Handbuch Jüdische Studien

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Dass der Ort des Grabes nicht genannt wird, ist – ebenso wie das Bilderverbot im Judentum – keinem Zufall geschuldet. Roberto Blatt vermutet, dass das Judentum die Spuren jener bedeutenden Schauplätze, an denen der Bund mit Gott geschlossen wurde, verwischt hat, um die Sakralisierung von bestimmten Räumen zu verhindern – vom konkreten Ort im Sinai, wo die Tora übergeben wurde, bis hin zu Moses Grab. Räumlich greifbare heilige Stätten, an denen die Gefahr der Pilgerschaft bestünde, existieren nicht.36

Mit Derrida gesprochen: „Die ‚Vertriebenen‘, die Exilierten, die Deportierten, die Entwurzelten, die Nomaden haben zwei Seufzer, zwei Nostalgien gemeinsam: ihre Toten und ihre Sprache.“37 Beide Dimensionen sind für die Juden im Buch stets gegenwärtig: Von der heiligen Sprache der Tora bis zu den yizker-bikher (Gedächtnis-Bücher) übernimmt die Schrift die Funktion von Territorium, Erinnerung und Grabstein.

Der italienische Architekt Bruno Zevi erkennt dieses extra-territoriale Denken und die Distanz zur Materie in den verschiedenen Konzeptionen des Raumes wieder. Während für das griechische bzw. abendländische Denken das Wesentliche eines Raums im Sein besteht (unabhängig davon wie statisch und rigide der Raum umrissen ist), verkörpert ein solches Sein nach jüdischer Vorstellung eine „Nicht-Entität“, da ein Sein ohne Bewegung bzw. ohne Handeln nicht existieren kann. So galt der Tempel den Griechen in der Antike als Objekt der Sakralität, wohingegen das Gebetshaus der Juden vor allem als Ort des Zusammentreffens dient, an dem etwas passiert: Die Synagoge („Versammlung“, „Gemeinschaft“, auch hier ein griechisches Wort!) wird auf Hebräisch beit knesset („Haus der Zusammenkunft“, auf Jiddisch schil oder schul, abgeleitet von Schule) genannt.38 Ein Raum wird nicht durch die ihm immanenten Eigenschaften jüdisch, sondern durch das Anbringen einer mesusa am Türpfosten, die signalisiert bzw. daran erinnert, dass dort die jüdischen Gesetze eingehalten werden. In Lévinas’ Worten: „Für das Judentum wird die Welt durch ein menschliches Antlitz intelligibel und nicht, wie für einen großen zeitgenössischen Philosophen, der einen wichtigen Aspekt des Abendlands resümiert, durch Häuser, Tempel und Brücken.“39 Tun statt Sein, Text statt Raum.

Unter den Zehn Geboten steht eines für die Sakralisierung der Zeit (das 4. Gebot „Du sollst den Schabbat heiligen“), doch keines ist einem Land gewidmet. Auch im Talmud bezieht sich ein wichtiges Traktat auf den Schabbat, nicht aber auf das Land Israel. Das Judentum lebt und währt schon immer in der Zeit. Abraham Joshua Heschel prägte einst die schöne Formel: „Die schabatot sind unsere großen Kathedralen.“40

Anders als in den europäischen Sprachen tragen die Wochentage auf Hebräisch keinen Eigennamen – mit Ausnahme des Schabbat. Den Narrativen der Tora folgend (1. Buch Mose, bereschit bzw. Genesis genannt, das mit der Entstehung der Welt beginnt) werden die Tage einfach gezählt: erster Tag, zweiter Tag, dritter Tag – bis schließlich auf den sechsten Tag der Schabbat folgt. Die Tradition sieht darin eine sich stets wiederholende „Reise“ in der Zeit. Jede Woche wird neu gezählt. Wer immer die Macht im territorialen Sinne ausübt und wie zerstreut das jüdische Volk auch sein mag: In der Schrift und am Schabbat sind alle Juden vereint. Zu Hause. Für einen Moment.

Schabbat. Ankommen, jedes Mal neu.

______________

1Yerushalmi, Yosef Hayim: Exil und Vertreibung in der jüdischen Geschichte, in: ders.: Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte, Berlin 1993, S. 21–38.

2Dies wurde 1948 mit der Gründung des Staates Israel in gewisser Weise „aufgehoben“. Viele orthodoxe Juden sprachen sich aufgrund dessen gegen den Zionismus aus. Zu den Schwierigkeiten, eine jüdische Diaspora-Kultur in die hegemoniale Konzeption eines Nationalstaates einzupassen, siehe Boyarin, Daniel; Boyarin, Jonathan: Diaspora: Generation and the Ground of Jewish Identity, in: Critical Inquiry 19 (2002), S. 693–725.

3Boyarin, Daniel: A Travelling Homeland: The Babylonian Talmud as Diaspora, Philadelphia 2015.

4Dufoix, Stéphane: Les diasporas. Une histoire de usages du mot diaspora, Paris 2011. Hier sind alle Erwähnungen des Wortes Diaspora in der Bibel, auch im Neuen Testament, belegt. Siehe vor allem S. 78 ff.

5Vgl. Cohen, Robin: Global Diasporas: An Introduction, New York 2008.

6Mayer, Ruth: Diaspora. Eine kritische Begriffsbestimmung, Bielefeld 2005, S. 21.

7Dufoix: Les diasporas, Kap. I. Kritische Bemerkungen bei Baumann, Martin: Diaspora: Genealogies of Semantics and Transcultural Comparison, in: Numen 47 (2000), S. 313–337.

8Dufoix: Les diasporas, S. 60 ff.

9Siehe 5. Buch Mose 28,25.

10Schoshan, Eben: Ha’milon ha’chadash, Jerusalem 1961, S. 175 [Übersetzung LRF].

11Ebd., S. 1723.

12Erst nach der Beschneidung (und dem Bund mit Gott) wird der Buchstabe „he“ in Abrams Namen eingeschrieben, wodurch er zu Abraham wird (1. Buch Mose 17,5).

13Zitiert aus dem 1. Buch Mose 12,1; in der Übersetzung von Moses Mendelssohn.

14Zitiert aus dem 3. Buch Mose 25,23; in der Übersetzung von Moses Mendelssohn.

15Yerushalmi: Exil und Vertreibung.

16Ebd., S. 23.

17Dubnow, Simon: Diaspora, in: Seligman, Edwin R. A.; Johnson, Alvin (Hg.): Encyclopaedia of the Social Sciences, Bd. 5, New York 1931, S. 129–130.

18Ebd., S. 127.

19Siehe dazu Mayer: Diaspora.

20Yerushalmi: Exil und Vertreibung, S. 26.

21Siehe Attias, Jean-Christophe; Benbassa, Esther: Israel, la tierra y lo sagrado, Barcelona 2001, S. 100.

22Gerchunoff, Alberto: Jüdische Gauchos, Berlin 2010, S. 8.

23Siehe Boyarin: A Travelling Homeland.

24Dubnow: Diaspora, S. 127.

25Siehe: Yerushalmi, Yosef Hayim: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988 (EA Seattle 1982).

26Siehe Haddad, Gérard: L’enfant illégitime. Sources talmudiques de la psychoanalyse, Paris 1990, Kap. 1. Das Zitat aus Freuds Brief ist ebenfalls diesem Buch entnommen.

27Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften, Bd. 4, München 1995, S. 4.

28Ebd., S. 483.

29Lévinas, Emmanuel: Eigennamen, München; Wien 1988, S. 106.

30Heinrich Heine an Eduard Gans, 26. Mai 1826.

31Jabès, Edmond: Ein Fremder mit einem kleinen Buch unterm Arm, München; Wien 1993, S. 105.

32Steiner, George: Unser Heimatland: der Text, in: ders.: Der Garten des Archimedes, München; Wien 1996, S. 253.

33Ebd., S. 251.

34Lévinas, Emmanuel: Difficile Liberté: Essais sur le judaïsme, Paris 21983, S. 183 (Übersetzung LRF).

35Siehe dazu Weber, Elisabeth: Schwarze Tränen, Tintenspur, in: Wetzel, Michael; Jean-Michel Rabaté; Agamben, Giorgio (Hg.): Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, Berlin 1993, S. 39–56.

36Blatt, Roberto zitiert in Sperling, Diana: Genealogía del odio, Buenos Aires 1995, S. 119.

37Derrida, Jacques: La Hospitalidad, Buenos Aires 2000, S. 91.

38Siehe Zevi, Bruno: Arquitetura e judaismo: Mendelssohn, Sao Paulo 2002.

39Lévinas, Emmanuel: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/Main 1992, S. 36.

40Heschel, Abraham Joshua: Der Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen, Neukirchen-Vluyn 1990.

Sephardim und Aschkenasim

Sina Rauschenbach

Grundlagen

Sephardim und Aschkenasim bilden traditionell die beiden größten Gruppen innerhalb des Judentums. Dabei gehen die Bezeichnungen auf die biblischen Begriffe „Sepharad“ und „Aschkenas“ zurück, mit denen im mittelalterlichen Hebräisch „Spanien“ und „Deutschland“ benannt wurden.1 Entsprechend werden unter Sephardim traditionell alle Juden zusammengefasst, deren Wurzeln auf die Iberische Halbinsel zurückgehen. Als Aschkenasim bezeichnet man alle Juden deutscher oder nordfranzösischer Abstammung. Ebenfalls einschlägig ist die Unterscheidung zwischen sephardischen und aschkenasischen Traditionen und Ritusgruppen, die seit der Neuzeit zunehmend Gewicht erhält.2 Schließlich werden soziale und sprachliche Voraussetzungen als Trennmerkmale angeführt, wobei diese nicht nur dazu dienen, Sephardim und Aschkenasim zu unterscheiden, sondern auch West-Ost-Differenzen innerhalb der halachischen sephardischen und aschkenasischen Traditionen deutlich zu machen.3 Keine der genannten Unterscheidungen ist jedoch eindeutig, und jede Kategorisierung ist auf ihre Art und Weise kontextgebunden. Dies betrifft insbesondere die Zuschreibung von West und Ost, die niemals nur eine geographisch neutrale, sondern immer eine wertende ist und in der neueren Forschung zunehmend in Frage gestellt wird.4

Geographisch hatte das sephardische Judentum seine mittelalterlichen Zentren auf der Iberischen Halbinsel und im Mittelmeerraum, das aschkenasische Judentum im nordfranzösischen und deutschsprachigen Raum, von wo es sich sukzessiv in weiten Teilen Europas (und hier besonders nördlich der großen Mittelgebirge) verbreitete. Nach den Vertreibungen der Juden aus England, Frankreich und unterschiedlichen Teilen des Reichs zwischen dem 13. und frühen 16. Jahrhundert verstärkte sich die Migration von West nach Ost so sehr, dass sich der Schwerpunkt aschkenasischen Lebens nach Polen und Litauen verlagerte, wo die Rechtssicherheit größer und die Lebensbedingungen günstiger waren als in den meisten westeuropäischen Ländern. Auch im expandierenden Osmanischen Reich, zu dem seit dem 16. Jahrhundert weite Teile des östlichen Mittelmeerraums und des Nahen Ostens zählten, ließen sich aschkenasische Juden nieder. Erst im 17. Jahrhunderts kehrte sich das Bild um, und aschkenasische Juden flohen vor Krieg und Pogromen aus Mittel- und Osteuropa in den Westen. In Frankreich lebten aschkenasische Juden in der frühen Neuzeit mehrheitlich in Elsass-Lothringen. In Italien mischten sie sich in unterschiedlichen Zeiten und Herrschaftsgebieten mit italienischen, sephardischen und anderen Juden.5

 

Sephardische Zentren entstanden nach den Vertreibungen und Zwangskonversionen der iberischen Juden zwischen 1492 und 1498 zuerst in Norditalien, Nordafrika und ebenfalls im Osmanischen Reich. Seit dem 17. Jahrhundert ließen sich iberische Juden zusätzlich in Hamburg, Amsterdam, London und auf dem amerikanischen Kontinent nieder, von wo sie bedeutende Handelsnetzwerke aufbauten, die sich über die gesamte sephardische Diaspora erstreckten.6 Gleichzeitig bildeten sich auf der Iberischen Halbinsel, in den Ländern der spanischen und portugiesischen Kronen sowie im Süden Frankreichs, wo offenes jüdisches Leben nicht erlaubt war, Converso-Gemeinden, in denen Sephardim in der Öffentlichkeit als Christen und im Geheimen als Juden lebten. Andere Conversos gaben ihr Judentum auf, blieben aber mit jüdischen Familienmitgliedern und Geschäftspartnern vernetzt und wurden ebenfalls Teil sephardisch-atlantischer Handelsnetzwerke und Kontakte.7 Von Sephardim in klassischen Zentren des aschkenasischen Judentums wie etwa im Polen des 16. Jahrhunderts wird berichtet, man muss jedoch davon ausgehen, dass es sich um Ausnahmeerscheinungen handelt.8 Erst im Zusammenhang des Niedergangs und Zerfalls des Osmanischen Reichs sind größere Migrationsbewegungen von sephardischen Juden in traditionelle Zentren des aschkenasischen Judentums zu verzeichnen.9

Demographisch waren im Mittelalter Sephardim in der Mehrheit und machten vom 11. bis zum 13. Jahrhundert zwischen 94 % und 85 % der jüdischen Weltbevölkerung aus.10 In der Frühen Neuzeit wandte sich das Blatt und Aschkenasim begannen, Sephardim an Zahl und Einfluss zu überholen. 1650 sank der Anteil der sephardischen Juden an der jüdischen Weltbevölkerung auf etwa 60 %, um 1700 waren die sephardischen und aschkenasischen Anteile etwa je 50 %. Um 1750 hatte sich das Bild umgekehrt, und etwa 60 % der 2,5 Millionen Juden auf der Welt waren Aschkenasim. Im 19. Jahrhundert sank der Anteil von Sephardim weiterhin von etwa 20 % um 1840 auf 13,4 % um 1860, bis er 1930 mit 8,2 % bei einer Gesamtbevölkerung von 15,9 Millionen Juden seinen Tiefstand erreichte. Nach der Shoah, der vor allem aschkenasische Juden zum Opfer fielen, stieg der prozentuale Anteil von Sephardim an der jüdischen Weltbevölkerung. In den 1980er Jahren pendelte er sich um etwa 20 % ein. Dabei wuchs die sephardische Bevölkerung besonders in Israel, wo Sephardim um die Jahrtausendwende etwa 47 % der jüdischen Bevölkerung ausmachten, wenn man berücksichtigt, dass es sich in einer deutlichen Erweiterung der Terminologie seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts etabliert hatte, auch andere Juden nichtaschkenasischer Abstammung als Sephardim zu kategorisieren.11 Demgegenüber waren in den USA zeitgleich 91 % aller Juden Aschkenasim und in Europa 72 %.

Religiöse Differenzen gingen nie so weit, dass sie Grundpfeiler des Judentums in Frage gestellt oder zu religiösen bzw. konfessionellen Spaltungen geführt hätten,12 betreffen aber dennoch alle Bereiche des jüdischen Lebens- und Jahreszyklus, Bibel- und Talmudstudium, Halacha und Liturgie.13 Abgeleitet werden sie aus unterschiedlichen Traditionen, die entweder regional oder durch die jeweils islamischen bzw. christlichen Umfelder, in denen sephardische und aschkenasische Juden seit dem Mittelalter lebten, zu begründen sind.14 Bisweilen wurden Unterschiede noch weiter in die Antike zurückgeführt. Letzteres betrifft besonders Differenzen im Gottesdienst und im Gebet, die Ausdruck in getrennten liturgischen Traditionen fanden und ihrerseits den beiden großen jüdischen Zentren rabbinischer Gelehrtheit in Palästina und Babylon zugeordnet wurden.15 Als paradigmatisch für Unterschiede im jüdischen Jahreszyklus werden normalerweise Pessach-Differenzen beschrieben, die auch und insbesondere die Speisevorschriften betreffen.16 Als paradigmatisch für Unterschiede im jüdischen Lebenszyklus werden Differenzen in der Namensgebung sowie im Ehe- und Scheidungsrecht benannt.17 Ebenso wichtig sind Unterschiede in der Gestaltung und Positionierung von Grabsteinen auf sephardischen und aschkenasischen Friedhöfen.18 In allen Fällen ist allerdings auf zusätzliche regionale Unterschiede hinzuweisen, die nicht nur zwischen Sephardim und Aschkenasim, sondern auch innerhalb beider Gruppen existieren und deren vermeintliche Homogenität schnell in Frage stellen lassen.19

Mittelalter

Kontakte zwischen sephardischen und aschkenasischen Juden wurden für das Mittelalter lange marginalisiert und sind nach wie vor unzureichend erforscht.20 Darüber hinaus wird insgesamt diskutiert, inwiefern für das Mittelalter überhaupt schon von Sephardim als Gruppe gesprochen werden kann. Neuere Forschungen weisen darauf hin, dass sephardische und aschkenasische Identitätskonstruktionen neuzeitliche Phänomene sind und sowohl auf der Iberischen Halbinsel als auch im mittelalterlichen Aschkenas nur von regionalen jüdischen Gruppenbildungen ausgegangen werden kann.21 Begegnungen fanden weniger zwischen ganzen Gemeinden als zwischen einzelnen Gelehrten, Reisenden, Kaufleuten oder Siedlern statt, die nach ihrer Ankunft in den jeweiligen Traditionen der Zielgemeinden aufgingen.22 Nicht zuletzt aus diesem Grund konzentriert sich die folgende Darstellung auf die Epoche der Frühen Neuzeit. Gleichwohl sollen die wichtigsten Forschungsdiskussionen zum Mittelalter in einem kurzen Überblick zusammengefasst werden.

Pionierarbeit hat vor allem Avraham Grossman geleistet, der zwei Phasen hervorhebt, in denen besonders der Provence eine wichtige Brückenfunktion zwischen iberischen und nordfranzösischen, bisweilen auch deutschen und schließlich polnischen jüdischen Gemeinden zukam.23 Für die erste Phase, datiert bis zum Durchbruch der Reconquista im 12. Jahrhundert, konstatiert Grossman zumeist iberische Einflüsse auf aschkenasische Gemeinden, die besonders in der liturgischen Poesie, in der Philologie, Bibelexegese und in Einzelfällen auch in halachischen Diskussionen sichtbar sind. Für die zweite Phase, datiert bis zum Ausbruch der Schwarzen Pest (Mitte des 14. Jahrhunderts), werden umgekehrt starke Einflüsse Raschis und der Tosafisten belegt, die von Nordfrankreich aus auf den Süden und die spanischen Zentren der rabbinischen Gelehrsamkeit wirkten. Höhepunkte dieses neuen Austauschs stellen, Grossman zufolge, zwei Ereignisse dar: a. die Maimonidische Kontroverse von 1232, in der sich erstmals aschkenasische Gelehrte in innere sephardische Diskussionen einbrachten, und b. die Anerkennung des Gelehrten R. Ascher ben Jechiel (ca. 1250–1327) als Autorität in sephardischen Gemeinden Kataloniens und Kastiliens.24 Durch Ascher ben Jechiel, der in Aschkenas ausgebildet wurde und seit 1305 im kastilischen Toledo lebte, drangen nicht nur Diskussionen über minhagim (Bräuche), sondern auch Einflüsse jüdisch-pietistischer Reformbewegungen aus Aschkenas auf die Iberische Halbinsel.25 Aschers Sohn Jehuda ben Ascher war im 15. Jahrhundert für einen der ersten Versuche verantwortlich, ein von Sephardim und Aschkenasim gleichermaßen akzeptiertes halachisches Kompendium zu schaffen und damit maßgeblich zur religiösen Vermittlung beider jüdischer Gruppen beizutragen.

Verbunden mit der unterschiedlichen Gewichtung von minhagim im sephardischen und aschkenasischen Judentum sind auch die Unterschiede zwischen dem Eherecht in beiden Gruppen, auf die bereits zu Beginn dieser Darstellung hingewiesen wurde: Um das Jahr 1000 erließ Rabbi Gerschom Me’or ha-Gola in Mainz seine berühmten takkanot (Verordnungen), in denen Polygamie und einseitige Scheidungen verboten und mit dem Bann belegt wurden.26 Grossman zufolge waren ebenfalls Kaufleute, die von Aschkenas nach Sepharad reisten, dabei lange Abwesenheiten von ihren Familien in Kauf nahmen und bisweilen unter islamischem Einfluss auf der Iberischen Halbinsel neue Ehen schlossen, einer der Auslöser, die Rabbi Gerschom zu seinen Verordnungen veranlasst haben könnten. Beide Verordnungen, die zunächst nur regionale Gültigkeit beanspruchten, wurden schnell von anderen Gemeinden anerkannt und erlangten schließlich in Aschkenas einen quasi-halachischen Status. Durch die genannten takkanot wurden jüdische Frauen über ihre bestehenden ökonomischen Freiheiten hinaus gestärkt, und ihre Stellung in Familie und Gesellschaft wurde gebessert.27 Von sephardischen Juden wurde der Bann von Rabbi Gerschom als nicht bindender und zeitlich beschränkter aschkenasischer minhag interpretiert,28 weshalb Polygamie nie mit derselben Eindeutigkeit abgeschafft wurde wie im aschkenasischen Judentum. In den jüdischen Gemeinden Sepharads blieb Polygamie selbst dann noch erlaubt, als die Reconquista weit fortgeschritten war und auch die meisten iberischen Juden unter christlicher Herrschaft lebten.29

Ein dritter Aspekt, der inzwischen aber umstritten ist, ist Gerson D. Cohens viel beachtete Gegenüberstellung von sephardischem intellektuellem Aktivismus und aschkenasischer quietistischer Pietät.30 Cohen hatte diesen Gegensatz, der für ihn bereits in den beiden großen rabbinischen Zentren der Antike seine Wurzeln hatte, herangezogen, um in Zeiten von Verfolgungen und Pogromen aschkenasische Tendenzen zum Märtyrertum mit sephardischen Tendenzen zum „Marranentum“ (d. h. zur äußerlichen Konversion bei geheimem Festhalten am Judentum) zu kontrastieren.31 Gleichzeitig schien ihm der Gegensatz eine Erklärung für unterschiedliche Formen zu sein, wie und mit welcher Häufigkeit sich Messiaserwartungen in beiden Gruppen konkretisierten und (zumindest im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit) auch zerschlugen. Cohens These wurde durch Forschungen relativiert, die sich einerseits mit der Entstehung sephardischen Märtyrertums auf der Iberischen Halbinsel befassten.32 Andererseits wurden unterschiedliche Erinnerungskulturen in Sepharad und Aschkenas untersucht, um den Blick von messianischen Bewegungen auf die Überlieferung dieser Bewegungen in beiden Gruppen zu lenken.33 Unmittelbar mit der letzten Diskussion verbunden ist die Frage nach der Besonderheit sephardischer Geschichtsschreibung in der Folge des Traumas von 1492, die seit dem Erscheinen von Yosef Hayim Yerushalmis Zachor prominent diskutiert wird.34

Frühe Neuzeit

Mit den Vertreibungen und Zwangstaufen der iberischen Juden nach 1492 entstanden neue sephardische Gemeinden, die sich erstmals über weite geographische Entfernungen erstreckten, aber, durch Verwandtschafts- und Geschäftsbeziehungen verbunden, die Idee einer zusammenhängenden sephardischen Kultur und Identität konstruierten. Zentral für diese sephardische Identität war die Sehnsucht nach dem „goldenen spanischen Zeitalter“, dessen Verlust trotz Feindschaft und Verfolgung schmerzlich betrauert wurde.35 Gleichzeitig war auch die neue sephardische Diaspora uneinheitlich und in unterschiedliche Diasporen gespalten.36 Dabei waren vor allem unterschiedliche Erfahrungen mit dem Judentum prägend, die später in die Unterscheidung zwischen der sogenannten westlichen und der sogenannten östlichen sephardischen Diaspora eingingen: Während sephardisches Leben in der „östlichen Diaspora“ auf eine ungebrochene Kontinuität seit 1492 verweisen konnte, waren die ersten sephardischen Gemeinden der „westlichen Diaspora“ erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden, und ihre Mitglieder blickten auf Generationen von Konvertiten in den Familien zurück. Dies hatte bedeutende religiöse und soziale Konsequenzen und führte in vielen Fällen dazu, dass Rabbiner strenge Maßnahmen ergreifen mussten, um ihre Gemeinden zu disziplinieren und „rejudaisieren“.37 Hierzu gehörte auch die Stärkung traditioneller Familienstrukturen, die unter Conversos, die im Geheimen als Juden lebten, grundlegende Änderungen erfahren hatten.38 Gleichzeitig lebten Sephardim in der östlichen Diaspora zumeist in islamischen Kontexten, Sephardim in der westlichen in christlichen, was sich ebenfalls in unterschiedlichen religiösen Traditionen niederschlug.

Schließlich waren östliche und westliche Sephardim durch ihre Sprachen getrennt. Während sich in der östlichen sephardischen Diaspora das Judeospanische als gesprochene Sprache etablierte, sprachen Sephardim in der westlichen Diaspora bis ins 18. Jahrhundert im Alltag zumeist Portugiesisch und publizierten auf Spanisch. Dabei war es für Portugiesisch sprechende westliche Sephardim eher unproblematisch, Judeospanisch sprechende östliche Sephardim zu verstehen. Gravierender waren die Sprachbarrieren im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zwischen Portugiesisch oder Judeospanisch sprechenden sephardischen und Jiddisch sprechenden aschkenasischen Gemeinden. Das dürfte somit auch ein Grund dafür gewesen sein, dass sephardische und aschkenasische Juden, wo sie in der Frühen Neuzeit in Kontakt kamen, vielfach getrennt voneinander agierten.39 Hinzu kam, dass die hebräische Sprache, die aschkenasische und sephardische Juden verband, wenn sie auch in beiden Gruppen unterschiedlich ausgesprochen und geschrieben wurde, im alltäglichen Gebrauch wenig Nutzen hatte, weil sie nur in liturgischen und religiösen Zusammenhängen gebraucht wurde.40

 

Nicht nur die Sephardim, sondern auch die Aschkenasim konstituierten sich seit dem 16. Jahrhundert neu als Gruppe. Dabei hat Joseph Davis eindrücklich gezeigt, dass es drei unterschiedliche Modelle der Gruppenbildung geben konnte, die entweder geographisch, ethnisch oder durch individuelle Entscheidungen bestimmt waren. Aschkenasim waren nach diesen Modellen entweder alle Juden, die in Aschkenas lebten, oder alle Juden, die von Aschkenasim abstammten, oder solche, die in einer aschkenasischen Synagoge beteten oder einer aschkenasischen Auslegung des Religionsgesetzes folgten.41 Dabei wurden für die jeweilige Auslegung des Religionsgesetzes im späten 16. Jahrhundert zwei Standardwerke zentral: einerseits der Schulchan aruch („Der gedeckte Tisch“) des sephardischen Gelehrten Joseph Karo, andererseits der Kommentar Mappat schulchan aruch („Die Tischdecke zum gedeckten Tisch“) des aschkenasischen Rabbiners Moses Isserles.

Frühere Versuche, sephardische und aschkenasische Interessen zu versöhnen und unterschiedliche halachische Schulen in einem von beiden Gruppen anerkannten Kodex zusammenzufassen, wie sie z. B. im 15. Jahrhundert von Jakob ben Ascher, dem Sohn des bereits erwähnten Ascher ben Jechiel, unternommen worden waren, hatten sich nicht durchsetzen können. Auch Joseph Karo selbst war mit seinem Anliegen gescheitert, seinem Schulchan aruch allgemeinere und auch außerhalb des sephardischen Judentums gültige Anerkennung zu verschaffen.42 Obwohl Karo, wie Israel Ta-Shma minutiös analysiert hat, Bräuche (minhagim) und kabbalistische Lehren in sein Gesetzeskompendium aufgenommen und sich damit sowohl aschkenasischen als auch romaniotischen (d. i. griechisch-jüdischen) Traditionen zugewandt hatte, war er in den einschlägigen halachischen Diskussionen Isaac Alfasi, Moses Maimonides und Ascher ben Jechiel verpflichtet geblieben, von denen zumindest die ersten beiden eindeutig und ausschließlich sephardische Autoritäten waren.43 Entsprechend erlangte der „Gedeckte Tisch“ im aschkenasischen Judentum erst dann Gültigkeit, als Moses Isserles ihn mit einer aschkenasischen „Tischdecke“ überdeckte. Andersherum wurden durch die Kodifizierung aschkenasische Traditionen auch festgeschrieben, was wiederum zur Konstitution der Aschkenasim als Gruppe beigetragen hat.44 Aufgelöst wurde die religiöse Trennung zwischen Sephardim und Aschkenasim im Lurianischen Ritus, benannt nach dem berühmten Kabbalisten Isaac Luria, der im 16. Jahrhundert in Safed sephardische mit aschkenasischen liturgischen Elementen verband. Seit dem 17. Jahrhundert wurde der Lurianische Ritus, der sowohl von sephardischen als auch aschkenasischen Rabbinern angefeindet wurde, von chassidischen Juden in Osteuropa übernommen und wird heute als Nusach Sepharad bezeichnet, obwohl er dem sephardischen Ritus im traditionellen Sinne nicht entspricht.45

Wo sephardische und aschkenasische Juden in der Frühen Neuzeit zusammenlebten, verliefen die Beziehungen häufig hierarchisch und entlang klar gezogener Grenzen. Dies bedeutet nicht, dass sephardische und aschkenasische Juden in bestimmten Kontexten und Situationen nicht zusammenarbeiteten. Gerade im Handel und auf Reisen, im Buchdruck und Buchhandel sowie in Krisen und Fragen der Krisenbewältigung kam es vielfach zu Kooperationen.46 Häufig standen ähnlichen Kooperationen aber soziale und kulturelle Differenzen im Wege, zu denen auch gehörte, dass iberische Juden traditionell ihre Wurzeln auf das königliche Geschlecht Davids zurückführten und sich selbst zum jüdischen Adel erklärten.47 Eine Konsequenz war, dass besonders in den Zentren der westlichen Diaspora reiche und einflussreiche sephardische Eliten ihren aschkenasischen Glaubensgenossen stark paternalistisch begegneten, während sie gleichzeitig streng auf die Trennung von Synagogen, Gemeindeinstitutionen und Friedhöfen bedacht waren.

Klassisches Beispiel ist Amsterdam, wo in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts das wichtigste Zentrum sephardischen Lebens in der westlichen Diaspora entstand. Aschkenasische Juden, die seit dem Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs ebenfalls nach Amsterdam zogen und ab 1635 eine eigene Gemeinde gründeten, wurden einerseits in ihren elementaren ökonomischen Bedürfnissen durch sephardische Wohlfahrteinrichtungen unterstützt,48 andererseits wurde genau darauf geachtet, Grenzen aufrechtzuerhalten und persönliche Verbindungen zwischen iberischen und deutschen bzw. polnischen Juden zu verhindern. So beteten Aschkenasim ab 1642 in einer eigenen Synagoge und begruben ihre Toten auf einem eigenen Friedhof. Ab 1644 durften keine aschkenasischen Jungen mehr in der portugiesischen Synagoge beschnitten werden. Seit 1671 wurden aschkenasische Männer, die sephardische Frauen heirateten, nicht mehr in die sephardische Gemeinde aufgenommen. Ab 1696 verloren zusätzlich sephardische Männer, die aschkenasische Frauen heirateten, ihren Status als Gemeindemitglieder.49 Ähnliche Zusammenhänge sind aus anderen Zentren der westlichen sephardischen Diaspora oder aus europäischen Kolonien in der atlantischen Welt bekannt, wobei im Falle der Kolonien noch diskutiert wird, inwieweit jüdisches Leben „an der Peripherie“ andere Verhaltensmuster generierte als in den Zentren der sephardischen Diaspora.50

In der westlichen Diaspora spiegelte sich die Selbstwahrnehmung der Sephardim in der spezifischen Fremdwahrnehmung wider, die sephardische Juden in christlichen Herrschaften und Gesellschaften erfuhren. So wurden Privilegien für sephardische Gemeinden in der Regel schneller und für eine längere Dauer vergeben als Privilegien für aschkenasische Juden.51 Sephardim waren die bevorzugten Ansprechpartner von christlichen Gelehrten und Theologen, die sich seit dem späten 15. Jahrhundert und dann vor allem im Zusammenhang mit Reformation und Konfessionalisierung zunehmend für jüdische Sprachen, Lehren und Texte interessierten.52 Sephardim wurden von christlichen Malern und Kupferstechern als Modelle gewählt, wenn es darum ging, jüdische Integration in christliche Gesellschaften aufzuzeigen.53 Und Sephardim wurden zumindest in Frankreich separat und schneller emanzipiert als ihre aschkenasischen Glaubensgenossen.54 Sephardische Autoren unterstützten dabei die unterschiedliche Fremdwahrnehmung beider Gruppen, indem sie ihrerseits die Vorzüge des sephardischen Judentums hervorhoben. Prominentes Beispiel ist der Geschäftsmann und Philosoph Isaac de Pinto, der im 18. Jahrhundert auf die antijüdischen Vorwürfe Voltaires erwiderte, dass diese nur aschkenasische, nicht aber sephardische Juden beträfen.55

Aschkenasim reagierten auf die Polemik, indem sie Sephardim ihre engen und bisweilen nicht unproblematischen Kontakte zu Nichtjuden vorwarfen.56 Andere übernahmen das stilisierte Selbstbild der Sephardim und machten es zum Ziel ihrer eigenen Wunschvorstellungen und Ideale. In der westlichen Welt begannen aschkenasische Juden seit der frühen Haskala, sich an sephardischen Curricula und Bildungsidealen zu orientieren, die neben dem Talmudstudium ebenfalls Bibelexegese, Philosophie, Philologie, hebräische Grammatik und schließlich säkulares Wissen umfassten.57 Klassische sephardische Texte wurden neu rezipiert,58 und in speziellen Beiträgen wurden das Leben und Wirken „großer Männer“ des sephardischen Judentums gepriesen.59 Sephardische Ideale dienten einerseits dazu, Möglichkeiten des jüdischchristlichen Zusammenlebens jenseits von Assimilation und der Aufgabe jüdischer Werte und Traditionen zu erwägen.60 Andererseits zielten sie auf den Bruch deutscher Juden mit ostjüdischen Traditionen und allen negativen Assoziationen, die mit diesen Traditionen verbunden wurden.61 Hörbar wurde diese Abgrenzung im Vorzug der sephardischen Aussprache des Hebräischen, die in der Haskala ihren Ausgangspunkt nahm und sich über den Zionismus ins heutige Israel fortsetzte.62