (Teile I–IV). In: Zwingliana, Bd. VI, Heft 4, 1935; Bd. VI, Heft 5, 1936; Bd. VI, Heft 9, 1938; Bd. VI, Heft 9, 1938.

Landesvermessung
in Zeiten politischen
Umbruchs
Franz Ludwig Pfyffer
von Wyher
UND
Jacques-Barthélemy
Micheli du Crest


Von Topografie und Politik
Andreas Bürgi

Einer sass im Gefängnis, der andere lief durchs Gebirge, und beide taten dasselbe: Sie vermassen das Land. Das brachte sie zusammen, denn beiden schwebte das Gleiche vor, eine exakte Karte der Schweiz. Der Gefangene, Micheli, war erfahrener in Vermessung und Topografie, weshalb sich der Jüngere, Pfyffer, um Rat an ihn wandte. Er könne ihm nicht genug danken für den Brief, den Micheli ihm gesandt habe, und rechne fest damit, ihn im Juni zu besuchen, er freue sich auf das Vergnügen, mit ihm zu plaudern, «j’irai exprès pour vous prier de me donner des instructions.» Als Pfyffer diesen Brief am 28. April 1761 an Micheli richtete, war dieser schon zwölf Jahre auf der Festung Aarburg eingesperrt, weil Bern ihm vorwarf, in den sogenannten Burgerlärm verwickelt gewesen zu sein, besser bekannt als Verschwörung einer Gruppe von Bürgern um Samuel Henzi gegen das allmächtige Berner Patriziat.

Schauplatz einer Pioniertat in der Geschichte der europäischen Landschaftsdarstellung war eine Gefängniszelle. 1755 veröffentlichte Jacques- Barthélemy Micheli du Crest seinen Prospect Geometrique des Montagnes neigées, dittes Gletscher, telles qu’on les découvre en tems favorable, depuis le Chateau d’Arbourg, dans les territoires des Grisons, du Canton d’Ury, et de l’Oberland du Canton Berne. Der umständliche Titel bezeichnet einen Papierstreifen von 65 Zentimeter Länge und 19,5 Zentimeter Höhe mit dem ersten wissenschaftlichen Alpenpanorama. Er zeigt einen Sektor zwischen Uri Rotstock und Rinderhorn im Berner Oberland von rund 56 Grad, den Micheli auf der Terrasse neben seiner Aarburger Zelle mit behelfsmässigen Instrumenten aufgenommen hatte. Dieser Kupferstich hält die Erinnerung an seinen Urheber bis heute wach. Der Prospect Geometrique war die erste grafische Ansicht einer Gebirgskette aufgrund vermessungstechnisch ermittelter Werte. Sein Massstab war die Richtigkeit, nicht die Schönheit. Er zeigte mehr, als man von blossem Auge sehen konnte, und er zeigte es schematisiert, bereits mit codierten Geländemerkmalen, wie sie später die Kartografen entwickelten. Das Augenmerk lag auf dem Horizont, jener Linie, wo Himmel und Erde aneinanderstossen und die doch nicht das Ende der Welt markiert, wie man seit dem Ausgang des Mittelalters wusste, sondern nur das des Gesichtskreises. Aber so wie Micheli hatte den Horizont noch niemand gezeichnet.

Michelis Prospect hatte Auswirkungen weit über die Kartografie hinaus und kann als eines der ersten Zeugnisse einer veränderten Wahrnehmung der Landschaft bezeichnet werden. Die Wissenschafter und Künstler bezogen ihn in ihre Diskussionen ein und in die eigenen kartografischen, topografischen und zeichnerischen Unternehmungen, so auch Pfyffer. Seine Pläne waren ebenso pionierhaft, wie es diejenigen Michelis gewesen waren: Zum ersten Mal wollte er ein dreidimensionales Modell der Innerschweiz bauen, ein Relief der Landschaft rund um den Vierwaldstättersee und bis tief ins Mittelland und hinauf in die Alpen; wäre es ihm möglich gewesen, er hätte die ganze Schweiz vermessen und nachgebildet. Das Relief der Urschweiz basiert auf geodätischen Daten und wurde gut 30 Jahre nach dem Prospect fertig. So kamen die beiden zusammen, dank ihrer Leidenschaft für die Geometrie, die ihre Gespräche im Berner Staatsgefängnis bestimmte und die ihnen bis heute einen Platz im Gedächtnis der Nachwelt bewahrt. Einziges Zeugnis ihrer Begegnung sind elf Briefe, zehn von Pfyffer aus dem Jahr 1761 und nur ein einziger von Micheli von 1762. Wahrscheinlich handelt es sich dabei bloss um einen Ausschnitt aus einer umfangreicheren Korrespondenz. Aus diesen Briefen geht hervor, dass Pfyffer Micheli regelmässig auf der Aarburg besuchte.

Know-how oder Savoir-faire

Wer sich im 17. und 18. Jahrhundert für Geometrie und Aufgaben wie Strassen- und Brückenbau, Festungswesen, Geländeverbauungen, Topografie und Kartenherstellung interessierte, begab sich am besten nach Frankreich, denn dort verfügte man über den fortgeschrittensten Stand des Wissens. 1748 eröffnete der Kriegsminister, Comte d’Argenson, für die Ausbildung von Militäringenieuren in Mézières die Ecole royale du génie. Schwerpunkte der zweijährigen Kurse waren Mathematik, Statik, Hydraulik, Festungsbau, Vermessung und Kartografie. Unmittelbare Vorläufer waren die Ingénieurs du Roi, die unter Ludwig XIV. für den Festungsbau und zunehmend für das Kartenwesen verantwortlich waren. Bereits 1747 hatte auf Geheiss Ludwigs XV. die Ecole royale des ponts et chaussées ihren Betrieb aufgenommen, die weltweit erste Ingenieurschule. Sie ging aus dem Corps des ingénieurs des ponts et chaussées hervor, das Jean-Baptiste Colbert im 17. Jahrhundert eingerichtet hatte. Frankreich besass mit diesen beiden Schulen erstklassige Ausbildungsstätten, die dem gewachsenen Bedarf an Ingenieurwissen im militärischen und zivilen Bereich entsprachen und zudem eine einheitliche Qualifikation ihrer Absolventen gewährleisteten. Von dieser fortschreitenden Professionalisierung profitierten auch Micheli und Pfyffer, denn der Familientradition entsprechend waren sie als älteste Söhne für das Kommando der eigenen Kompanie in Frankreich vorgesehen, und das setzte eine militärische Ausbildung voraus, in der die Schulung der Offiziere in Mathematik, Geometrie, Trigonometrie, Vermessung und sogar in architektonischem und technischem Zeichnen einen wichtigen Platz einnahm.

Militärkarrieren in Frankreich …

Jacques-Barthélemy Micheli du Crest entstammte einem Genfer Patriziergeschlecht. Sein Vater Jacques Micheli, Seigneur auf der Herrschaft Le Crest in Jussy bei Genf, war wie seine Vorfahren Besitzer einer halben Infanteriekompanie im Dienst Frankreichs und stand im Rang eines Hauptmanns. Der Kommandant seines Regiments, der Bündner Oberst Johann-Baptist Stuppa, war ein Bruder Peter Stuppas, des mächtigsten Schweizers im Frankreich Ludwigs XIV., Generalleutnant, Kommandant der Schweizergarde, Besitzer eines Regiments und Vertrauter von Louvois, dem Kriegsminister Ludwigs XIV. Als Generaloberst der Schweizer und Bündner war er Verbindungsmann zur französischen Regierung, ein begehrtes weil sowohl einflussreiches wie sehr lukratives Amt. Auf Peter Stuppas Protektion war jeder Schweizer Offizier angewiesen, der es in der Armee oder am Hof zu etwas bringen wollte. Auch Pfyffers Urgrossvater, ebenfalls mit Namen Franz Ludwig, verdankte Stuppas Unterstützung viel. Er erhielt bei der Armeereform von 1671 ein Regimentskommando, behielt daneben aber gleichwohl die Familienkompanie innerhalb der angesehenen und vom König privilegierten Schweizergarde. Diese Regimentsgründung war ein wichtiger Baustein für die Position des Wyher-Astes der weitverzweigten Luzerner Pfyffer-Familie in Frankreichs Armee, wenn auch noch nicht für ihren Reichtum. Dafür legte mit einer geschickten Heirat Pfyffers Grossvater Ludwig Christoph die Grundlage.

 

Als die beiden Nachfahren zur Welt kamen – 1690 Jacques-Barthélemy auf der Besitzung Le Crest, 1716 Franz Ludwig auf Schloss Wyher im luzernischen Ettiswil –, war der Solddienst in Frankreich in beiden Familien seit Langem Tradition und trug neben den Erträgen aus dem Grundbesitz massgeblich zum Einkommen bei, und vielleicht hatten bereits persönliche Bekanntschaften zwischen den Micheli du Crest und den Pfyffer von Wyher bestanden. Es ist kaum anders vorstellbar, als dass sich Jacques-Barthélemys oder Franz Ludwigs Grossvater oder Vater am Hof oder bei Stuppa irgendwann über den Weg gelaufen waren.

Im Schweizer Patriziat bestimmten die Erfordernisse der Fremdendienste Kindheit und Jugend der ältesten Söhne von Kindsbeinen an. Ihre Erziehung war einerseits auf die Übernahme des Kommandos der Familienkompanie ausgerichtet, anderseits darauf, einen Sitz im Parlament und später in der Regierung ihrer Heimatkantone einzunehmen, um den Einfluss im Staat zu erhalten und womöglich auszubauen. Dieser Einfluss war für Familien elementar, die ihren Lebensunterhalt zu guten Teilen aus den Fremdendiensten bezogen, ging es doch darum, die sehr weitgehenden Befugnisse der Räte beim Besetzen von Offiziersstellen, bei der Rekrutenwerbung, beim Aufstellen einer neuen Kompanie oder bei ihrer Übergabe vom Vater an den Sohn zum eigenen Vorteil zu nutzen. Nur so liess sich das einträgliche Geschäft in den eigenen Reihen halten und Konkurrenz ausschalten. Auch konnte man als Ratsmitglied über die Abgeordneten in der Tagsatzung auf die Vertragsverhandlungen zwischen dem König und der Eidgenossenschaft einwirken. Nicht zuletzt sicherte einem ein Frankreich wohlgesonnenes Abstimmungsverhalten im Rat weitere Einnahmen, die der König seinen partisans in den Kantonen grosszügig und teils auf Lebenszeit zusprach.

Bereits im Alter von zehn Jahren kam Franz Ludwig Pfyffer nach Paris, wo er die französische Sprache zu lernen hatte und als Kadett in der Kompanie seines Vaters Jost in der Schweizergarde diente. Die nächsten 40 Jahre seines Lebens verbrachte er in der Armee, nahm an den Feldzügen des Polnischen und des Österreichischen Erbfolgekriegs teil und erklomm bis 1768 Stufe um Stufe bis zum Rang eines Generalleutnants. Die Aufgaben der Schweizergarde – Schutz des Königs und seiner Familie – brachten ihn an den Hof und dort in Kontakt mit wichtigen Machtträgern, unter anderem war er ein Protegé von Etienne-François de Choiseul, dem wichtigsten Minister Ludwigs XV. In Versailles waren ihm wenige Schweizer überlegen, vielleicht einzig der Solothurner Peter Viktor Besenval, mit dem er um das Amt des Generalinspektors der Schweizer und Bündner rivalisierte und verlor.

Michelis Kindheit und Jugend werden nicht grundlegend anders verlaufen sein. Allerdings trat er erst mit 18 Jahren als Fähnrich in die Kompanie des Vaters ein, und sein Engagement dauerte weniger lang, nur 29 Jahre. Trotz Teilnahme an mehreren Feldzügen des Spanischen Erbfolgekriegs, wo er sich unter anderem im Juli 1712 in der Schlacht bei Denain gegen die niederländischen Truppen auszeichnete, erreichte Micheli bloss den Grad des Hauptmanns. Sein Regiment war nicht in einem der Vororte von Paris stationiert, sondern in der Provinz. In Friedenszeiten verschob es sich entlang der Grenze im Norden und Osten, zwischen den Garnisonen von Dünkirchen und Strassburg. Michelis Dienstverpflichtungen erlaubten ihm kaum, Beziehungen zum Hof zu knüpfen, wenngleich er zum damaligen Generalobersten der Schweizer und Bündner, dem Duc du Maine, einem illegitimen Sohn Ludwigs XIV., privilegierten Zugang gehabt haben soll. 1738 demissionierte er und verkaufte seine halbe Kompanie dem Genfer Mitbürger François Gallatin.

In diesen Jahren bildeten sich beide in ihren Interessengebieten weiter und profitierten von den neuen zivilen und militärischen Ingenieurkompetenzen, die in den Armeealltag einflossen. Der Dienst in Friedenszeiten liess einem Offizier viel freie Zeit, und unter Schweizer Offizieren wurden allerlei Steckenpferde gepflegt, von Landwirtschaft, Archäologie und Numismatik über Musik, Literatur, Sammeln von Kupferstichen und Gemälden bis hin zu Astronomie, Kartografie und Vermessungswesen. Inspiriert vom berühmtesten Baumeister der Zeit, Marschall Vauban, der für Ludwig XIV. sämtliche wichtigen Festungen entworfen hatte, begann sich Micheli nach dem Friedensschluss von 1714 im Festungs- und Städtebau weiterzubilden. In den Kampagnen des Spanischen Erbfolgekriegs hatte er gesehen, wie sich Vaubans Bauten bei Belagerungen wie Verteidigungen bewährten. Als er in den folgenden Jahren Alternativen zu den offiziellen Genfer Befestigungsprojekten entwickelte, weitete er seine Studien auf die Untersuchung der Fliessmechanik von Gewässern aus auf die Hydraulik, galt es doch, die Rhone in das Verteidigungskonzept einzubeziehen. Michelis Kenntnisse im Festungsbau und in der Gewässerverbauung trugen ihm grosses Lob von seinen Vorgesetzten ein, sein Förderer, der Duc du Maine, wollte in ihm gar einen zweiten Vauban sehen. Michelis Fähigkeiten kamen der Vaterstadt zugute. 1725/26 erhob der Architekt und Geometer Jean-Michel Billon unter seiner Leitung die Daten für einen detaillierten, qualitativ hochstehenden Katasterplan. Und 1730 schenkte Micheli seine Karte Geneva Civitas der Bibliothèque publique. Noch Guillaume-Henri Dufour sprach davon mit grosser Bewunderung.

Auch Pfyffer lernte in den Jahren in Frankreich viel über Vermessung, vor allem aber über Landschaftsmodelle. Dabei kam ihm zugute, dass er jünger war als Micheli. Diese 26 Jahre machten viel aus, denn nach dem Spanischen Erbfolgekrieg ortete die Armeeführung gravierende Mängel bei der Geländeinformation und steckte in der Folge grosse Summen in die Herstellung von besseren Karten. Sie wertete die damit betrauten Ingénieurs géographes auf und fasste sie zu einer Einheit zusammen, die von einem Brigadier kommandiert wurde. Viele von ihnen kamen aus der Kaderschmiede von Méziéres, mit einigen wird Pfyffer während der Feldzüge des Polnischen und des Österreichischen Erbfolgekriegs in Kontakt gekommen sein, später bezog er sich in den Briefen an Micheli auf die gleiche Spezialliteratur, wie sie bei den Ingenieurgeografen in Gebrauch war.

Noch eine weitere Anregung brachte er aus Paris mit, den Reliefbau. Er war damit im Louvre in Berührung gekommen, wo in der zur Seine hin gelegenen Galerie du bord de l’eau die Sammlung der plans en relief der französischen Könige aufbewahrt wurde, die auf Vauban zurückging. Dieser hatte seine Festungen massstabsgetreu im Modell nachbauen lassen, um ihre Lage und Anlage so übersichtlich wie möglich darzustellen. Ihre Verteidigungsstruktur mit vorgeschobenen Befestigungen, Gräben, vorgelagerten Erhebungen, Wällen und sternförmigen Bastionen war so komplex, dass sich das Ganze nur mit einer minutiösen Planung optimal ins Gelände einpassen liess. Dies machte genaue Terrainvermessungen nötig, zudem Geländemodelle, weil die Kartografie noch nicht in der Lage war, mittels Höhenkurven die Niveauunterschiede der Landschaft abzubilden. Man wählte den grossen Massstab von 1 : 600, was eine detailgetreue Darstellung gestattete. 1697 listete Vauban bereits 184 Reliefs auf, darunter die berühmten Festungen der ceinture de fer wie Calais, Lille, Ath, Charleroi oder Philippsbourg und Neuf-Brisach im Elsass und die gegen das Königreich Savoyen gerichteten Alpenwerke von Briançon, Embrun und Exilles. Später kamen die Häfen von Saint-Tropez, Marseille oder Saint-Martin-de-Ré am Atlantik dazu. Diese Modelle fanden in der Offiziersausbildung Verwendung, wo Pfyffer sie kennengelernt haben muss. Heute ist eine Auswahl davon, zum Teil wahre Kunstwerke, im Hôtel des Invalides ausgestellt.

Micheli und Pfyffer konnten während ihrer Dienstzeit viel Fachwissen und Erfahrung erwerben, die den einen, Pfyffer, zu einem soliden Topografen machte, den andern, Micheli, zu einer anerkannten Grösse in all den Disziplinen, die mit dem Festungs- und Städtebau zusammenhingen. Das ist bezeichnend für diese frühe Phase der angewandten technischen Wissenschaften: Selbst der Laie und Autodidakt konnte sich so tief in die Materie einarbeiten, dass er zu Recht als Fachmann auftreten konnte, auch ohne institutionell abgesicherte Ausbildung.

… und politische Karrieren in Genf und Luzern

In den Solddienstfamilien wurde von den Ältesten nicht nur eine militärische Karriere erwartet, sondern auch eine politische, sie sollten die Sitze in den Räten ihrer Kantone einnehmen. Diese Karrieren verliefen bei den beiden diametral entgegengesetzt. War Pfyffer bis wenige Jahre vor seinem Tod eines der einflussreichsten Mitglieder in der Regierung Luzerns, so befand sich Micheli nahezu während der Hälfte seines Lebens auf der Flucht oder sass als Häftling auf der Aarburg ein. Zwar kam er mit 30 Jahren in den Grossen Rat der Stadt Genf, doch was ihm in Frankreich Lob und Anerkennung eingetragen hatte, war in Genf nicht gefragt. Er überwarf sich mit führenden Räten wegen des Projekts der Erneuerung der Stadtbefestigung, das er, der von höchsten französischen Armeeautoritäten beglaubigte Experte, als dilettantisch und zu teuer ablehnte. Darin hatte er von Anfang an Recht, und je länger die Arbeiten dauerten, desto offensichtlicher wurde dies, vor allem was die Kosten anging, die förmlich explodierten und die Bürgerschaft in Unruhe versetzten. Er stritt sich lange und immer erbitterter mit seinen Kontrahenten, bis diese genug hatten und bewirkten, dass ihm die Stadt 1730 das Bürgerrecht aberkannte und ihn ein paar Jahre später in effigie köpfte. Da war er längst auf der Flucht. Zunächst hielt er sich in Paris auf, wo er politische Rechtfertigungsschriften und Pamphlete gegen die heimische Elite verfasste und sich damit sowohl in Genf wie in Paris immer stärker von den Freunden isolierte, die ihn noch unterstützten. Mehr und mehr galt er als Querulant, der mit seiner Renitenz nicht nur nervtötend war, sondern zunehmend als Gefahr für die öffentliche Ordnung betrachtet wurde. Neben diesen Kämpfen betätigte er sich wissenschaftlich. Er verkehrte mit angesehenen Vertretern der Gelehrtenrepublik, darunter Réaumur und Maupertuis, und verfasste beachtete Schriften zur Temperaturmessung. Im Bemühen, seine Rehabilitation in Genf zu erreichen, suchte er in den folgenden Jahren erfolglos Hilfe in Zürich, Bern, Basel und Strassburg. 1746 liess er sich im liberalsten Territorium der damaligen Schweiz nieder, im preussischen Neuenburg. Dort verfasste er als Summe seiner jahrelangen Auseinandersetzung mit der Genfer Regierung das erst nach seinem Tod gedruckte Manuskript Maximes d’un Républicain, eine radikale Kritik an der oligarchischen Struktur Genfs und zugleich eine Hinwendung zu republikanischen Auffassungen. Auf Ersuchen Genfs, Berns und Zürichs wurde er verhaftet und zunächst im Berner Inselspital inhaftiert. Nur drei Jahre später beschuldigte ihn Bern der Teilnahme an der Verschwörung von Samuel Henzi, der sich mit einer Gruppe von Bürgern gegen das allzu mächtig gewordene Patriziat erhoben hatte, das mehr als drei Viertel der Burgerfamilien aus dem Rat fernhielt und alle einträglichen Ämter unter sich aufteilte. Ähnliche Bewegungen gegen die Zurücksetzung des grösseren Teils der Bürgerschaft sind in diesen Jahrzehnten auch in anderen patrizisch regierten Orten zu beobachten. Allerdings konnte Michelis Rolle in den folgenden Prozessen nicht zweifelsfrei geklärt werden, was ihm das Schwert ersparte, aber für den Rest des Lebens Festungshaft auf der Aarburg eintrug. Dort sollte er 20 Jahre, bis unmittelbar vor seinem Tod 1766, bleiben, und daher gilt er bis heute als der am längsten eingekerkerte politische Gefangene der Schweiz.

Spätestens in dieser Zeit lernte ihn Pfyffer kennen. Sein Leben hatte sich ganz anders entwickelt. Er erfüllte politisch die in ihn gesetzten Erwartungen und gelangte über die Ämter des Stadtrichters und des Grossrats bereits im Alter von 36 Jahren in den Kleinen Rat, in die Regierung. Immer öfter vertrat ihn sein Bruder Jost-Christoph im Kompaniekommando, selber hielt er sich während Monaten in Luzern auf, wo er vermehrt Einfluss nahm, politisch und mit seinen Ingenieurkenntnissen. Und auch wenn es, etwa beim Neubau der Strasse nach Basel, zu zeitweise heftigen Meinungsverschiedenheiten mit den Ratskollegen kam, war man in Luzern froh um diese Kompetenzen und belohnte seine Leistung, ganz anders, als dies bei Micheli in Genf der Fall gewesen war. 1768 kehrte er endgültig zurück und gehörte nun auch dem Kriegsrat an, dem Verteidigungsministerium des Standes Luzern. Vor allem aber betätigte er sich im Auftrag des Ministers und Protektors Choiseul als Verbindungsmann Ludwigs XV., dessen Interessen in der Politik Luzerns und der Innerschweiz er durchzusetzen hatte. Konkret bedeutete dies, die politischen Mechanismen zu schmieren, damit die Entscheidungsträger die Bedingungen für die Fremdendienste in Frankreich so vorteilhaft wie möglich ausgestalteten. Zu diesem Zweck stellte ihm das Aussenministerium ein Füllhorn zur Verfügung, aus dem auch für ihn reichlich abfiel, eine gängige Praxis auch in anderen Kantonen und seitens anderer europäischer Mächte. Das ging lange gut. Doch mit dem Jahr 1789 – da war der unglückliche Micheli schon seit 25 Jahren tot – begannen sich die Dinge zu ändern, und als nach dem Tuileriensturm von 1792 sämtliche Schweizer Truppen von der gesetzgebenden Versammlung in Paris entlassen wurden, versiegten die französischen Geldquellen fast ganz, auch die Renten der regulär entlassenen Offiziere und Soldaten. Pfyffer sah sich gezwungen, seinen Aufwand zu reduzieren, die politischen Aussichten waren für den prominenten Vertreter des Ancien Régime ohnehin düster. Das böse Ende kam 1798 mit dem Einmarsch der französischen Truppen. Ende Januar dankte das Luzerner Patriziat ab, und fortan war es seinen Vertretern verboten, politische Ämter auszuüben. Damit verschwand Pfyffer von der Bühne Luzerns, auf der er eine so glänzende Rolle gespielt hatte. 1802 starb er.

 

Betrachtet man die beiden Lebensläufe, könnte man den einen als tragische Geschichte eines gleichermassen hellen Kopfes wie notorischen Querulanten und Pechvogels, den andern als zwar ausgesprochen erfolgreiche, insgesamt jedoch nicht ungewöhnliche Karriere eines Schweizer Aristokraten ansehen. Micheli forderte seine Standesgenossen sowohl mit seinen Sachkenntnissen als Ingenieur heraus wie mit seinen, wie sich im Nachhinein zeigte, fortschrittlichen Auffassungen über Staat und Gesellschaft, aber er war ein Moralist, politisches Geschick beim Umsetzen seiner Absichten ging ihm vollständig ab. Pfyffer war nicht weniger klug, aber er beherrschte den Umgang mit Macht und Einfluss und besass einen geschmeidigeren Charakter, den er am Hof noch verfeinert hatte. Und dennoch wäre beider Leben längst vergessen, wenn Micheli und Pfyffer nicht ihrer Leidenschaft nachgelebt hätten, ihrer Leidenschaft für die Geometrie.

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