Grundwissen Psychisch Kranke

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48 Defiebre, N. & Köhler, D. (2012). Erfolgreiche Psychopathen? Zum Zusammenhang von Psychopathie und beruflicher Integrität. Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft. Die Autoren sehen z. B. bei den jüngsten Politiker-Plagiats-Affären „soziale Raubtiere“ am Werk.

49 Hier nehme ich auf eigene klinisch-gutachterliche Erfahrungen Bezug. Die Persönlichkeitsforschung im polizeilichen Feld ist unterentwickelt. Wenn man Belege sucht, muss man diese indirekt der soziologischen Feldforschung entnehmen: z. B. Behr, R. (2000). Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei. Opladen: Leske & Budrich.

50 Lelord, F. & André, C. (2011). Der ganz normale Wahnsinn – Vom Umgang mit schwierigen Menschen. Berlin: Aufbau Verlag.

51 Stern, A. (1938). Psychoanalytic investigation of and therapy in the borderline group of neurosis. Psychoanalytic Quarterly, 7, 467 - 489.

52 Kapfhammer, H. P. (1999). Integrative Therapieansätze bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen. In: Saß, H. & Herpertz, S. (Hrsg.). Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen – Beiträge zu einem schulenübergreifenden Vorgehen, 98 - 115. Stuttgart, New York: Thieme Verlag.

53 Es sei angemerkt, dass selbstverletzendes Verhalten sich auch bei anderen Störungsbildern findet. Grundsätzlich kann aus einem einzelnen Symptom oder aus einer isolierten Verhaltensweise nicht auf die Diagnose geschlossen werden.

54 Die ICD-10 formuliert hier einen eigenen Prägnanztypus der Borderline-Persönlichkeitsstörung: den „impulsiven Typ der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung“, auch reizbar-explosible Persönlichkeitsstörung genannt. Dieser Typ soll vor allem bei Borderline-Männern gefunden werden, die seltener in der Psychiatrie, umso häufiger aber in Gefängnissen oder auf neurologischen Intensivstationen angetroffen werden (wegen ihres Risikoverhaltens).

55 Stone, M. H. (1993). Long-term outcome in personality disorders. British Journal of Psychiatry 162, 299 - 313.

56 Den Misshandlungs- und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit wird in der Entstehung der Borderline-Störung ein sehr hoher Stellenwert beigemessen: 60 % der weiblichen Borderline-Patienten berichten über sexuelle Traumatisierung, 80 - 90 % berichten Gewalterfahrung und Vernachlässigung in der Kindheit.

57 Bohus, M. (2002). Borderline-Störung. Göttingen: Hogrefe.

58 Stone, M. H., Stone, D. K., Hurt, S. W. (1987). The natural history of borderline patients: Global outcome. Psychiatry Clinics North America 10, 185 - 206.

59 Sendera, A. & Sendera, M. (2010). Borderline – die andere Art zu fühlen. Beziehungen verstehen und leben. Wien: Springer.

60 Der Begriff „Hysterie“ oder „hysterische Persönlichkeit“ wurde mittlerweile völlig fallen gelassen, weil er eine abwertende Konnotation transportiert.

61 Cloninger, C.R., Reich, T & Guze, S.B. (1975). The multifactorial model of disease transmission: III. Familial relationships between sociopathy and hysteria (Briquets syndrome). British Journal of Psychiatry, 127, 23 - 32.

62 Fiedler, P. (1998). Persönlichkeitsstörungen. Weinheim: Psychologie Verlags Union.

63 Die partnerschaftlichen Beziehungen histrionischer Frauen haben oft eine besondere Qualität. Jürg Willi spricht von der „Rivalität um die männliche Rolle“ in Willi, J. (1975). Die Zweierbeziehung: Das unbewusste Zusammenspiel von Partnern als Kollusion. Reinbek: rororo. Im Grunde geht es (in stark vergröberter Darstellung) darum, dass histrionische Frauen sich gerne mit autonomen „Alpha-Männern“ schmücken, deren Dominanz jedoch früher oder später zur Bedrohung wird, da sie das histrionische Zuwendungsbedürfnis nicht befriedigt. Mit bestimmten unbewussten Strategien werden die Männer daher in eine regressive (z. B. depressiv-hilflose) Position gedrängt – werden damit jedoch gleichzeitig „uninteressant“ für die persönlichkeitsgestörten Frauen. Noch kürzer: Die histrionische Frau sucht sich einen Herrscher, den sie beherrschen will. Damit ist das Scheitern der Beziehung bereits im Keim angelegt.

64 Die Selbstinszenierung beginnt dann, irgendwie hohl zu wirken, und man wird an das finnische Sprichwort „Leere Tonnen machen den meisten Lärm“ erinnert.

65 Diese Diagnose ist in der ICD-10 nur in den Anhang aufgenommen worden. Nach wie vor wird sie kontrovers diskutiert. Der Haupteinwand gegen diese Störungskategorie ist die mangelnde Konstruktvalidität: Was die einen (z. B. Psychoanalytiker) als „narzisstisch“ diagnostizieren, kann von anderen (nämlich Experten, die nach DSM beurteilen) oft kaum nachvollzogen werden. Wie bei keiner anderen Störung kommt es hier auf eine schwer zu objektivierende Innenperspektive der Betroffenen an. Auch wurde angemerkt, dass diese Diagnose zu häufig für überkritische und in Konkurrenz zum Therapeuten tretende Männer vergeben wird, während Frauen mit dem gleichen Verhalten die Diagnose einer histrionischen Persönlichkeitsstörung erhalten. Dies alles mahnt zur Vorsicht im Umgang mit dieser Diagnose. Diskussion in: Fiedler, P (2007). Persönlichkeitsstörungen. Weinheim: Beltz Verlag.

66 Bei dem „Dr. div. h.c.“ handelt es sich eigentlich um einen US-amerikanischen, käuflich zu erwerbenden kirchlichen Würdentitel (siehe unter www.ehrendoktor.info).

67 Stone, M. H., Hurt, S. W., Stone, D. K. (1987). Longterm follow-up of borderline patients meeting DSM-III criteria. I. Global outcome., Journal of Personality Disorders 1, 291 - 298.

68 Jürg, W. (1975). Die Zweierbeziehung: Das unbewusste Zusammenspiel von Partnern als Kollusion. rororo.

69 In der ICD-10 wird von „ängstlicher (vermeidender) Persönlichkeitsstörung“ gesprochen. Es gibt starke Überschneidungen mit dem Krankheitsbild der „sozialen Phobie“, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.

70 Frei nach einem chinesischen Sprichwort.

71 Das Kriterium der Unterwürfigkeit (Submissivität) ist bisweilen kritisiert worden, weil man zu geschlechtsspezifischen Diagnosefehlern kommen kann. Es wird damit nämlich erstens eine dominierende Form der Abhängigkeit vernachlässigt, wie sie häufiger bei Männern auftritt, die per Anweisung und Befehl die Entscheidungen an ihre Bezugspartner delegieren. Zweitens wird submissives Verhalten von Frauen immer noch – zumindest in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen – gefördert; vgl. Saß, H. Houben, I., Herpertz, S. (1999). Zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen. In: Saß, H. & Herpertz S. (Hrsg.). Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen – Beiträge zu einem schulenübergreifenden Vorgehen, 98 - 115. Stuttgart, New York: Thieme Verlag.

72 Freud, A. (2006). Das Ich und die Abwehrmechanismen. Frankfurt: Fischer Taschenbuch. Menschen, die altruistisch abtreten, kämpfen für andere und vernachlässigen sich selbst.

73 Schmidbauer, W. (2002). Helfersyndrom und Burnout-Gefahr. München: Urban & Fischer. Das popularpsychologische Konstrukt des „Helfersyndroms“ bezeichnet ein vielschichtiges Phänomen, für das nach der ursprünglichen Konzeption vor allem narzisstische Persönlichkeiten prädisponiert sein sollen, die Machtbedürfnisse und Größenphantasien in der therapeutischen/helfenden/pflegenden Tätigkeit befriedigen.

74 Tellenbach, H. (1961). Melancholie. Berlin: Springer. Der Typus melancholicus ist mit der zwanghaften Persönlichkeitsstörung nicht absolut deckungsgleich, insbesondere der Eigensinn des Zwanghaften widerspricht der Harmoniebedürftigkeit des melancholischen Typs nach Tellenbach, sodass Fiedler (2007) den Typus melancholicus eher dem zwanghaften Persönlichkeitsstil zuordnet.

75 Das Leben lässt sich einfach nicht absolut „absi-

76 Tenney, N. H., Schotte, C. K. W., Denys, A. J. P., van Megen, J. G. M. & Westenberg, G. M. (2003). Assessment of DSM-IV personality disorders in obsessivecompulsive disorder: Comparison of clinical diagnosis, self-report questionnaire and semi-structured interview. Journal of Personality disorders, 17, 550 - 562.

77 Gemeinsam mit der „depressiven Persönlichkeitsstörung“.

78 Der Begriff „Bedenkenträger“ hat mittlerweile in der Wirtschaft eine abwertende Bedeutung bekommen. Man kann den Menschen, der zuerst die Risiken, Gefahren und Tücken eines Unternehmens sieht, der kritisiert oder intuitiv zögert, in Organisationen allerdings auch sehr gut gebrauchen. Die pauschale Abwertung solcher Menschen ist eine Machtstrategie nach wilhelminischem Muster („Ich dulde keine Schwarzseherei“, Zitat Kaiser Wilhelm II).

79 Das hat sie mit der sogenannten „Multiplen Persönlichkeitsstörung“ (Dissoziative Identitätsstörung) gemeinsam, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Es handelt es sich bei der multiplen Persönlichkeitsstörung ebenfalls um eine komplexe Traumafolgestörung mit einer Desintegration der Persönlichkeit als Kernsymptom. Auch sie ist eine stark kontrovers diskutierte Diagnose: Immer wieder wird dabei die Frage der „Echtheit“ aufgeworfen und die Frage, inwieweit diese Diagnose nicht von Therapeuten „sozial konstruiert“ wird (Iatrogenität, „false-memory“-Debatte).

80 Herman, J. (1994). Narben der Gewalt – Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. München: Kindler.

 

81 Wer mit langjährig missbrauchten und misshandelten Menschen (z. B. mit Opfern häuslicher Gewalt) konfrontiert ist, kennt die Tendenz der Opfer, die Täter in Schutz zu nehmen und zu ihnen zurückzukehren, für sie zu sorgen, sie später zu pflegen etc.

82 Eine permanente enge Supervision der Therapeuten von persönlichkeitsgestörten Patienten in daher in der Regel unerlässlich.

83 Vgl. Sachse, R. (2004). Persönlichkeitsstörungen. Leitfaden für die psychologische Psychotherapie. Göttingen, Bern, Toronto, Seattle, Oxford, Prag: Hogrefe. Die Patienten stellen mit den Beziehungstests sicher, dass der Therapeut sie auch dann noch akzeptiert, wenn sie z. B. feindselige oder problematische Muster entfalten: Narzissten wollen die Therapieregeln neu bestimmen und wollen auch darin respektiert werden; histrionische Menschen klagen über mangelnde Zuwendung und fischen nach Komplimenten usw.

84 Für einige Persönlichkeitsstörungen wurden ganz spezielle Therapieprogramme entworfen, die strukturiert und modularisiert sind und einer speziellen Ausbildung bedürfen. Eines der bekanntesten Programme ist die „Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) nach Linehan“ für Borderline-Persönlichkeitsstörungen.

85 Fiedler, P. (2000). Integrative Psychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen. Göttingen: Hogrefe.

86 Ich beziehe mich im Folgenden zum einen Teil auf mündliche Mitteilungen von Art Freeman und zum anderen Teil auf kognitiv-schematherapeutisch formulierte Prinzipien (vgl. Sperry, L. [2003]. Handbook of Diagnosis and Treatment of DSM-IV Personality Disorders. Routledge, Chapman and Hall).

Sexuelle Deviationen

Dietrich Pülschen

Dr. rer. nat., Dipl. Psych., Leitender Psychologe, Psychotherapeut, Universitätsklinikum Rostock

Zunächst soll in diesem Kapitel die Problematik alter und neuer Fachbegriffe thematisiert werden:

Sexualität ist der Erlebnisbereich, in dem der Mensch am intensivsten mit anderen Menschen in Beziehung tritt.

Zitat

Die Sexualität des Menschen tangiert diejenige …

„Dimension des Erlebens und Verhaltens, die über die reproduktive Funktion hinaus im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung Ängste und Wünsche, Sehnsüchte und Enttäuschungen sowie intensive Beglückung und korrespondierend auch heftigste Konflikte umfasst.“1

Sie ist gekennzeichnet durch Partnerbezogenheit und „Wir-Bildung“ (Giese2); genauer unterscheidet Beier3 die drei Dimensionen menschlicher Sexualität: Lust4, Fortpflanzung5 und Beziehung6. Damit birgt sie im Umkehrschluss das Risiko einer defizienten Paarbildung in sich und psychische Auffälligkeiten können sich bspw. in sexuell abweichendem Erleben und Verhalten niederschlagen. Dissexualität äußert sich durch ein „sich im Sexuellen ausdrückendes Sozialversagen“7.

Unter Dissexualität sind – nach Bange – diejenigen Handlungen zu verstehen, welche durch den sexuellen Übergriff auf einen anderen Menschen dessen Integrität und Individualität direkt verletzen.

Zitat

Sexueller Missbrauch ist …

„jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Menschen entweder gegen den Willen vorgenommen wird oder der er aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätsposition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten anderer zu befriedigen.“8

Sexualität steht zusehends im Mittelpunkt auch öffentlichen Interesses, was umso mehr für den Bereich regelwidriger/abweichender Triebneigungen zutrifft, die auch mit den Bezeichnungen „sexuelle Deviationen“ bzw. „Paraphilien“ umschrieben werden und früher „Perversionen“9 genannt wurden. Die Steigerung negativer Bewertung versammelt sich unter dem Begriff „sexuelle Delinquenz“, also die kriminelle Seite sexueller Praktiken und auch Störungen.

Obwohl die oben genannten Begriffe zusehends seltener und wenn, dann auch noch synonym verwendet werden10, sollte gerade im forensischen11 Kontext – wie hier – zwischen (normalpsychologischen) Triebneigungen („sexueller Orientierung, sexuellen Variationen“) und ihren Abweichungen („Deviationen“) unterschieden werden. Denn allzu häufig werden nach Ansicht des Autors abweichende Verhaltensweisen mit wenig hilfreichen Adjektiven wie „selten“, „ausufernd“, „unüblich“ u. dergl. m. etikettiert und verwässert.

Zwangsläufig geraten wir – wie auch anderswo innerhalb der Psychowissenschaften – in eine „Normalitätsdiskussion“. Dazu muss man wissen, dass der Normalitätsbegriff auf unterschiedlicher Basis definiert werden kann. Was heißt unnormal? Anormalität ist:

• eine statistische Definition,

• ein medizinisch-deskriptiver Begriff,

• eine moralische Dimension (Werturteil),

• und ausdrücklich keine nosologische12 Einheit.

1 Der Normalitätsbegriff

1 Statistisch = nach dem Prinzip der Häufigkeit: Normal ist der Durchschnitt. Alles, was selten ist, ist aboder unnormal. Seltenheit wird dabei konventionell als die Häufigkeit jenseits der 95 %-Marke definiert. Überdurchschnittlichkeit wird hingegen bei vielen Parametern als Leistung (bspw. Intelligenz, Sport usw.) positiv konnotiert und eher ausnahmsweise als nicht normal im Sinne gering bewerteter Eigenschaft (bspw. Körpergröße). Dieser Normalitätsbegriff findet v. a. in den Naturwissenschaften (Biologie) Anwendung. So ist „sexuelle Deviation“ (Paraphilie) ein Sexualverhalten, das statistisch auf ein „unübliches“, weil seltenes Sexualobjekt gerichtet ist oder eine statistisch unübliche/seltene Art sexueller Stimulierung anstrebt. Der statistische Normalitätsbegriff ist ein medizinisch-deskriptiver Begriff und beschreibt (nicht: erklärt) nosologische Einheiten der Krankheitslehre.

2 Strukturell = formales Merkmal im Sinne einer Funktion: Entweder ist die Funktion intakt oder eben nicht („dysfunktional“). Das kann auch für die Intaktheit psychischer Funktionen gelten. Dieser Normalitätsbegriff findet v. a. in der Medizin Anwendung. So ist bspw. ein Kariesbefund nach erstem Normalitätsbegriff durchaus normal, weil häufig, nach vorliegender (struktureller) Sichtweise hingegen dysfunktional, also pathologisch und damit unnormal und unerwünscht. Auf unser Themengebiet der Deviation übertragen, haben wir es mit einer chronischen Vorliebe für eine sexuelle Praxis zu tun, die nicht der Fortpflanzung dient13 – und damit außerhalb der heterosexuellen Norm liegt. Nach dem hier vorliegenden Normalitätskriterium kann es also allgemein verbreitet und durchaus „normal“ sein, Phantasien mit unüblichen sexuellen Inhalten zu haben und gelegentlich unübliche sexuelle Handlungen zu begehen.

3 Ethisch = Werturteil, moralisches Merkmal, welches sich nach epochalen, kulturellen, situativen Merkmalen ausrichtet. Gemeint sind gesellschaftliche Normvorstellungen. Derselbe Psychopath kann in einem veränderten Rahmen auch als gefeierter Held oder Krimineller erscheinen, je nach Wertung, die im Krieg anders als im Frieden ausfällt. Wir haben es hier mit Kriterien von Sitte und Moral zu tun, die massiv dem Zeitgeist wie auch soziokulturellen Gegebenheiten und Wertewandel innerhalb der jeweiligen Gesellschaft unterliegen (Strukturen der Gesellschaft, Machtverteilung über Gesellschaftsschichten, Religion) und kulturell bedingten Sozialisationsprozessen unterworfen sind. Auch die Entwicklung strafrechtlicher Vorschriften (was für „delinquent“ gehalten wird) entspringt ethischen Grundannahmen (cf. Homosexualität in Deutschland bis 1975 strafbar und wurde früher in psychiatrischen Lehrbüchern und Klassifikationssystemen als Störung definiert).

4 Ästhetisch = die Frage nach dem (guten) Geschmack – Gegenstand bspw. der darstellenden und auch bildenden Kunst, auch im Hinblick auf bspw. eine „Ästhetikdes Hässlichen“…

Diese Aufzählung ließe sich weiterführen, soll hier jedoch enden, da uns für die weitere Beschäftigung des Themas die ersten drei Normalitätsdefinitionen völlig ausreichen.

Bzgl. der „Pathogenese“, der Entstehungsweise von krankhaften bzw. abnormen Einzelphänomenen (auch sexueller Deviationen), geht man gegenwärtig von multikausalen Einflussfaktoren mit aktuellen Auslöseereignissen (sog. „Vulnerabilitäts-Stress-Modelle“) aus, die im Lauf der individuellen Entwicklung untereinander – nicht statisch – dynamisch interagieren (innerhalb sog. „biopsychosoziale Modelle“) und so diejenigen Verhaltens- und Erlebensmuster auftreten lassen, die u. a. auch als „psychische Störungen“ diagnostiziert werden.14

2 Die Klassifikation sexueller Variationen und Deviationen

Bei dem zunächst statistischen Blick auf sexuelle Variationen und Deviationen helfen uns die medizinisch-deskriptiven Einteilungen der Diagnosen, wie sie in den gängigen Glossaren der augenblicklich aktuellen Versionen der operationalen Diagnostik ICD-1015 oder der des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-IV)16 definiert werden. Sie zielen auf typologische und damit statische Modelle (auf der Verhaltensebene) ab. Dem Anspruch nach weitgehender Theoriefreiheit wird der Krankheitsbegriff in beiden Glossaren zugunsten einem am Leiden oder handicaporientierten Störungsbegriff (im Ggs. zum Krankheitsbegriff) geopfert. Die internationale psychiatrische Klassifikation versucht, einheitliche diagnostische Standards psychischer Störungsbilder darzustellen. Diese statische Klassifikation vereinheitlicht die psychopathologische Sprache, sodass bspw. Strömgren17 in diesem Zusammenhang daher auch sehr treffend von einem „Esperanto“18 der Fachwelt spricht.

Da diese Glossare Typen sexueller Devianz klassifizieren, müssen wir diese Einteilungen strikt von der strukturellen abgrenzen: Es handelt sich um eine typologische Klassifikation, die Verhalten phänomenologisch einordnet und sich nicht auf ein Störungsprinzip bezieht, sondern auf wiederholt auftretende oder anhaltende, intensive sexuelle Impulse, Phantasien oder Handlungen und zu deutlichen Beeinträchtigungen führen können.19

Nachfolgend nun die wichtigsten sexuellen Präferenzen in Anlehnung an Faust20, wie sie in der ICD-10 unterschieden werden: Störungen der Geschlechtsidentität (ICD-10: F64), der Sexualpräferenz (ICD-10: F65) sowie psychische und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung (ICD-10: F66).

2.1 Transsexualismus

Transsexualität oder Transsexualismus (Transgender) bezeichnet die Inkongruenz von psychischer Geschlechtsidentität und körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Sie ist eine Form der Geschlechtsidentitätsstörung, bei der die Empfindung, (damit der Wunsch) körperlich eindeutig dem jeweils anderen Geschlecht anzugehören, im Mittelpunkt steht. Die Betroffenen sind vollkommen auf den intensiven Wunsch nach Geschlechtswechsel eingeengt. Daher besteht nicht nur das Bedürfnis, durch hormonelle und operative Behandlung eine Geschlechtsumwandlung zu erreichen, sondern auch eine Namens- und Personenstandsänderung.

Eigengeschlechtsspezifische Merkmale werden energisch abgelehnt. Das betrifft beim Mann Penis und Bartwuchs (bis hin zur Selbstkastration). Die Sexualität tritt dabei zugunsten der Geschlechtsidentifikation in den Hintergrund. Da die gestörte Geschlechtsidentität weit über sexuelles Erleben und Verhalten hinausgeht, ist fraglich, ob Transsexualität eine sexuelle Störung im engeren Sinn ist. Über mögliche Entstehungsbedingungen besteht bislang keine Klarheit.

Prävalenz

Prävalenz: Wegen Zunahme der sozialen Akzeptanz in den letzten Jahrzehnten gestiegen:

Mann-zu-Frau-Transsexuelle oder Transfrauen (MFT) ca. 1: 10.000 Männer, Frau-zu-Mann-Transsexuelle oder Transmänner (FMT) ca. 1: 30.000 Frauen MFT: FMT ≈ 3: 121

2.2 Transvestitismus

Im Gegensatz zur Transsexualität (oben) besteht beim Transvestitismus22 (gelegentlich auch „Travestie“ genannt) kein Verlangen, die Identität des anderen Geschlechts zu übernehmen. Transvestiten sind fast ausschließlich heterosexuell orientiert. Spiegel und Kamera spielen eine große Rolle, damit der Transvestit sich in seiner Kleidung selber sehen kann. Damit wird die sexuelle Befriedigung erhöht. Eigentlich kann man den Transvestitismus im Sinne eines Kleiderfetischismus (Fetischistischer Transvestitismus) als Extremform des Fetischismus betrachten.

 

Außerdem tritt der Transvestitismus oft nur vorübergehend auf und es besteht schon gar kein Wunsch nach dauerhafter Geschlechtsumwandlung. Er ist unabhängig von der sexuellen Orientierung und kommt sowohl unter Hetero- als auch unter Homosexuellen vor. Manchmal betrifft der Kleiderwechsel („cross dressing“, „X-Dress“) nur die Unterwäsche.

Differenziert betrachtet werden müssen hingegen die sogenannten „effeminierten Homosexuellen“, die das weibliche Empfinden und Verhalten nachahmen, sich manchmal weiblich kleiden, um leichter Kontakt mit gewünschten männlichen Partnern zu bekommen. Hier haben wir es daher auch nicht mit Transvestitismus zu tun. Der Kleiderwechsel wird von der homosexuellen Ausrichtung bestimmt.

Forensisch (gerichtlich) bedeutsam wird er mitunter durch die Kombination mit Diebstahl von Kleidern, mit Exhibitionismus oder Fetischismus (sogenannte multiple Störungen – vgl. 2.8.7 „Weitere Formen sexueller Devianz“).

2.3 Fetischismus/Fetischistischer Transvestitismus

Fetischismus bezeichnet den Gebrauch einzelner, meist unbelebter Objekte zur Erregung und Befriedigung sexueller Wünsche. Beim fetischistischen Transvestitismus ist das Tragen gegengeschlechtlicher Kleidung von sexueller Erregung begleitet (… die sexuelle Erregung und Befriedigung durch Ersatzobjekte) und als sexuelle Devianz aufzufassen. Bei Männern entweder als heterosexueller oder homosexueller Fetischismus oder bei Jugendlichen und Männern zu Beginn ihrer sexuellen Entwicklung.

Das sog. „normale Fetischisieren“ kann die normalpartnerschaftliche Sexualität tangieren, wenn hier bspw. direkt oder indirekt zum Partner gehörende Fetische eine Rolle spielen. Am häufigsten ist ein unbelebtes Fetisch-Objekt, meist ein Bekleidungsgegenstand (Kleiderfetischismus: Wäsche, Strümpfe, Schuhe, Kleider, Schürzen, Stiefel, Regenmäntel, Handschuhe, Uniformen usw.). Aber auch andere Gegenstände wie Brillen, Taschentücher, Schmuck, Haarbürsten, Sicherheitsnadeln, Schnuller, Peitschen, Hosen. Nicht selten auch einzelne Körperteile (Haare, Fuß, Hand) und sogar Kunstglieder (Prothesen) und Perücken. Letztlich ist jeder Gegenstand als Fetisch möglich, sogar Haus- oder Fahrzeugteile.

Des Weiteren existieren die Unterteilungen in „harte“ und „weiche“ Materialfetischisten: Harte Fetisch-Gegenstände sind z. B. aus Leder oder Gummi, weiche sind zart, gerüscht oder flaumig wie Reizwäsche, Pelze, Seidentücher u. a. Darüber hinaus müssen Kleider beispielsweise nass oder aufgeschlitzt, die Schuhe hoch glänzend oder matt, weich oder knarrend sein. Mitunter handelt es sich um eng einschnürende Bekleidungsstücke oder Schuhe.

Zu erwähnen sind auch sogenannte „negative“ Fetischisten, die vor allem von einem nicht mehr vorhandenen Glied angezogen werden, bis hin zur sexuellen Erregung durch Verkrüppelung oder Amputation.

Am häufigsten finden sich Leder-, Gummi- und Pelzfetischisten. Kleider sind besonders wichtig, und zwar weil sie:

1 direkt mit dem Körper assoziiert werden, was besonders jene strukturierten Kleidungsstücke so beliebt macht, die Formen und Teile des Körpers unterstützend abgrenzen (z. B. Büstenhalter, Strümpfe),

2 weil es Objekte sind, die entwendet, gehortet und von einer Person an die andere weitergegeben werden können.

Interessant ist aber nicht nur der Symbolgehalt bzw. die erotische Botschaft des Materials, sondern auch die Farbe (meist schwarz, das auf hellhäutigem Fleisch den stärksten Kontrast bildet).

Der Einfluss des Fetischismus auf die Mode unserer Zeit ist nicht zu unterschätzen. Mitunter kann man fast schon von einer fetischinspirierten Mode sprechen, die ihren Weg von den Modeseiten der Magazine in die Geschäfte und damit auf die Straße gefunden hat. Allerdings nicht unter dem riskanten Überbegriff „Fetischismus“, sondern unter

„Glanzmode“ oder auch nur ganz schlicht: „körperbewusst“ oder „sexy“: z. B. hochhackige Lederstiefel, knie- oder schenkelhoch, geknüpft oder geschnürt, lederne Ganzkörperanzüge (Catsuit), mit oder ohne Korsettverschnürung, vom eindeutigen Tabu-Bruch („punk-style in revolt“) bis zum anerkannten Modedesign mit reichhaltigen Accessoires unserer Tage.23

Relevanz

Forensische Relevanz: selten. Delinquenz ist in der Regel beschränkt auf das Entwenden von Gegenständen, sehr selten Überfälle.

2.4 Exhibitionismus

Die wiederkehrende oder anhaltende Neigung, die eigenen entblößten männlichen Geschlechtsorgane in Gegenwart weiblicher Betrachter in der Öffentlichkeit zu entblößen, ohne zu einem näheren Kontakt aufzufordern oder diesen zu wünschen. Meist wird das Zeigen von sexueller Erregung begleitet und im Allgemeinen kommt es zu nachfolgen-der Masturbation. Die sexuelle Befriedigung steht im Vordergrund und die zumeist gewahrte Anonymität ist von großer Bedeutung. Er kann als Demonstration von Potenz und Männlichkeit zur Kompensation von Angst und Ohnmacht betrachtet werden. Die Betroffenen führen gar nicht so selten ein sozial unauffälliges Eheleben in sogar stabilen, sonst intakten Ehen. Daneben gibt es den Exhibitionismus bei instabilen, sozial wenig integrierten Persönlichkeiten.

Exhibitionisten-Typologie (nach Schorsch, 197124 und Beier, 1995):

• (Typischer) Exhibitionist des mittleren Lebensalters (frustriert, gekränkt?),

• jugendlicher Exhibitionist (scheu?),

• sozial randständiger (atypischer) Exhibitionist (impulsiv, dranghaft?),

• pädophil orientierter Tätertyp.

Bei Menschen mit Intelligenzminderung muss das Exhibieren als unbeholfenes Kontaktangebot gedeutet werden. Hier wird im Ggs. zu oben der sexuelle Kontakt mit einem Partner gewünscht und gesucht!

Weiblicher Exhibitionismus tritt forensisch nicht in Erscheinung; er ist im Gegenteil als integraler Bestandteil von Werbung, auch der Werbepsychologie, gesellschaftlich akzeptiert.

Relevanz

Forensische Relevanz: Zweithäufigstes Sexualdelikt: ca. 20 % aller Sexualdelikte. Auch aggressive Tendenzen möglich: Circa ein Viertel aller Exhibitionisten wird im Verlauf tätlich (sog. „Symptomausweitung“)!

2.5 Voyeurismus

Wiederholte oder andauernde Neigung, anderen Menschen bei sexuellen oder intimen Tätigkeiten zuzusehen mit sexueller Erregung und Masturbation. Es besteht kein Wunsch, die eigene Anwesenheit zu offenbaren oder mit der beobachteten Person eine sexuelle Beziehung einzugehen.

Dem Voyeur (umgangssprachlich auch „Spanner“ genannt) ist die strikte Anonymität seines heimlichen Beobachtens einer unwissenden Person sehr wichtig. Das Gleiche gilt für die prickelnde Gefahr, entdeckt zu werden. Am häufigsten sind Situationen, in denen Liebespaare im Freien belauscht oder nachts durch Fenster oder (selbstgebohrte) Löcher beobachtet werden. Der Voyeurismus ist wahrscheinlich häufiger als vermutet. Er kommt fast ausschließlich bei Männern, insbesondere bei kontaktschwachen Menschen vor, denen nahe Begegnungen auf üblichem Wege unmöglich sind.

Obwohl der Voyeur in der Allgemeinheit zuweilen als „Wüstling“ o. ä. bezeichnet wird, findet sich eine allgemeine Form des Voyeurismus (im Ggs. zu obigem „heimlichen Voyeurismus“) letztlich auch beim Betrachten von Peepshows, Striptease oder pornographische Darstellungen in Medien. Eine jener (früheren) „Perversionen“, die heute mehr zu amüsieren als zu empören scheint.

2.6 Pädophilie/Hebephilie

Sexuelle Präferenz für Kinder, Jungen oder Mädchen oder Kinder beiderlei Geschlechts, die sich meist in der Vorpubertät oder in einem frühen Stadium der Pubertät befinden (auch: „Hebephilie25“).

Die homosexuelle Neigung zu pubertären Jungen wird auch als „Ephebophilie“ bezeichnet. „Päderastie“ bezeichnet den sexuellen Missbrauch durch einen Mann an pubertären Jungen (bis etwa 13 Jahre).

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