Handbuch Jüdische Studien

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Für Toragelehrte wie Esra und Nehemia, die selbst der Herrscherschicht angehörten, bedeutete die allgemeine Zugänglichkeit der Heiligen Schrift einen erheblichen Machtverlust. Warum trafen sie dann eine solche Entscheidung? Vermutlich blieb ihnen gar keine andere Wahl: Im Mittelmeerraum hatte sich eine andere Kultur auszubreiten begonnen, und auch sie beruhte auf einem alphabetischen Schriftsystem. Die hellenistische Idee von Kultur erreichte zwar erst mit Alexander dem Großen den Punkt, „wo es möglich wurde, zu sagen, man sei Hellene nicht durch Geburt, sondern durch Bildung, so daß auch ein als Barbar Geborener ein wahrer Hellene werden konnte“.29 Doch schon lange vorher hatte der Hellenismus eine „kosmopolitische“ Dimension und das griechische Denken eine „universalistische“ Form angenommen, deren spezifisch „logische“ Strukturen in das Denken des östlichen Mittelmeerraums einzudringen begann. Der Hellenismus breitete sich nicht in Form von Kolonisierung oder militärischer Unterwerfung aus, wie sie die Griechen zwar immer noch (aber immer weniger) betrieben; vielmehr stellte er eine Form von „geistiger Eroberung“ dar, wie sie sich weder militärisch noch politisch je hätte herbeiführen lassen. Tatsächlich entfaltete der Hellenismus erst dann seine höchste Wirksamkeit, als Griechenland schon längst kein politisches oder militärisches Schwergewicht mehr war. Dadurch ergab sich eine weitere Ähnlichkeit von Hellenismus und Judentum. Nicht durch Zufall ist der Begriff „Diaspora“, der heute zumeist mit dem Judentum verbunden wird, der griechischen Sprache entnommen: Die Magna Graecia stellte ein diasporisches Modell dar, das auf die damalige Welt großen Einfluss ausübte.30 Eben weil es sich beim Hellenismus um eine geistige Eroberung und „universelles Modell“ handelte, gab es eine bemerkenswerte Bereitschaft der „Besiegten“, diese Kultur anzunehmen. Obgleich die Nichthellenen den Hellenen zahlenmäßig weit überlegen waren, kam es zur raschen Verbreitung der griechischen Sprache.31 Sofern der Osten „überhaupt nach literarischem Ausdruck strebte“, so Hans Jonas, musste er sich „in griechischer Sprache und Manier äußern“.32 In dieser Form begann der Einfluss Griechenlands auch auf die jüdische Kultur überzugreifen: Dafür spricht die Entstehung der Septuaginta und davon erzählen auch die Makkabäer-Bücher, in denen von Ereignissen aus dem 2. Jahrhundert v. u. Z. und den innerjüdischen Konflikten zwischen hellenisierten Juden und solchen, die sich dagegen auflehnten, berichtet wird.

Offenbar ging es den jüdischen Gelehrten aus Babylon um diese Anziehungskraft des Hellenismus. In Persien lebend, waren sie mit diesem schon früh konfrontiert worden. Für den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft stellte der Hellenismus, der dank des Alphabets eine gewisse Ähnlichkeit vorzuweisen hatte, eine größere Gefahr dar als die anderen umgebenden Kulturen. Dass es den jüdischen Gelehrten (wenn nicht ausschließlich, so doch auch) um die Abgrenzung gegen den Hellenismus ging, dafür spricht der Zeitpunkt der Entscheidung: Das Jahr 440 v. u. Z. fiel in genau jene Zeit, in der sich das griechische Alphabet endgültig etablierte. Das war die Zeit Platons, Euripides’ und der griechischen Klassik, als die griechische Bevölkerung das Schreiben „gründlich interiorisiert“ und die Schrift fähig geworden war, „die Bewußtseinsprozesse durchgängig zu beeinflussen“.33 Begann im Judentum mit Esra die Reihe der Schriftgelehrten und Bibelausleger, so setzte in Athen um dieselbe Zeit das Zeitalter der Sophisten ein, das Griechenland ein neues Zeitalter „der Gelehrten, der Gebildeten, der Männer des Buchs“ bescherte.34

Ebenso wie mit der Normierung des griechischen Alphabets im Jahr 403 v. u. Z. das griechische Alphabet „zum zentralen Kulturträger des antiken Hellenismus“ wurde,35 schlug mit der lauten Verlesung der Tora, die „Geburtsstunde der Schrift“. Für das Judentum, so der Historiker Yosef Hayim Yerushalmi, war dies aber „zugleich die Geburtsstunde der Exegese“.36 Zum Zeitpunkt der Eröffnung des Geheimwissens wurde einerseits die Tora „geschlossen“; sie hörte auf, in einem fließenden „Traditionsstrom“ zu stehen, und nahm Kanon-Charakter an. Günter Stemberger setzt die Endredaktion der jüdischen Bibel mit etwa 400 v. u. Z. an. Ab dann war nur noch der dritte Teil der biblischen Sammlungen, die Hagiographen mit den Psalmen und Weisheitsschriften, noch nicht kanonisiert und stillgelegt.37 Andererseits entstand zu diesem Zeitpunkt durch die Öffnung der Tora auch die Möglichkeit der vielfältigen Interpretationen; die allgemeine Zugänglichkeit hatte die Voraussetzungen dafür geschaffen. Das Terrain war bereitet, auf dem die Heilige Schrift zum „portativen Vaterland“ eines jeden Juden werden konnte: Nicht der Text an sich, sondern auch die Möglichkeit, ihn immer wieder aktualisieren, wechselnden historischen und kulturellen Kontexten anpassen zu können, machte aus der Tora eine „Heimat in der Fremde“. Indem jeder Jude für sich in der Schrift sein „Zuhause“ finden konnte, war die Gemeinschaft weniger anfällig für die Anziehungskraft des Hellenismus. So etwa könnte man die eine Seite des Konzepts „Judentum in der Diaspora“ beschreiben, das Esra und andere Gelehrte im babylonischen Exil entwickelt hatten.

Die andere Innovation galt der Herkunftslinie; sie vollzog sich parallel zur Öffnung der Tora. Mit Entsetzen hatte Esra festgestellt, dass die Juden Palästinas „fremde Frauen“, d. h. Frauen aus anderen Kulturen geheiratet hatten. Weil sie, wie der gesamte Mittelmeerraum der Antike, in väterlichen Erblinien dachten, hatten viele jüdische Männer Nichtjüdinnen zur Frau genommen, denn deren jüdische Identität war unwichtig. Durch ihre Heirat gehörten sie automatisch zum Judentum, und ebenso wurde auch die Zugehörigkeit der Kinder zur israelitischen Gemeinschaft durch den Vater bestimmt. Offenbar sahen die babylonischen Priester jedoch in diesen Frauen, die in einer anderen kulturellen Tradition aufgewachsen waren, einen potentiellen Gefahrenherd. So schlug einer der Führer der Gemeinschaft, Schechanja, die Trennung der jüdischen Männer von ihren nichtjüdischen Frauen und den mit ihnen gezeugten Kindern vor.38 Ein Kind sollte nur dann als „jüdisch“ anerkannt werden, wenn auch die Mutter jüdisch sei. Warum war den babylonischen Gelehrten so viel am matrilinearen Prinzip gelegen? Auch hier ist der Vergleich mit Athen aufschlussreich. Dort hatte Perikles ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz eingeführt: Es wurde auf Personen eingeschränkt, die von einer Athenerin geboren wurden, die wiederum gesetzlich mit einem Athener verheiratet war. Das Athener Gesetz hatte wenig bis nichts mit einer Abgrenzung gegen das Judentum zu tun; es ging um die Abgrenzung gegen andere Griechen. In Jerusalem wiederum ging es um die Abgrenzung gegen die umgebenden (heidnischen) Kulturen. Dennoch ist es aufschlussreich, dass sich in beiden Alphabetkulturen fast zeitgleich ähnliche Strukturen durchsetzten, die sich allerdings in einem entscheidenden Detail unterschieden: Während sich aus dem Athener Gesetz eine patrilineare Abstammungsfolge entwickeln sollte, lief das Gesetz von Jerusalem auf eine mütterliche Abstammungslinie hinaus.

Das bedeutet nicht, dass Esra und die anderen Gelehrten eine neue Matrilinearität im Sinne hatten. Sie dachten in den alten Kategorien biblischer Patrilinearität, doch war ihnen an eindeutigen Zugehörigkeitsbeweisen gelegen. Gegen die Einführung einer allein matrilinearen Deszendenz spricht auch die Tatsache, dass in etwa derselben Zeit das Buch Rut verfasst wurde: „Als fiktionale Novelle in theologischer Absicht stellt sich das Buch Rut kritisch gegen die in Esra und Nehemia wiedergegebenen Positionen.“ Rut, die angebliche Urahnin des Königs David, ist Moabiterin und „wird trotzdem vom jüdischen Volk, dem sie sich anschloss, mit Liebe aufgenommen“. Sie ist der lebende Beweis dafür, dass nicht „nur eine Familie, die über Generationen im Geist der Tora erzogen wurde, den Weiterbestand des Judentums gewährleisten könne“.39 Diese „fiktionale Novelle“ wird freilich in einer Zeit verfasst, in der das jüdische Volk, zumindest in Palästina, festen Boden unter den Füßen hatte. Dagegen kannten Esra und Nehemia das Exil, und das ließ sie ein Modell entwickeln, das den Bedingungen der Diaspora entsprach und sich später auch als solches erweisen sollte.

Mit anderen Worten: Das „portative Vaterland“ der Hebräischen Bibel wurde durch eine weibliche Blutslinie ergänzt. Auf diese Weise gehörte der einzelne Jude auch der Herkunft nach seinem Volk an. Da für diese Genealogie nur die Mutter in Frage kommt – mater semper certa est –, bot diese Abstammungslinie die notwendige Eindeutigkeit. Verkürzt gesagt: Im Exil substituierte der mütterliche Körper das „Heilige Land“. So wie sich Heilige Schrift und Orthopraxie gegenseitig ergänzten, vervollständigte auch die weibliche Blutslinie die geistige Genealogie der väterlichen Schrift. Als Heinrich Heine sehr viel später die Heilige Schrift der Juden als „portatives Vaterland“ bezeichnete,40 griff er mit seiner prägnanten Formulierung genau diese Zuordnung auf. Beides zusammen bildete für die Gelehrten aus Babylon die Basis für den Erhalt des Judentums in der Diaspora.

Die Ereignisse, die in den Büchern Esra und Nehemia beschrieben werden, offenbaren noch ein weiteres Spezifikum der jüdischen Situation. Die Gruppe der 1550 „Heimkehrer“ aus dem babylonischen Exil, die völlig neue Grundlagen für die jüdische Identität und das normative Judentum formulierte, machte gerade mal drei Prozent der damaligen jüdischen Bevölkerung aus. Es handelte sich um eine engagierte und vor allem hochgebildete Elite, die ihre persönliche Geschichte von Deportation und Heimkehr derart nachhaltig durchsetzen konnte, „dass die Bücher der Chronik im 4. Jahrhundert v. u. Z. erzählen konnten, das Land habe die ganze Zeit ihres Exils brachgelegen“.41 Der Alttestamentarier Klaus Bieberstein nennt dies eine zweischneidige Angelegenheit: „Denn einerseits integriert diese Geschichte vordergründig die zuhausegebliebene Unterschicht in das Schicksal der deportierten Oberschicht. Andererseits aber beraubt sie die zuhausegebliebene Mehrheit ihrer eigenen Geschichte und schließt jene unter ihnen, die auf ihrer eigenen Tradition beharren, als vermeintlich ‚Fremde‘ aus.“42 So lassen sich Esras und Nehemias Neuerungen auch unter „kolonialer“ Perspektive lesen: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass orale Kulturen, wenn sie von schriftkundigen Kulturen überlagert werden, gegen diese keinen Bestand haben. Das galt auch hier, setzt man die Kultur der babylonischen Juden mit Schriftkundigkeit und die der Juden in Judäa mit Oralität gleich. Nur deshalb gelang es „einer kleinen, geschichtsschreibenden Minderheit im Laufe der Zeit, die Geschichte der Ansässigen durch die Geschichte der Heimkehrer zu verdrängen, ihre auf Distinktion bedachte Sicht durchzusetzen, die Bevölkerung des Landes als Hindernis in der Gottesverehrung zu diskreditieren, sozial zu marginalisieren und die Grenzen der Gemeinde durch Stammbaumpflege zu markieren und zu fixieren“.43

 

Allerdings schränkt diese Sicht die Ereignisse auf einen sozialen Machtkonflikt ein. Gewiss, bei den Exilanten handelte es sich um Privilegierte, sie hatten in Babylon ein gutes wirtschaftliches Auskommen und waren, wie Nehemia und Esra, in die höchsten politischen Ämter aufgestiegen. Aber sie nutzten diese Bildung nicht wie die ägyptischen Priester zur Erweiterung ihrer Macht durch Geheimwissen. Vielmehr hatten sie – als Schriftgelehrte – begriffen, dass die jüdische Religion und Kultur nur überleben kann, wenn alle Mitglieder der Gemeinschaft zu Schriftkundigen werden, daher die Verlesung der Tora vor den Toren der Stadt. Erst durch diesen Akt schufen sie die Grundlagen für die Tradition der „mündlichen Tora“ – und tatsächlich sollte sich bald zeigen, dass diese für das Überleben des Judentums von essentieller Bedeutung war. Das offenbarten schon die Konflikte unter der Herrschaft der Seleukiden. Hatten die Perser den Juden große Freiheit in der Ausübung ihrer Religion gelassen, so schränkten diese die jüdischen Gesetze ein und gaben z. B. den Handel am Schabbat frei. Als Antiochus Epiphanes (215–164 v. u. Z.), der in Rom eine griechische Erziehung genossen hatte, ein Edikt erließ, das es Juden untersagte, an ihrer Religion festzuhalten (die Beschneidung wurde verboten, die Tora sollte verbrannt werden), und sie zum Beweis ihres Gehorsams heidnische Opferhandlungen vollziehen ließ, kam es zum Aufstand der Hasmonäer, die einen eigenen jüdischen Staat gründeten. Die geflohenen Aufständischen gehörten zum großen Teil der Unterschicht von Jerusalem und der verarmten Landbevölkerung an. Angeführt wurden sie von einer niederen Priesterfamilie, den Makkabäern. Gehörte diese Schicht also einst den „Ungebildeten“ an, so bildete sie nun das Rückgrat einer Bewahrung des Judentums.

Von dieser Zeit an wurde der „Befreiungskampf der Juden gegen die hellenistische Umklammerung“44 auch zu einem innerjüdischen Konflikt zwischen den hellenisierten Juden und den Juden, die sich an die Tradition hielten. Das zeigte sich erneut im letzten vorchristlichen Jahrhundert: Als hellenistisch gesinnte Aristokraten in Jerusalem eine Stadt nach dem Vorbild der Polis schaffen wollten – mit Gymnasium und Ephebeion, d. h. Elite-Institutionen –, wurden sie von den anderen Juden bekämpft, die nicht nur ihrem Glauben treu bleiben wollten, sondern auch das allgemeine Recht auf Bildung einforderten.45 Es kam also zum Aufstand gegen die „Schriftgelehrten“, aber die Befähigung zu diesem Aufstand war letztlich den babylonischen Schriftgelehrten selbst zu verdanken, die schon im 5. Jahrhundert die allgemeine Zugänglichkeit der Tora durchgesetzt hatten.

Das Konzept der matrilinearen Definition von Jüdisch-Sein wurde allerdings erst nach der zweiten Zerstörung des Tempels im Jahr 70, als das gesamte jüdische Volk den Konditionen der Diaspora unterworfen wurde, von den Rabbinen aufgegriffen. Die Tatsache, dass man sich in dieser Situation eines Entwurfs erinnerte, der im babylonischen Exil entwickelt worden war, macht besonders deutlich, dass es bei der matrilinearen Blutslinie um die Diasporafähigkeit des Judentums ging. Die Rabbinen mussten nach Mitteln suchen, den Zusammenhalt einer verstreuten Gemeinschaft zu sichern, und Ende des 2. Jahrhunderts u. Z. legten die Verfasser der Mischna endgültig fest, dass Jude ist, wer eine Jüdin zur Mutter hat. Ihren Ursprung hatte diese Entwicklung in einer Zeit, als sich Juden im babylonischen Exil gegen die Anpassung an die fremde Kultur und den hellenistischen Einfluss zu schützen suchten. Als das matrilineare Konzept der babylonischen Gelehrten in den ersten Jahrhunderten zum zweiten Mal ausformuliert wurde, hieß der Gegensatz freilich nicht mehr Hellenismus, sondern Rom und vor allem Christentum.

Der Wechsel zur Matrilinearität im rabbinischen Judentum

Der Übergang von einer matrilinearen zu einer patrilinearen Gesellschaft fand in der Geschichte mehr als einmal statt. In vielen Fällen wurde er als Prozess der Vergeistigung beschrieben, so wie auch Sigmund Freud darin einen „Kulturfortschritt“ sah. Seine Einschätzung ist umso erstaunlicher, als das Judentum, zu dem Freud sich bekannte, zu den wenigen Beispielen gehört, bei denen eine Gesellschaft von Patrilinearität zu Matrilinearität wechselte. Mit der Frage des jüdischen Übergangs zur Mutterlinie hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Forschern beschäftigt.46 Einige von ihnen stellen sich heute die Frage, ob, angesichts des erheblichen demographischen Rückgangs jüdischer Bevölkerungsanteile in den Ländern der Diaspora, nicht die Zeit gekommen sei, das strenge Regelwerk der matrilinearen Blutslinie aufzugeben und durch ein patrilineares Prinzip zu ergänzen – also auch die Kinder jüdischer Väter als Juden anzuerkennen. In einigen Gemeinden, etwa des amerikanischen oder britischen Reformjudentums wie auch im liberalen deutschen Judentum, hat sich dieses Prinzip schon durchgesetzt. Die Reformer machen freilich zur Bedingung, dass religiöse Bildung, Erziehung und Verständnis für das Judentum diese Möglichkeit ergänzen.

Die Erzählung über das biblische Judentum orientiert sich an der Patrilinearität und Patrilokalität: Die Söhne von Moses werden beschnitten, obwohl ihre Mutter Midianiterin ist. Der Tötungsbefehl des Pharao bezieht sich ausschließlich auf die männlichen Kinder (Ex 1,22). Historisch gab es in dieser Zeit für Frauen keine Konversion; entscheidend war der Familienstand. „Die ‚Konversion‘ einer fremden Frau zum Judentum bestand eben einfach darin, einen jüdischen Mann zu heiraten.“47 Auch die jüdische Frau, die in ein anderes Volk heiratete, wurde Teil der Kultur ihres Mannes. In einer Zeit, in der mehr oder weniger alle Gesellschaften dieses Kulturraums nach dem patrilinearen Prinzip organisiert waren, ergaben sich dadurch überschaubare Verhältnisse. Die Probleme traten erst mit der christlichen Religion auf, die die Taufe für Männer wie für Frauen zum „Entréebillett“ in die Gemeinschaft machte – unabhängig von der Religionszugehörigkeit des Vaters oder des Ehemannes. Diese Neuerung implizierte für Frauen eine erhöhte Entscheidungsmacht, die dem frühen Christentum auch viel Zulauf von Frauen brachte (alleinstehenden wie verheirateten),48 bis auch hier ein Regelwerk geschaffen wurde, das die Frauen entmündigte. Genau genommen schuf erst das christliche Versprechen der freien Entscheidung jenes Entweder-oder-Prinzip, das Jan Assmann als „mosaische Unterscheidung“ und als das Ende der religiösen Toleranz der Antike bezeichnete.49 Zwar ist es richtig, dass die jüdische Religion die Götter der anderen Religionen nicht duldete, aber wie das Beispiel der „weiblichen Konversion“ zeigt, war es faktisch einfach, von einer anderen Religion, genauer: von einer anderen Gemeinschaft in die jüdische zu wechseln – und umgekehrt. Zwar galt diese Flexibilität nur für die Frauen, doch musste dies notwendigerweise Auswirkungen auf die Wahrnehmung religiöser Exklusivität haben. Vor allem aber: Religion wurde in dieser Zeit nicht als eine eigene Sphäre betrachtet, sondern war Teil eines Konglomerats von Sitten, Gesetzen, Wirtschaftsformen, die eine politische Gemeinschaft konstituierten (siehe hierzu auch den Beitrag von Daniel Boyarin, S. 59). Der Bezug war also weniger transzendental als der heutige Begriff von „Religion“ unterstellt. Erst mit dem Christentum, das den Glauben in den Mittelpunkt stellte, nahm der Monotheismus wirklichen Ausschlusscharakter an.

Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels, der Zerschlagung der jüdischen Gemeinde im alten Judäa und dem seit Hadrian sogenannten Palästina sowie dem Übergang zu einer Existenz in der Diaspora, vollzog sich im Judentum der Übergang von Patrilinearität zu Matrilinearität, den schon die babylonischen Gelehrten angestrebt hatten. Zu dieser Zeit, so Dohmen und Stemberger, entwickelten die Gelehrten auch einen neuen Umgang mit der Heiligen Schrift. „Die Schriftauslegung vor 70 u. Z. war von einer gewissen Freiheit im Umgang mit dem Bibeltext geprägt, der noch in gewissem Maß fluktuierte und auch für die Auslegung vorbereitet werden konnte.“50 Man weiß nicht, so die Autoren, warum es damals so plötzlich zu einer Vereinheitlichung des Textes gekommen sei, aber sie vermuten, dass dies mit der Katastrophe im Jahr 70 „irgendwie zusammenhing“, allerdings nicht unbedingt auf einen autoritativen Beschluss der frühen Rabbinen in Jabne zurückzuführen sei.51 Jedenfalls kam das Prinzip der Matrilinearität in der Midrasch-Literatur der zweiten Tempelperiode praktisch nicht vor, was dafür spricht, „dass dieses Schrifttum mit dem matrilinearen Prinzip eben nicht vertraut war“.52

Der Wandel von Patrilinearität zu Matrilinearität vollzog sich nicht von einem Tag auf den anderen. Philon von Alexandrien (20 v. u. Z.–50 u. Z.), der als Jude im hellenisch beeinflussten Ägypten lebte, formulierte in seinen philosophisch-pädagogischen Schriften ein Modell, das dem des Perikles für Athen nicht unähnlich war: Nur die Ehen sollten gültig sein, in denen beide Partner jüdisch sind.53 Die Rabbinen entschieden sich schließlich für ein anderes Modell. Dabei versuchten sie, sich soweit wie möglich auf die biblischen Quellen zu beziehen, darunter Deuteronomium 7,3–4, wo von einer der gemischten Ehe innewohnenden Gefahr der Götzenverehrung die Rede ist. Ein explizites Verbot der Mischehe gab es nicht; schließlich war Moses selbst mit einer Fremden verheiratet: Zippora, Tochter des midianitischen Priesters Jetro (Ex 2,21). Die Aussagen von Deuteronomium zu den Gefahren der Mischehe sind jedoch so formuliert, dass vom nichtjüdischen Schwiegersohn eine „Gefahr“ für die Tochter und deren Kinder ausgehen könnte. Die Kinder des Sohnes mit einer Nichtjüdin werden nicht erwähnt. Aus dieser „Lücke“ leiteten die Rabbinen nun ab, dass die Kinder des Sohnes mit einer Fremden gar nicht erst als jüdisch galten. Damit konnten sie dekretieren, dass das Prinzip der Matrilinearität schon in Deuteronomium niedergelegt worden sei. Dort heißt es: „Dein Sohn, der von einer Israelitin geboren wurde, wird ‚dein Sohn‘ genannt, aber dein Sohn, der von einer Götzendienerin geboren wurde, wird nicht ‚dein Sohn‘ genannt: es ist ihr Sohn.“ In der Mischna formulierten die Rabbinen: „Dein Sohn ist nicht dein Sohn, wenn seine Mutter nicht Jüdin ist.“54 Damit wurde einerseits das matrilineare Prinzip neu eingeführt, andererseits aber auch in der Heiligen Schrift verankert – und dies mit einem geschickten Schachzug, der sich einer „verwirrenden Syntax“ verdankte. „Diese Auslegung wäre nach dem griechischen Bibeltext nicht möglich gewesen, denn das darin enthaltene Futur apostesei, männlich und weiblich zugleich, kann sich gleichermaßen auf den heidnischen Schwiegersohn wie auf die heidnische Schwiegertochter beziehen“, so Joseph Mélèze Modrzejewskis Kommentar zu dieser Auslegung.55 Eine Zeitlang wurde die Neuordnung noch von Teilen des Judentums bekämpft; Spuren dieser intensiv geführten Debatte finden sich im Talmud. Dann hatte sich die Lehre durchgesetzt und gilt bis heute als Regel des normativen Judentums.

Die neue Richtlinie hatte auch auf den sozialen Status von Kindern aus „Mischehen“ Rückwirkungen. Laut der Mischna war der Nachkomme einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters ein „Mamser“ (Hurenkind).56 Dasselbe galt für alle Kinder, die aus verbotenen Verbindungen stammten – bestimmte Formen von Inzest und außereheliche Verbindungen.57 Das von den Tanna’im (den Weisen der Mischna) aufgestellte Gesetz bedeutete jedoch, dass das Kind einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters ein Jude ist, wie seine Mutter – obgleich die Eltern keine nach jüdischem Recht anerkannte Verbindung (kidduschin) eingegangen waren.58

 

Das veränderte jüdische Regelwerk wies einige Ähnlichkeiten mit dem römischen Recht auf: Bei Beziehungen zwischen Männern und Frauen von ungleichem Stand folgte der Status des Kindes dem Elternteil mit dem niederen Status.59 Im römischen Recht hieß dies, dass das Kind eines Sklaven oder einer Sklavin ebenfalls dem Sklavenstand angehörte, auch wenn einer der beiden Elternteile frei war. Im Judentum entschied diese Regel weniger über den sozialen Status als über die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft: Das Kind eines Juden mit einer Nichtjüdin folgt dem Status der Mutter.60 Allmählich wurde so die Beziehung vom Vater zum Sohn der Zugehörigkeit zur Mutter untergeordnet.61 Das römische Recht war jedoch nicht der Auslöser für die Veränderung.

Anhand der Zeugnisse der Papyri, der Apostelgeschichte und Flavius Josephus läßt sich belegen, dass bei den Juden im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung noch immer die patrilineare Abstammung geltendes Recht war. Ein Jahrhundert später, in der Mischna, gilt gerade die umgekehrte Regel: Das Prinzip der Patrilinearität ist zurückgetreten zugunsten der matrilinearen Abstammung, die die Halacha für die Zukunft, bis in unsere Tage, bestimmt.62

Es vollzog sich also eine völlige Umkehrung der Rechtsregeln, durch die die jüdisch-religiöse Identität neu definiert wurde. Allerdings galt dies nur für die Abstammung und Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft. Denn das rabbinische Familienrecht, das über Verwandtschaftsbeziehungen und Erbschaft bestimmte, hielt sich weiterhin an die überlieferte Patrilinearität. Der babylonische Talmud ist dazu ganz explizit: „Die Familie des Vaters wird als die Familie des Kindes angesehen, die Familie der Mutter nicht.“63 Auch das Priesteramt der Kohanim wurde weiter in väterlicher Linie vererbt. Eine solche Unterscheidung von Abstammungslinie und Verwandtschaftsverhältnissen blieb in der griechisch-römischen und christlichen Patrilinearität eher die Ausnahme; beim Judentum dagegen wurde es zur Regel und hing eng mit den Bedingungen der Diaspora zusammen.

Für die Motive der Rabbinen, diese Neuerung einzuführen, gibt es mindestens zwei sich ergänzende Erklärungen: erstens die neue Situation der „Staatenlosigkeit“, zweitens die Abgrenzung gegen die neu entstehende Religion des Christentums, das sich einerseits auf die jüdische Tradition bezog, von dieser aber auch in entscheidenden Teilen abwich. Außerdem wird der Einfluss des römischen Rechts geltend gemacht.

Entsprechend dem römischen conubium [durch das bestimmt wurde, welche Personen eine anerkannte Ehe eingehen können, CvB] gibt es im rabbinischen Recht die Bezeichnung Kidduschin. Die wesentliche Übereinstimmung, nämlich dass Kinder nach dem römischen Recht, die aus einer gemischten Ehe (also ohne conubium) hervorgehen, automatisch dem Status der Mutter folgen, entspricht genau dem Prinzip nach mKidd III,12.64

Sowohl im römischen als auch im jüdischen Recht gab es das Prinzip der rechtmäßigen Ehe, und in beiden Regelwerken richtete sich bei „Mischehen“ der Status der Nachkommen nach der Mutter, weil die legale väterliche Abstammung fehlte. Dennoch unterschieden sich die Gesetze: Das römische Recht sah neben dem conubium auch das justum matrimonium, die legal vollzogene Ehe, vor – eine Bestimmung, die das jüdische Recht nicht kannte. Die Ähnlichkeiten der Rechtsbestimmungen dürften dazu beigetragen haben, dass die römische Herrschaft der jüdischen Änderung des Personenstands stattgab, „indem sie zuließ, dass die Zugehörigkeit zum Judentum und damit Volk und Religion sich nach der Mutter richtet“.65 Diese Konzession widersprach zwar dem eigenen Patrilinearitätsprinzip, doch im Römischen Reich gab es auch andere Völker und Städte, denen dieses Privileg zugestanden worden war. In griechischen Städten wie Troja und Delphi z. B. wie auch in Antinoupolis, einer im Jahr 130 von Hadrian in Ägypten gegründeten Stadt, ergänzte die Matrilinearität das Recht, eine rechtswirksame Ehe mit „Ägyptern“ zu schließen.66

Das würde jedoch höchstens erklären, warum der Wandel durchsetzbar war, nicht die Motivation der Rabbinen zu dieser Entscheidung. Unbestreitbar waren gerade im 2. Jahrhundert die historischen Voraussetzungen für eine Orientierung am römischen Recht gegeben – Modrzejewski spricht von einer „zeitlichen Koinzidenz zwischen der Mischna, die um das Jahr 200 unserer Zeitrechnung schriftlich kodifiziert wurde, und dem römischen Recht im Zeitpunkt seiner größten Blüte“.67 Auch war das römische Recht gut vereinbar mit der Neuordnung des jüdischen Rechts. Gleichwohl dürften die Rabbinen andere Gründe für ihre Entscheidung gehabt haben. Ihr Hass auf die Römer, die Jerusalem zerstört und die Gemeinschaft zerschlagen hatten, war gewiss nicht geringer als ihre frühere Gegnerschaft zu den Griechen. Warum sollten sie sich dann ausgerechnet am römischen Recht orientieren?

Mehr Gewicht hat ein anderes Erklärungsmuster, das die Sicherheit der mütterlichen Abstammung in den Vordergrund stellte und über die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft entscheiden ließ. Auf diese „Sicherheit“ hätte schon das biblische Judentum setzen können. Dass es sich an die Patrilinearität der umgebenden Kulturen hielt, zeigt, dass es bei der Änderung um die Bedingungen der Diaspora ging. (Ganz aufgegeben wurde die Patrilinearität auch nicht, wie das Beispiel der geistlichen Ämter zeigt.) Allerdings wurde das neue matrilineare Prinzip nicht immer konsequent verfolgt. „Wurde eine Frau als Folge einer Vergewaltigung schwanger, so hat der Nachkomme den gleichen Status wie die Mehrheit der Bevölkerung, bei der die Vergewaltigung geschah. In diesen Fällen ist die Vaterschaft zwar sehr unsicher, aber die Rabbinen beurteilen die Nachkommen nicht matrilinear.“68 Aus diesem Beispiel lässt sich ableiten, dass mit der neuen Betonung der mütterlichen Deszendenz weniger die Sicherheit der Herkunft gemeint war als ein positives Bekenntnis zum Judentum. Diese Identität sollte als Teil einer Konstruktion verstanden werden, die das „portative Vaterland“ der Heiligen Schrift mit dem weiblichen Körper als „sakraler Heimstätte“ verband: Hatte Gott in der Exodus-Erzählung das Volk zu seinem Tempel gemacht, so fand sein Volk in der Zerstreuung eine neue „Wohnstätte“ im Körper der Frau – eine Symbolik, die in den Gemeinschaftsallegorien vieler Kulturen und Völker auftaucht (von der Ecclesia über Israel als „Braut Gottes“ bis zu den späteren Nationalallegorien). Hier jedoch hat sie nicht symbolischen Charakter, sondern verortet sich im realen Körper der einzelnen Frau.

Die neue Identitätskonstruktion war nur deshalb möglich, weil im Judentum durch die Staatenlosigkeit ein völlig neues Prinzip geistlicher Zuständigkeit entstanden war. Jochanan ben Zakkai gilt als der, der das jüdische Volk nach der Katastrophe von 70 in ein neues Zeitalter überführte. Schon seine Herkunft – er war nicht aus davidischem Geschlecht und auch kein Priester – prädestinierte ihn, Schöpfer einer neuen Sozialordnung zu werden. Dementsprechend stieß diese auch zunächst auf viele Widerstände, vor allem von Seiten der Priestereliten. Jochanan und die Gelehrten, die um ihn in Jabne versammelt waren, gelten als die Begründer des rabbinischen Judentums. Diese Rabbinen, so Günther Stemberger, waren „anfangs noch eine sehr kleine Gruppe, ohne direkten Rückhalt im Volk, eine elitäre Intellektuellenschicht, die mit öffentlichen Aufgaben nichts zu tun haben wollte“.69 In gewissem Sinne wiederholte sich also die Situation des 5. Jahrhunderts v. u. Z. – nur in Umkehrung. Damals kam eine kleine Elite von babylonischen Gelehrten, die der jüdischen Bevölkerung ein neues Identitätsmodell nahezubringen versuchten. Nun waren es nicht die Priester, sondern gewissermaßen „Autodidakten“, die das neue Prinzip formulierten. Und diese intellektuelle Elite kam nicht aus Babylon, sondern bestand aus dem Judentum des alten Palästinas. Einige der überlebenden Priester, Leviten und Tempelbeamten, die nach der Zerstörung des Tempels ohne Amt, Funktion und öffentliche Macht waren, schlossen sich der Gruppe von Jabne an. „So versuchte ein Teil der Priesterschaft neben der aufstrebenden jüdischen Laiengelehrsamkeit, insbesondere durch die pharisäische Bewegung verkörpert, als konsolidierte Gemeinschaft fortzubestehen.“ In Jabne setzte man „das Studium der Tora an die Stelle des Tempelopfers“ und maß ihm eine vergleichbare religiöse Bedeutung zu.70 Es waren diese Intellektuellen, denen nichts anderes geblieben war als ihre Gelehrsamkeit, die die jüdische Lehre in eine „portative Religion“ verwandelten.