Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland

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3.4.8 Literatur

Die südschleswigschen SchriftstellerInnen haben ihre Wurzeln in der dänischen Minderheit in Südschleswig, wo manche von ihnen ihr ganzes Leben lang gewohnt haben. Das gilt vor allem für die älteren unter ihnen, und die Schrecken der beiden Weltkriege sind häufig ein Hauptthema für diejenigen, die diese Kriege miterlebt haben. Wer in den Nachkriegsjahren aufwuchs, schreibt Erinnerungen, in denen die kulturelle Begegnung zwischen dem Deutschen und dem Dänischen zentral ist, während die Jüngeren sich anderen Themen als Krieg und Nationalität zuwenden. Verschiedentlich verlegen sie jedoch die Handlung ihrer Werke nach Südschleswig.

Im Jahr 2015 erschien die Sydslesvig Antologi (Andersen et al. 2015), eine Anthologie mit Lyrik und Prosa aus dem 20. und 21. Jahrhundert, die auf Dänisch geschriebene Werke von 22 Verfasserinnen und Verfassern aus Südschleswig enthält. Gedichte und Novellen werden vollständig wiedergegeben, Romane auszugsweise. Aufgenommen wurden Werke folgender SchriftstellerInnen: Ole Andersen, Sigfred Andresen, Ernst Christiansen, Johannes Christiansen, Walter Christiansen, Kirstin Deckert, Gerhard Ernst, Annegret Friedrichsen, Bernhard Hansen, Inga Henken, Karin Johannsen-Bojsen, Jacob Kronika, Helmut Leckband, Rolf Lehfeldt, Aksel Lieb, Hermann Liebers, Willy-August Linnemann, Meta Lorenzen, Martha Ottosen, Finn Egeris Petersen, Fidde Schulz, Frank Titze.

Zu den jüngeren südschleswigschen VerfasserInnen gehört Tine Enger (geb. 1965), die Lyrik verfasst, zum Beispiel in Brystbærer (2004) und Mens jeg passer min have (2016), aber auch als Prosaautorin in Erscheinung tritt, zum Beispiel mit Fjern (2005) und Land under (2013), wo die Handlung im nordfriesischen Wattenmeer südwestlich der dänischen Grenze auf der fiktiven Hallig Graf angesiedelt ist. Alle Publikationen wurden 2018 als elektronische Bücher neu herausgegeben. Von Annegret Friedrichsen (geb.1961) erschien zunächst Lyrik (Atemrisse: Gedichte [1990], Meer im Ohr: Gedichte [2017]), und 2012 publizierte sie ihren Roman Porcelænskvinden. Auch Kinderbücher sind von ihr erschienen (Trolden Trøst [2006], Alfrida og Alfekatten [2007] und Maya, jeg Maya [2009]). Finn Egeris Petersen (geb. 1958) verfasste u.a. Romane (Broderskab [2012] und De faderløse [2016]), die in Tønning/Tönning und Slesvig/Schleswig spielen.

Unter den älteren noch lebenden1 VerfasserInnen ist an zentraler Stelle Karin Johannsen-Bojsen (geb. 1936) zu nennen. Sie debütierte 1977 mit der Gedichtsammlung Sindelag – Barn i Flensborg 1939–49; später erschienen ihre Romane Regnbuelandet (1987) und Himmel med mange stjerner – En roman fra Sydslesvig (1997), letzterer über das Bemühen einer Frau, in Südschleswig ein dänisches Kulturzentrum zu etablieren. Es folgten Erinnerungen: Sydslesvigpige – en opvækst mellem to kulturer i årene 1936–1954 (2004) über die Kindheit in Flensborg/Flensburg und den dänischen Schulbesuch, die Begegnung mit der dänischen Lebensweise, Sprache und Kultur und Sydslesvigkvinde – et voksenliv mellem to kulturer i årene 1954–2004 (2008) über das Studium der Autorin in Dänemark, Deutschland und England und ihre Zeit als Lehrerin an der dänischen Duborg Skolen (‚Duburg-Schule‘) in Flensborg/Flensburg, als SSW-Politikerin und als Rednerin. Den Erinnerungen von Karin Johannsen-Bojsen folgte eine Reihe anderer Erinnerungen aus Südschleswig, u.a. von Kirstin Deckert (geb.1939), in deren Jugendbuch Børnene dernedefra (2012) es um das Leben in zwei Kulturen nach dem Zweiten Weltkrieg in Lyksborg/Glücksburg geht, und Vidnet (2014), das die Berichte ihres Vaters aus dem Ersten Weltkrieg zum Thema hat. Auch Rolf Erbst (geb. 1946) schreibt in Barakkerne (2012) über eine dänisch-deutsche Kindheit, diesmal im Flensborg/Flensburg der Nachkriegszeit, und Harald Dirks (geb. 1936) beschreibt in Over stregen – en Flensborg-krønike (2017) das Leben einer Flensburger Familie zwischen 1912 und 1945.

Auch bei den älteren und bereits verstorbenen südschleswigschen VerfasserInnen spielen Familien- und Erinnerungsromane eine große Rolle, so zum Beispiel im Hauptwerk von Willy-August Linnemann (1914–1985), dem fünfbändigen Werk Europafortællinger (1958–66), das die Entwicklung einer südjütischen Familie in Südschleswig über mehrere Jahrhunderte hinweg schildert. Niels Bøgh Andersen (1908–1991) beschreibt sein Leben in den vier Büchern En fiskersøn fra Aventoft (1974), Feltdegn fra Harreslev Mark (1978), Forstander på Jaruplund (1975) und Krigsdagbog (1981). Die beiden Weltkriege, an denen die südschleswigschen Männer teilnahmen, spiegeln sich in diesen und einer Reihe von Werken anderer Verfasser. Ernst Christiansens (1877–1941) Du kan, du maa og skal! (1923) handelt von Kriegserlebnissen im Ersten Weltkrieg, und Gretes Kamp (1927), in dem es um die Bedingungen und Umstände des Kampfes um die Grenze geht, stellt einen Schlüsselroman um Grete, die Schwester des Redakteurs und Verfassers Jacob Kronika, dar. Der Titel von Jacob Kronikas (1885–1953) Roman Berlins Undergang – Dagbog fra Det Tredje Riges fald (1945, als E-Book 2015) benennt sein Thema bereits. Die beiden Romane von Helmut Leckband (1916–2003) handeln von deutschen Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, zu denen auch der südschleswigsche Verfasser selbst gehörte (Krigsfangelazarettet i Tamanskajagaden (1973) und Krigsfange (1977)).

Hans Peter Jacobsen (1892–1973) schildert in Peter Nogensen (1948, 2017 erschienen als E-Book) eingehend die Erlebnisse der dänischen Minderheit unter den Bedingungen von Ästhetik und Gedankengängen des Nationalsozialismus.

Sigfred Andresen (1925–1993) unterscheidet sich von den übrigen südschleswigschen AutorInnen darin, dass er im Sønderjysk/südjütischen Dialekt von Sydtønder/Südtondern (Südschleswig) über das Leben auf dem Land schreibt. Am bekanntesten sind seine Novellensammlungen Æ gahmands bænk (1976) und Jørn Bommands enghø (1986).

Die bereits verstorbenen südschleswigschen LyrikerInnen teilen eine Reihe von Themen mit den RomanautorInnen, so zum Beispiel Aksel Lieb (1912–1984), dessen Digte 1985 erschienen ist und das Grenzgebiet und die Ostfront im Zweiten Weltkrieg, in dem der Verfasser selbst Soldat war, zum Thema hat. Gerhard Ernst (1931–2009) gab 1955, 1961, 1989 sowie 2009 Gedichtsammlungen (Livssplinter) heraus, in denen sich das tiefe Verständnis des Verfassers für die menschliche Vielfältigkeit spiegelt. Die Gedichtsammlung (Ucensurerede) Avisdigte (1988) von Hermann Liebers (1935–1989) enthält humoristische und nachdenkliche Gedichte und weist Ähnlichkeit mit dem Band von Rolf Lehfeldt (1928–2002) auf (Lyriske tegn, 1998), der Gedichte und Gelegenheitspoesie aus rund 40 Jahren umfasst.

Die Literatur der dänisch-südschleswigschen VerfasserInnen wird rezipiert, nicht zuletzt auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive (vgl. z.B. Wischmann 2016), jedoch offenbar nicht in dem Umfang, in dem es sich die Minderheit wünscht. So wird im Vorwort der Sydslesvig Antologi (Andersen et al. 2015) festgestellt, dass sowohl das Wissen über als auch das Bewusstsein für die südschleswigsche Minderheit und ihre Literaturprodukte in Dänemark gering ist.

4 Soziolinguistische Situation: Kontaktsprachen, Sprachform(en) des Deutschen und der Minderheitensprache, sprachliche Charakteristika, Code-Switching und Sprachmischung
4.1 Kontaktsprachen

In Schleswig-Holstein, wie in der übrigen Bundesrepublik Deutschland, ist Deutsch die einzige offizielle Sprache. Darüber hinaus ist Dänisch in den drei Varianten Standarddansk (Standarddänisch), Sydslesvigdansk (Südschleswigdänisch) und Sønderjysk (Südjütisch) sowie Nordfriesisch als Minderheitensprachen und Niederdeutsch als Regionalsprache in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats anerkannt.

Das Dänisch, das von der Mehrheitsbevölkerung als Fremdsprache gelernt wird, weist keine Merkmale des Südschleswigdänischen auf.

Sønderjysk ist eine Varietät, die früher sowohl unter der dänisch- als auch der deutsch-orientierten Bevölkerung Nord- und Südschleswigs die meistverbreitete Variante des Dänischen war. In den vergangenen gut 100 Jahren ist seine Verwendung sehr stark zurückgegangen, wie auch schon Untersuchungen aus Agtrup/Achtrup (Petersen 1973) und Rødenæs/Rodenäs (Spenter 1977, Larsen 1984, 1986) gezeigt haben. Heute wachsen nur wenige Kinder der dänischen Minderheit mit Sønderjysk als Muttersprache auf; häufig sind ihre Eltern aus Dänemark zugezogen.

 

Nordfriesisch als Minderheitensprache ist auch innerhalb der dänischen Minderheit repräsentiert, da eine der dänischen Minderheitenschulen eine friesisch-dänische Schule ist. Der Friisk Foriining (‚Friesischer Verein‘)1 ist dem dänischen SSF angeschlossen.

In Bezug auf Niederdeutsch ist die Situation ähnlich wie für Sønderjysk. Es handelt sich auch hier um eine Varietät, die im Rückgang begriffen ist, und nur noch von wenigen Kindern muttersprachlich erworben wird. Häufiger wird es in ländlichen Regionen verwendet. Als Regionalsprache wird Niederdeutsch vor allem von älteren Mitgliedern der dänischen Minderheit gesprochen. Es spielt außerdem im (lokalen) Theater eine Rolle, und gelegentlich enthält die Flensborg Avis einen niederdeutschen Beitrag.

4.2 Die einzelnen Sprachformen des Dänischen
4.2.1 Standarddansk/Standarddänisch – Rigsdansk/Reichsdänisch

Standarddänisch ist die heutige Bezeichnung für eine Standardform des Dänischen, das mit kleineren Variationen gesprochen wird. Die Bezeichnung entspricht im Wesentlichen dem, was mit Rigsdansk (‚Reichsdänisch‘) gemeint ist, doch Rigsdansk wird häufig als Dachbezeichnung für eine einheitliche gesprochene und geschriebene Sprachform verwendet, die ihren Ursprung in Kopenhagen als historischem Machtzentrum hat. In Bezug auf die Schriftsprache gibt es ein offizielles orthographisches Regelwerk, das vom Dansk Sprognævn (‚Dänischer Sprachrat‘) festgelegt wurde, doch es gibt keine offiziellen Richtlinien für eine Standardaussprache des Dänischen.

4.2.2 Sydslesvigdansk/Südschleswigdänisch

Südschleswigdänisch wird von den zweisprachigen Sprecherinnen und Sprechern gesprochen bzw. geschrieben, die in Südschleswig geboren und aufgewachsen sind und sich der dänischen Minderheit zugehörig fühlen. Es wird in der Mehrzahl der Fälle als Minderheitenzweitsprache in Kindergarten und Schule der Minderheit oder in ihren Dänischkursen und Vereinen erworben. Es kann auch als Erstsprache von Minderheitsangehörigen zweisprachiger Eltern erworben werden. Südschleswigdänisch ist durch ein linguistisches Variationsmuster charakterisiert, das sich von dem Gepräge dänischer Varietäten, die in Dänemark erworben werden, unterscheidet. Es ist gekennzeichnet durch spezifische Merkmale in Phonologie, Grammatik und Semantik, die primär auf den Einfluss des Deutschen zurückgehen und die weder auf der individuellen noch auf der kollektiven Ebene ein festes Muster aufweisen. Diese Kontaktsprache ist sowohl eine gesprochene als auch eine geschriebene Sprache. Die Sprechergruppe beherrscht außerdem Deutsch (zumeist als Erstsprache) und zum Teil zusätzlich Niederdeutsch, Friesisch oder/und Sønderjysk.

Phonologie

In der Segmentalphonologie unterscheidet sich Südschleswigdänisch vom Standarddänischen besonders in den Vokalen a, æ, ø und å.

Das ist auf einen Transfer des deutschen Vokalsystems in das dänische zurückzuführen. Da es im Deutschen 14 Vokale gibt (sieben lange und sieben kurze), auf Dänisch jedoch 25 (zwölf lange und 13 kurze), lassen sich deutsche Aussprachemuster nicht problemlos auf das Dänische übertragen. Daneben ist ein Einfluss der deutschen Laut-Buchstaben-Zuordnung der Schriftsprache auf die Aussprache festzustellen, wenn Grapheme nach der deutschen Zuordnung realisiert werden statt nach der dänischen. Dies ist zum Beispiel der Fall in dem dänischen Wort brugt (‚gebraucht‘), das häufig mit /u/ und nicht mit /å/ ausgesprochen wird.

In der Prosodie gibt es Unterschiede zum Standarddänischen innerhalb der Realisierung des Stoßtons (Glottalverschluss), der Betonung und der Satzprosodie. Der Stoßton des Standarddänischen wird im Südschleswigdänischen selten realisiert (wie auch in einigen Regionen in Süddänemark ohne direkten Kontakt zum Deutschen). Er kann jedoch in einzelnen Wörtern, die mit Stoßton gelernt wurden, auftreten.

Innerhalb der Betonung werden schwachbetonte Silben oft kräftiger als im Standarddänischen artikuliert, eine Betonungsverteilung, die vermutlich auf Transfer aus dem Deutschen zurückzuführen ist.

Satzprosodie

Südschleswigdänisch ist prosodisch dadurch charakterisiert, dass am Ende von vorangestellten Gliedsätzen wie im Deutschen eine lokal steigende Intonation erfolgt; dieses Muster steht im Kontrast zum Dänischen, wo die Intonation auf gleicher Höhe fortgesetzt wird. In fortführenden Sätzen tritt, ebenfalls wie im Deutschen, innerhalb der letzten Wörter eine fallende Intonationskontur auf. Auch hier besteht ein Kontrast zu Standarddänisch, wo die Intonationskurve über mehrere Wörter zum Satzende graduell abfällt.

Aussprache von Eigennamen

Im Südschleswigdänischen werden die Personennamen der Minderheitsangehörigen häufig auf Deutsch ausgesprochen, da der Name eng mit der Erstsprache verknüpft ist, die hier in der Regel Deutsch ist. Im Namen Gudrun zum Beispiel können Unterschiede in Vokal- und Konsonantenqualität auftreten; so enthält zum Beispiel die erste Silbe in der deutschen Aussprache ein langes u [u:] und den (stimmhaften) Verschlusslaut d, während in der dänischen Aussprache das u kurz ist und tiefer liegt als das deutsche und ihm ein stimmhafter Frikativ folgt (sog. blødt d [ð] ‚weiches d‘). Die Variation kann sich auch auf die Vokalqualität beschränken, zum Beispiel in dem Namen Anna, in dem sich die Aussprache des a zwischen Deutsch und der hochsprachlichen Form des Standarddänischen unterscheiden.

Wenn zweisprachige Minderheitsangehörige über eine öffentliche Person (z.B. aus den Medien) aus Dänemark sprechen, deren Name i.d.R. dänisch ausgesprochen wird, sie diesen Namen jedoch deutsch artikulieren, kann die deutsche Aussprache darauf hindeuten, dass akustische Medien auf Deutsch und nicht auf Dänisch rezipiert werden und dass über die betreffende Person i.d.R. auf Deutsch gesprochen wird. Beispielsweise berichtete ein Mitglied der Minderheit mit Begeisterung vom Besuch des dänischen Prinzen Joachim; dabei wurde der Name deutsch ([jo'achim]) und nicht dänisch (['joakim]) ausgesprochen. Der Unterschied in der Aussprache dieses Namens bezieht sich auf den Wortakzent, die Vokalqualität und die Aussprache des <ch> (auf Deutsch als ach-Laut, auf Dänisch als /k/) und ist deutlich wahrnehmbar.

Unterschiede in der Schreibung von Ortsnamen können ebenfalls zu Ausspracheunterschieden zwischen Deutsch und Dänisch führen. Eine Reihe von Ortsnamen in Südschleswig hat eine dänische Schreibung, die teilweise original ist (z.B. Fjolde, dt. Viöl) und teilweise nachträglich konstruiert wurde (z.B. Lyksborg, dt. Glücksburg). Innerhalb der Minderheit gibt es große Schwankungen in Bezug darauf, ob die dänische oder die deutsche Aussprache gewählt wird. Wird jedoch Bezug auf Ortsnamen in Dänemark genommen, so ist deren Aussprache, im Gegensatz zu den Personennamen, so gut wie immer dänisch (obwohl auch hier abweichende, am Deutschen orientierte Aussprachen möglich wären, z.B. Aabenraa, dt. Apenrade oder Haderslev, dt. Hadersleben).

Grammatik (Genus, Tempus, Wortstellung)

Standarddänisch hat zwei Genera (Utrum, Neutrum). Unter dem Einfluss der drei Genera des Deutschen gibt es im Südschleswigdänischen, verglichen mit Standarddänisch, Unregelmäßigkeiten in der Zuordnung des Genus.

Die deutsche Tempusauffassung wird auch ins Südschleswigdänische überführt. Ein Geschehen, das in der Vergangenheit begann und noch andauert, wird im Deutschen im Präsens beschrieben, zum Beispiel Ich wohne hier seit 2011. Standarddänisch verwendet an dieser Stelle das Perfekt: Jeg har boet her siden 2011 (‚Ich habe hier seit 2011 gewohnt.‘), Südschleswigdänisch dagegen das Präsens: Jeg bor her siden 2011 (‚Ich wohne hier seit 2011.‘).

Abweichungen von der standarddänischen Syntax bzw. Wortstellung, die im Minderheitendänisch zu beobachten sind, treten primär in Verbindung mit Adverbien auf. Charakteristisch ist, dass adverbielle Elemente, die als Erweiterung des Verbs zu verstehen sind, am Ende des Hauptsatzes stehen (z.B. Das Wetter ist heute sehr trüb). Im Standarddänischen werden sie direkt hinter das finite Verb gestellt (Vejret er meget kedeligt i dag. ‚Das Wetter ist sehr trüb heute.‘), während sie im Südschleswigdänischen, wie im Deutschen, am Satzende auftreten (Vejret er i dag meget kedeligt. ‚Das Wetter ist heute sehr trüb.‘).

In Gliedsätzen kommt es im Südschleswigdänischen häufig vor, dass das verbmodifizierende Adverbial, zum Beispiel ikke (‚nicht‘) oder snart (‚bald‘), hinter das finite Verb gestellt wird; im Standarddänischen tritt es dagegen in untergeordneten Gliedsätzen vor dem finiten Verb auf, zum Beispiel fordi han kommer ikke ‚weil er kommt nicht‘,vgl. Standarddänisch fordi han ikke kommer ‚weil er nicht kommt‘.

Semantik

Die Unterschiede zwischen Standarddänisch und Südschleswigdänisch werden in der Semantik besonders dort deutlich, wo es zwei Formen von Lehnübersetzungen aus dem Deutschen ins Dänische gibt: Südschleswigismen und dänische Südschleswigwörter.

Südschleswigismen

Südschleswigismen lassen sich in drei Gruppen unterteilen:

1 Lehnübersetzungen, die an die Stelle von existierenden dänischen Wörtern oder Wendungen treten, zum Beispiel:husmester als Übersetzung des deutschen Wortes Hausmeister (standarddän. pedél);aftenkassen nach deutsch Abendkasse in der Bedeutung, dass die Eintrittskarten am Eingang verkauft werden.In diese Kategorie gehören auch bestimmte Präpositionen, die aus dem dänischen Standardgebrauch verschwinden oder deren Verwendungsweise unidiomatisch ist, zum Beispiel: med ‚mit‘+ Altersangabe, zum Beispiel valgret med 16 års alderen ‚Wahlrecht mit 16 Jahren‘ (standarddän.: valgret som 16-årig ‚Wahlrecht als 16-Jährige/r‘); ebenso med 12 måneder ‚mit 12 Monaten‘ (standarddän.: i 12 måneders alderen ‚im 12-Monats-Alter‘).

1 Lehnübersetzungen, die daduch motiviert sind, dass das Wort im dänischen Wortschatz nicht vorhanden ist, zum Beispiel:ordmelding, deutsch Wortmeldung in der Bedeutung ‚zu erkennen geben, dass man einen Wortbeitrag leisten möchte‘.

2 Lehnübersetzungen, die in standarddänischen Wörtern resultieren, jedoch im südschleswigschen Kontext eine andere Bedeutung haben, zum Beispiel:podiumsdiskussion (von dt. Podium) in der Bedeutung paneldiskussion. udvendig (standarddänische Bedeutung: ‚äußerlich‘) für standarddän. udenad als Übersetzung von dt. auswendig, in Beispielen wie den sang kan vi udvendig (‚dieses Lied können wir auswendig‘). lave en uddannelse, von dt. eine Ausbildung machen, standarddän. tage en uddannelse (standarddän. lave ‚machen [i.S.v.] herstellen, fertigstellen‘ gegenüber tage ‚nehmen, teilnehmen‘). besøge en skole (standarddän. Bedeutung: ‚einer Schule einen Besuch abstatten‘), von dt. eine Schule besuchen, standarddän. gå i skole ‚in die Schule gehen‘ (standarddän. besøge ‚besuchen [i.S.v.] einen Besuch abstatten‘).

Der letztgenannte Südschleswigismus, at besøge en skole in der Bedeutung at gå i skole, ist in der Minderheitssprache so etabliert, dass er in öffentlichen Texten verwendet wird. Er findet sich u.a. in den autorisierten Übersetzungen (Deutsch – Dänisch) der Kieler Erklärung von 1949, Artikel II Absatz 3 und in der Bonner Erklärung von 1955, Artikel III Absatz 4.

Dass dieser Südschleswigismus in der Minderheitssprache fest verankert ist, zeigt sich auch in der Sprache der Journalisten in der Flensborg Avis. Wenn berichtet wird, dass eine bekannte Person einer Schule in Südschleswig einen Besuch abgestattet hat, wird eine Umformulierung gewählt (har været på visit i den og den skole ‚war zu Besuch in der und der Schule‘), damit nicht der Eindruck entsteht, dass die betreffende Person Schüler oder Schülerin dieser Schule war. Ein einzelnes Beispiel dafür ist: da hun aflagde visit i Nibøl tekniske Skole (‚als sie der Technischen Schule Niebüll einen Besuch abstattete‘) (Flensborg Avis 31.10.1997).

 

Dänische Südschleswigwörter

„Dänische Südschleswigwörter“ (danske sydslesvigord, Pedersen 2000/I: 220 u. passim) bezeichnet Übersetzungsentlehnungen (Calques) aus dem Deutschen, die Institutionen, Verhältnisse, Phänomene oder Gegenstände in Südschleswig benennen, zu denen sich in Dänemark keine Parallelen finden oder die sich in Dänemark nicht auf das Gleiche beziehen wie in Deutschland. Es sind Wörter, die im Dänemark-Dänischen nicht vorkommen, da es keinen Bedarf gibt, sie zu verwenden oder zu bilden. Unter den älteren Angehörigen der Minderheit wird zum Beispiel das Wort socialstation verwendet, das eine Übersetzungsentlehnung aus dem deutschen Wort Sozialstation darstellt. Damit wird eine öffentliche Einrichtung unter deutscher Leitung bezeichnet, die Beratung und Unterstützung durch Sozialarbeiter und Krankenpfleger anbietet. Das entsprechende Sozial- und Gesundheitswesen der Minderheit ist unter dem Dänischen Gesundheitsdienst zusammengefasst. In diesem Rahmen gab es früher socialstationer, die ähnliche Leistungen anboten wie die deutschen Sozialstationen. Ebenso gab es dort eine rådgivningsstation (‚Beratungsstation‘) und eine børneplejestation (‚Kinderpflegestation‘). Nach der Jahrtausendwende wurden diese Südschleswigwörter durch die standarddänische Bezeichnung Social- og Sundhedscenter (‚Sozial- und Gesundheitszentrum‘) ersetzt (vgl. Abb. 3).


Abb. 3: Social- og Sundhedscenter (‚Sozial- und Gesundheitszentrum‘)1

Wenn über südschleswigsche Verhältnisse gesprochen wird, findet man häufig kommuneråd für die deutsche Bezeichnung Kommunalrat und borgerforstander für Bürgervorsteher. Diese Wörter sind, wenn nicht in jedem Fall eine bewusste Wahl, so doch ein fester Bestandteil der Sprache, der ausdrückt, dass hier Bezug auf Dinge genommen wird, die spezifisch für Südschleswig sind.

Die verhältnismäßig hohe Anzahl deutscher Zitatwörter im Südschleswigdänischen stellt ein besonderes Charakteristikum der Varietät dar. Bei diesen Wörtern handelt es sich in erster Linie um Substantive, und sie werden unübersetzt im dänischen Kontext verwendet. Solche Einzelwörter können auch Fälle von Code-Switching (Einzelwort-Switch) darstellen; in diesem Fall beinhaltet ihre Verwendung jedoch eine zusätzliche Bedeutung, zum Beispiel die Markierung einer veränderten Gesprächssituation.

Beispiele für Zitatwörter:

 Aflønningen sker fortsat efter BAT (Bundesangestelltentarifvertrag) (‚Die Bezahlung geschieht weiterhin nach BAT‘),

 med interesseorganisationer som Mieterbund (= lejerforbund) (‚mit Interessentenorganisationen wie [dem] Mieterbund‘),

 Vi skal med bilen til TÜV (‚Wir müssen mit dem Auto zu[m] TÜV‘).

Form und Umfang dänisch-deutschen Sprachkontakts

Es bestehen deutliche interindividuelle Unterschiede in Bezug auf die Anzahl von Südschleswigismen und dänischen Südschleswigwörtern im Südschleswigdänischen. Kinder, die sich im täglichen Kontakt mit der dänischen Sprache befinden, u.a. in Gesprächen mit dänischen ErzieherInnen und LehrerInnen, von denen viele in Dänemark aufgewachsen sind und Dänisch als Erstsprache sprechen, weisen im Verlauf ihrer Schulzeit einen sinkenden Anteil an Südschleswigismen auf, besonders im Bereich der Semantik. Die Begriffswelt, aus denen sich die Unterrichtsinhalte konstituieren, und die Themen, mit denen sich die Kinder in der Schule beschäftigen, stammen üblicherweise aus Dänemark und werden auf Dänisch ausgedrückt. Beide Umstände tragen dazu bei, dass die Kinder oft Dinge auf Dänisch ausdrücken sollen, mit denen sie aus dänischsprachigen Kontexten vertraut sind oder über die in ihrer Gegenwart üblicherweise auf Dänisch gesprochen wird. Eine dänischsprachige Unterrichtsumgebung übt so einen gleichermaßen großen Einfluss auf die Aussprache, den Satzbau und den Wortschatzumfang in der Verwendung des Dänischen im Alltag aus. Der Einfluss aus dem Deutschen ist jedoch auch groß, da die Kinder häufig Deutsch als Erstsprache, Familiensprache und Freundeskreissprache sprechen sowie rezeptiv in den Medien, zum Beispiel dem Fernsehen, damit in Berührung kommen. Dennoch ist der Kontakt der Kinder mit Deutsch insgesamt gesehen geringer als derjenige der Erwachsenen, da sie sich einen Teil des Tages in der dänischen Institutionswelt befinden, wo mit ihnen Dänisch gesprochen wird.

In Bezug auf die Erwachsenen, die Deutsch als Familiensprache und Dänisch als Minderheitszweitsprache sprechen und in einem deutschsprachigen Alltag leben, ist die Lage anders. Auch außerhalb ihres privaten Umfelds haben sie in der deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft engen Kontakt zu Deutsch in Verbindung mit ihrer Arbeit oder der Kommunikation mit deutschen Institutionen, zum Beispiel dem Finanzamt oder Krankenhäusern, und auch das minderheitspolitische Gebiet stellt sich überwiegend deutschsprachig dar. Daher haben diese Erwachsenen u.U. überhaupt keinen täglichen Kontakt mit der dänischen Sprache. Wenn sie die Gelegenheit haben, Dänisch zu hören oder zu sprechen, so geschieht das am ehesten in einer Umgebung, die sprachlich und konzeptuell deutsch geprägt ist und zu der es keine unmittelbaren Parallelen in Dänemark oder der dänischen Sprache gibt. Als Resultat ist mit einer größeren Anzahl von Südschleswigismen zu rechnen, nicht nur lexikalisch, sondern auch in der Phonologie, der Syntax und der Aussprache, denn ein regelmäßiger (standard-)dänischer Input ist selten vorhanden.