Grundwissen Psychisch Kranke

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Selten kommt es in Belastungssituationen auch zu paranoiden Vorstellungen (Vorstellungen, verfolgt zu werden, manchmal kombiniert mit flüchtigem Stimmenhören unter hoher affektiver Anspannung – z. B. hört eine Patientin in suizidalen Phasen die Stimme ihres verstorbenen Großvaters, der sie ruft).

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Die Störung nimmt einen oft dramatischen Verlauf mit dem höchsten Suizidrisiko in den ersten 5 - 10 Jahren. Die Suizidrate steigt mit dem Vorliegen von depressiven Begleitleiden auf 18 %, bei begleitender Alkoholabhängigkeit auf bis zu 38 %.55

Besonders schlecht ist die Prognose für die betroffenen Personen, wenn ein aggressionsgeladenes Familienmilieu oder ein inzestuöser Missbrauch in der Anamnese vorliegen56.

Fast regelhaft leiden Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung auch an Depressionen (98 %) und Angststörungen (90 %).

70 - 80 % der Betroffenen verletzen sich selbst, indem sie sich z. B. mit Rasierklingen ritzen oder mit Zigaretten verbrennen, Wunden offenhalten etc.

Bis zu 60 % der Betroffenen weisen einen Alkohol- oder Drogenmissbrauch auf, ebenso viele leiden unter Essstörungen mit Fettleibigkeit, Magersucht oder extremen Gewichtsschwankungen.57

Zudem gibt es einen hohen Anteil an anderen Persönlichkeitsstörungen unter den Borderline-Persönlichkeiten, von denen vor allem die Kombination mit schizotypischen oder antisozialen Zügen den Krankheitsverlauf verkompliziert58.

Der spontan-sprunghafte Persönlichkeitsstil

Bei den abgeschwächten Formen dieser Persönlichkeitsstörung findet man die positiven Seiten der Spontaneität und Impulsivität wieder, die heute kulturell sehr hoch geschätzt werden. Nicht zufällig hat sich in den letzten Jahren eine entsprechende „Emo“-Jugendszene etabliert, die neben der Melancholie, neben bestimmten Moden und Musik auch autoaggressive Verhaltensweisen und den „Rausch der Gefühle“ kultiviert.

Spontan-sprunghafte Persönlichkeiten sind begeisterungsfähig und wenig nachtragend. Sie lassen sich durch ihre Gefühle leiten, haben ein gutes „Bauchgefühl“, mit dem sie Dinge und Personen mit negativen Eigenschaften rasch erspüren und intuitiv ablehnen. Sie haben ein hohes Maß an Flexibilität und schlagen sich besonders in chaotischen Situationen gut durch.

Es wird ihnen auch eine ausgeprägte Kreativität nachgesagt, sodass man sie im künstlerischen Bereich, vor allem aber im Show-Business antreffen kann: Michael Jackson, Britney Spears, Kurt Cobain und anderen Show-Größen wird eine entsprechende Veranlagung mutmaßlich nachgesagt59.

3.2.3 Die histrionische Persönlichkeitsstörung

Der Begriff leitet sich von dem lateinischen „histrio“ (= Schauspieler; im Englischen „histrionic“ = affektiert, theatralisch) ab.

Die Betroffenen tun alles dafür, um wahrgenommen zu werden und möglichst im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen: Sie verhalten sich laut, schrill, provokant oder auch sexuell verführerisch, kleiden sich auffällig oder aufreizend. Sie leben nach dem Motto: „Das quietschende Rädchen bekommt das Öl.“

Histrionische Menschen sind Gefühlsmenschen und neigen zum Dramatisieren („Affektgewinnung“). Dem Gefühl scheint dabei oft die Tiefe abzugehen; es verändert sich rasch, wird andererseits oft übertrieben und theatralisch dargestellt. Dadurch wirken die Betroffenen mitunter unecht und kokettierend.

Histrionische Persönlichkeiten sind sehr leicht durch die Umstände oder durch andere Personen beeinflussbar. Ihre Sehnsucht nach Bestätigung, Anerkennung und Lob lässt sie die Realität einer Beziehung mitunter verkennen: Sie schätzen Beziehungen enger ein als sie tatsächlich sind. Sie fangen daher unangemessen früh an, ihre Mitmenschen zu duzen, begrüßen ihren neuen Hausarzt bereits beim zweiten Termin mit herzlicher Umarmung usw.

Histrionische Züge, früher auch „hysterische“ Züge60 genannt, werden häufiger bei Frauen beschrieben. Es ist jedoch darauf hingewiesen worden, dass es eine genetische Verwandtschaft61 und funktionale Verbindung62 zu den antisozialen Persönlichkeitsstörungen gibt, insofern auch histrionische Persönlichkeiten sich durch eine geringe Sensibilität gegenüber Strafreizen auszeichnen und zu Risikohandlungen und Impulskontrollstörungen neigen. Antisoziale Männer können ausgesprochen histrionische und charmant-gewinnende Züge zeigen.

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Menschen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung haben enorme Probleme in der Gestaltung fester und verlässlicher Beziehungen zu ihren Mitmenschen. Durch ihre Gefühlsbetontheit und leidenschaftlich-impulsive Hingabe an eine Situation machen sie Eindruck, wirken vielversprechend, halten jedoch selten durch. Konfrontiert mit den Konflikten und „Grauschleiern“, die den Alltag einer Beziehung63 ausmachen, reagieren sie rasch frustriert oder gekränkt mit destruktiven Vorwurfshaltungen oder mit Panik. Sie versuchen dann, sich durch Inszenierungen ihres Charmes oder dramatischen Handlungen Zuwendung und Anerkennung zu sichern (Weinkrämpfe, Suiziddrohungen, Täuschungsoder Verführungsmanövern).

Auf lange Sicht kommt es damit zu zunehmenden Selbstwertproblemen, Beziehungsproblemen und Depressivität. Viele histrionische Persönlichkeiten berichten über Einsamkeitsgefühle und innere Leere.

Oft wirken histrionische Menschen auf ihre Umwelt schon auf den ersten Blick eitel, egozentrisch und anstrengend, sodass sie aktiv gemieden und isoliert werden. Diese Situation verschärft sich mitunter im Alter, wenn die (weiblichen) Rollenstereotypen der sexuellen Attraktivität und Koketterie einen karikaturhaften Zug gewinnen.

Der Leidensdruck der histrionischen Persönlichkeiten kann sehr groß sein. Wie bei keiner anderen Persönlichkeitsstörung wird das von der Umwelt oft verkannt, weil man sich durch eine charmant-gewinnende und selbstbewusste Fassade blenden oder durch eitles Gehabe abschrecken lässt.

Beispiel

Frau H. ist eine 35-jährige Frau, die über Einsamkeitsgefühle und starke Depressionen klagt. Aufgrund einer histrionischen Persönlichkeitsstörung kam es immer wieder zum Scheitern von Beziehungen unter teils dramatischen Umständen. Sie lebt bei ihrer Mutter.

In unserer Klinik verlangt sie von ihrem Therapeuten einen hohen persönlichen Einsatz. So möchte sie ihre Medikamente von ihm persönlich aufs Zimmer gebracht bekommen. Als ihr das verweigert wird, ruft sie ihren Hausarzt in Frankfurt an und berichtet, in der Klinik stark vernachlässigt zu werden. Sie stehe gerade auf dem Fenstersims und sei dabei, sich aus dem Fenster stürzen. Der Hausarzt wiederum verständigt sofort die Klinik. Als der Behandler in ihr Zimmer kommt, erwartet sie ihn mit einem Lächeln – im Bett liegend. Der Therapeut ist gezwungen, über ihre auf dem Boden verstreut liegenden Dessous zu steigen, um mit ihr ein Gespräch zu führen.

Der dramatisch-expressive Persönlichkeitsstil

Dramatisch-expressive Persönlichkeiten sind durchaus charmante und liebenswürdige Menschen mit einer intuitiven und warmherzigen Art. Sie sind gefühlsoffen, überschwänglich und spontan. Sie wissen andere zu unterhalten, in ihrer Nähe gibt es selten Langeweile. Die ganze Welt dient ihnen als Bühne. Komplimente und Applaus sind ihr Lebenselixier. Gleichzeitig drohen sie aber auch Partner und Mitmenschen durch ihre Stimmungsumschwünge und Mittelpunktssucht zu ermüden. Die anfängliche Faszination geht so auch in Partnerschaften rasch verloren.64

Menschen mit einem entsprechenden Persönlichkeitsstil findet man unter Schauspielern und unter Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, wie Politikern.

3.2.4 Die narzisstische Persönlichkeitsstörung65

Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind von ihrer eigenen Grandiosität übermäßig überzeugt und eingenommen. Sie übertreiben ihre (zweifellos oft vorhandenen) Talente, streben besonders rückhaltlos nach Erfolg, Ruhm und Macht. Sie halten sich für einzigartig und pflegen am liebsten nur Umgang mit Menschen, die ihrerseits besonders angesehen sind oder für wichtig gehalten werden.

Entsprechend erwarten narzisstisch gestörte Menschen auch besondere Aufmerksamkeit und Bewunderung, was sie mitunter arrogant und blasiert wirken lässt. Manchmal kultivieren sie auch ein entsprechendes Auftreten, kleiden sich auffallend, kommen gerne zu spät (um bemerkt zu werden und um ihre Unabhängigkeit zu betonen), müssen immer das letzte Wort haben, hören ganz spezielle Musik, die „kein anderer wirklich versteht“ etc.

Das Besondere ist ihnen nicht besonders genug: Fahren andere „High-Performer“ einen Ferrari, dann muss es für den Narzissten mindestens eine Corvette sein. Manche kaufen sich „Doktortitel“, sodass man schon mal einen narzisstisch gestörten Handwerker antreffen kann mit einem „Doctor of Divinity“ (Doktor der Göttlichkeit)66.

Für die Bedürfnisse anderer Menschen sind sie eher blind; es findet sich ein Mangel an Mitgefühl und Einfühlungsvermögen. Sie erwarten ganz selbstverständlich, dass andere für sie da sind, können kaum dankbar sein (und wenn sie es doch einmal sind, dann sind sie es aus Kalkül).

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Narzisstisch gestörte Menschen haben neben den Borderline-Patienten die höchste Suizidrate. In einem Beobachtungszeitraum von 16,5 Jahren suizidierten sich 14 % der Betroffenen67. Menschen, deren brüchiges Selbstwertgefühl durch Größenphantasien und Erfolgsstreben kompensiert wird, reagieren auf Kränkungen, berufliches Scheitern oder Verlassenwerden besonders stark. Bei narzisstisch gestörten Patienten kommt es dabei zu intensiven Selbstzweifeln, Versagensgefühlen und schließlich zu den schweren depressiven Krisen mit Suizidalität.

 

Die Kritikempfindlichkeit der Patienten führt zu einem ausgeprägten „Feedback-Problem“. Sie immunisieren sich gegen kritische Rückmeldungen und gegen jeglichen Verdacht der Mittelmäßigkeit, indem sie andere nicht zu Wort kommen lassen oder indem sie andere abwerten. Am liebsten reden sie nur über sich und ihre Leistungen. Bekommen die Betroffenen nicht, was ihnen ihres Erachtens an Bewunderung und Respekt zusteht, und liegt – wie häufiger zu beobachten – eine Kombination mit antisozialen oder paranoiden Zügen vor, geraten sie auch in Rage, werfen ihrem Umfeld „Verrat“ vor, schwelgen in Groll und Verbitterung. Die Betroffenen verstärken dann ihre sich selbst überhöhende Selbstdarstellung, was sie in einen Teufelskreis des „Fassadenbaus“ geraten lässt, oder sie ziehen sich sozial zurück.

Ähnlich wie bei den histrionischen Menschen kann der erste Eindruck von Grandiosität und Vollkommenheit nur auf kurze Strecken durchgehalten werden.

Beispiel

Herr M. ist ein 49-jähriger Bundeswehroffizier mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (mit antisozialen Zügen). Er kommt in psychiatrische Behandlung, nachdem er im alkoholisierten Zustand seine Frau verprügelt und dann einen Suizidversuch begangen hatte. Im Vorfeld hatte er erfahren, dass seine Frau eine Affäre mit einem Kameraden hatte.

Obwohl er selbst – wie sich herausstellt – zahlreiche Affären pflegte, möchte er das nicht mit der „Schandtat“ seiner Ehefrau verglichen wissen: Er habe immer nur flüchtige Affären mit weitläufigen Bekannten gehabt, der Adler jage schließlich nur weit vom Horst – er sei ein Mensch mit Prinzipien …

Auf der Station ist er stets tadellos mit Anzug und Krawatte gekleidet. Er verteilt großzügig Geschenke (überwiegend an junge Damen): So sei er nun mal, schließlich seien die meisten hier doch überwiegend arme, bedauernswerte „Hartz-IV’ler“. Er fährt, was er jeden gerne wissen lässt, einen Wagen der Oberklasse, um den ihn selbst sein Chef beneide. Schließlich habe man so seine Nebentätigkeiten …

Seinen Therapeuten lehnt er ab, weil der während eines Therapiegespräches mit ihm einmal einen Telefonanruf entgegengenommen habe, was ihm gegenüber respektlos sei und sich nicht gehöre. Als die ärztliche Leitung darauf besteht, dass er weiter mit diesem Therapeuten arbeite, droht er schließlich, seine „Verbindungen in die Politik“ spielen zu lassen. Er habe einen enormen Einfluss …

Für ihn komme nur ein Behandler in Frage: der Chefarzt persönlich.

Der ehrgeizig-selbstbewusste Persönlichkeitsstil

Überselbstbewusste Menschen werden in einer Konkurrenzgesellschaft mit Leistungsund Erfolgszielen besonders hoch geschätzt. Vielleicht ist das ein weiterer Grund dafür, dass die narzisstische Persönlichkeitsstörung nur in den Anhang der ICD-10 aufgenommen wurde.

Wenn die Defizite des Empathiemangels und der Kritikempfindlichkeit nicht sehr ausgeprägt sind und die Vorstellungen über die eigene Größe in einem gewissen Rahmen bleiben, sind narzisstische Menschen durchaus charmant und vor allem sehr erfolgreich. Sie treten energisch auf und wissen andere für ihre Ziele zu begeistern. In konkurrierenden Beziehungen, also besonders auch auf dem unternehmerischen Sektor, fühlen sie sich wohl, sind siegessicher und geschickt im Verfolgen ihrer Ziele. Dazu dienen dem ehrgeizig-selbstbewussten Menschen ein nicht selten anzutreffender guter Intellekt und andere Begabungen. Sie sind die Stars und können einen Hof an Bewunderern um sich versammeln.

Auch in nahen Beziehungen finden sie mitunter tragfähige Kompromisse, überwiegend jedoch mit Menschen, die ihre eigenen Interessen hinter die des ehrgeizig-selbstbewussten Menschen zurückstellen und die mit Kritik zurückhaltend sind, sogenannte Komplementärnarzissten68.

3.3 Das Cluster C: die ängstlichfurchtsamen Persönlichkeiten

Das Cluster C umfasst diejenigen Persönlichkeitsstörungen, deren Erlebensmuster durch soziale Unsicherheit sowie durch Angst und Furcht vor Zurückweisung geprägt sind. In ihrem Verhalten versuchen sie, diese Ängste und die Unsicherheit zu kompensieren, entweder durch Abgabe von Verantwortung an andere, durch Rückzug und Vermeidung oder aber durch Übererfüllung konventioneller Standards.

3.3.1 Die vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung69

Die Betroffenen leiden unter einer grundlegenden Angst vor Zurückweisung, Missbilligung oder negativer Beurteilung durch andere. Sie halten sich für unterlegen, unbeholfen oder unattraktiv.

Vor dem Hintergrund dieser Ängste und Minderwertigkeitsgefühle (Insuffizienzgefühle) vermeiden sie soziale Kontakte oder gehen nur solche Beziehungen ein, bei denen sie sich sicher sein können, gemocht zu werden. Einige Betroffene haben daher kaum Kontakte außerhalb ihrer Familie.

In neuen zwischenmenschlichen Situationen oder Gruppen fühlen sie sich sehr unwohl, wirken meistens gehemmt, sind still und kaum wahrnehmbar. Im Hintergrund steht die Überzeugung, dass jeder Nagel, der herausragt, in das Brett gehämmert wird70 – vor allem aber dann, wenn es sich um sie selbst handelt.

Bringen sie sich dennoch einmal in einer sozialen Situation ein, erzählen etwas von sich oder vertreten eine Meinung, dann grübeln sie hinterher unter dem Affekt der Scham stunden- bis tagelang darüber nach, ob die Äußerungen passend und richtig waren, was die anderen denken könnten, ob man evtl. jemanden gekränkt oder sich selbst blamiert haben könnte (im Psychotherapie-Jargon auch „Leichenfleddern“ genannt).

Vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeiten zeigen sich nicht gerne; sie sind eher konservativ, probieren eigenständig wenig Neues aus, scheuen jegliches Risiko.

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Im Beruf arbeiten Menschen mit dieser Störung oft weit unter demjenigen Niveau, das ihnen ihr Intellekt und ihre Ausbildung ermöglichen würden: Ein Ingenieur bescheidet sich mit einem Techniker-Job, eine Pädagogin mit einem Platz als Erzieherin im Kindergarten, ein Sprachwissenschaftler mit einem Job in der Buchausleihe einer Bibliothek.

Da sie nicht gerne persönliche Risiken auf sich nehmen, wird jede Beförderung, jeder Auftrag, jede neue Unternehmung, jeder neue Arbeitgeber, selbst jede Bitte um Gehaltserhöhung zu einer unüberwindlichen Hürde: Die Projekte könnten scheitern, sich als beschämend erweisen und werden daher vermieden.

Aufgrund eines andauernd erhöhten Anspannungsniveaus, aufgrund der andauernden Besorgnis sowie des negativen Selbstbildes kann es zu depressiven Entgleisungen und zu panikartiger Zuspitzung von Ängsten kommen, manchmal auch mit Medikamentenmissbrauch (Beruhigungsmittel) einhergehend.

Der selbstkritisch-vorsichtige (sensible) Persönlichkeitsstil

In abgemilderter Form, wenn Hypersensibilität, Selbstentwertungs- und Verharrungstendenzen nicht extrem ausgeprägt sind, spricht man von einem selbstkritisch-vorsichtigen Persönlichkeitsstil. Die Betroffenen sind durchaus beliebte, funktionstüchtige, ja integrierende Menschen. Da ihnen Harmonie wichtig ist, sind sie sehr kompromissbereit und überlassen anderen – höflich, zurückhaltend und ohne Ressentiment – den Vortritt. Sie fühlen sich ihren Freunden und der Familie zutiefst verbunden, schätzen ihre Heimat und die vertraute, gewohnte Umgebung ihres Zuhauses.

Die Tendenz, sich selbst in Frage zu stellen, begründet eine grundsätzliche Bescheidenheit, die sie selbst dort durchhalten können, wo sie (mehr oder weniger widerwillig) in Führungspositionen hineinkommen, was am ehesten noch in der öffentlichen Verwaltung zu erwarten ist.

3.3.2 Die dependente Persönlichkeitsstörung

Menschen mit einer dependenten (abhängigen) Persönlichkeitsstörung haben Probleme damit, selbssttändig Entscheidungen zu treffen. Sie brauchen daher andere Menschen, die für sie wichtige persönliche Entscheidungen treffen. Sie geben die Verantwortung gerne in allen Bereichen an andere ab.

Ihre größte Sorge ist die, alleine dazustehen. Sie tun daher alles dafür, um von Bezugspersonen nicht verlassen zu werden, sind nachgiebig und überangepasst, verzichten auf eigene Wertvorstellungen, riskieren keinen Konflikt und erfüllen die Wünsche des anderen bis hin zur Unterwürfigkeit71.

Ähnlich wie die vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeiten haben sie Angst vor einem Versagen und vor negativer Bewertung, sodass sie lieber mit dem Strom schwimmen und eigene Initiativen vermeiden.

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Menschen mit dependenter Persönlichkeitsstörung haben ein erhebliches Risiko, depressive Störungen bis hin zur Suizidalität zu entwickeln, vor allem bei Beziehungsproblemen oder nach Trennungen. Manchmal stürzen sie sich, um das Alleinesein zu vermeiden, unüberlegt und ohne aus vergangenen negativen Erfahrungen zu lernen, in neue Beziehungen. Diese kranken dann mitunter daran, dass das komplementäre Beziehungsverhältnis („one up - one down“) immer eskalieren kann bis hin zu Gewaltbeziehungen, in denen die dependenten Menschen die Opfer sind. Selbst dort, wo keine Gewalt vorkommt, werden die dependenten Menschen mit der Zeit immer unselbstständiger und passiver.

Bemerkenswert hoch ist die Belastung dependenter Menschen mit sogenannten somatoformen Störungen, das sind psychisch bedingte Erkrankungen mit körperlichen Symptomen wie (körperlich nicht erklärbare) Schmerzen, Erschöpfungszustände, Magen-Darm-Beschwerden etc.

Der anhänglich-loyale Persönlichkeitsstil

Abhängigkeit gehört zur Natur des Menschen. Wir sind zeitlebens auf Hilfestellung und Fürsorge angewiesen. Es dauert Jahre, bis uns Eltern, Lehrer, Freunde, Partner etc. in die wichtigsten Kulturtechniken und sozialen Konventionen eingeführt haben. Und auch dann sind wir – lebenslang – immer noch soziale Wesen, abhängig von unserer Bezugsgruppe und von sozialen Netzwerken, und zwar nicht erst dann, wenn wir die Widerständigkeit des Lebens in Form von Scheitern, Krankheit, Verletzung und Tod zu spüren bekommen.

Die Fähigkeit, eigene Interessen zurückzustellen, ist in diesem Sinne eine sozial wertvolle, förderliche und sehr akzeptierte Kompetenz. Menschen mit einem anhänglich-loyalen Persönlichkeitsstil nutzen ihre Fähigkeit zur Empathie und Kooperation und können sich damit einen stabilen Bekannten- und Freundeskreis aufbauen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn sie zumindest zu einem gewissen Grad auch in der Lage sind, authentisch und aktiv für ihre Interessen einzustehen und selbst gesetzte Ziele und Werte zu vertreten.

Man findet entsprechende Persönlichkeiten häufiger in Helfer- und Therapeutenberufen. Das Risiko, in eine grenzenlose Verausgabung hineinzugeraten, ist für anhänglich-loyale Menschen in diesen Berufen aber immer gegeben, u. a. weil sie damit unbewusst Kontaktbedürfnisse befriedigen und sich von eigenen Zielen und Lebensfragen ablenken können (sogenannte altruistische Abtretung72 oder auch Helfersyndrom73).

3.3.3 Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung

Die zentralen Merkmale eines Menschen mit dieser Störung sind eine Übergewissenhaftigkeit und Übergenauigkeit bis hin zum Perfektionismus, der so ausgeprägt ist, dass er den Betroffenen letzten Endes bei der Erfüllung seiner Aufgaben behindert.

Die Betroffenen haften häufig an Details („Detailsucht“). Ordnung, Regeln, Normen, Pläne und Konventionen sind ihnen überaus wichtig; sie sind eigensinnig und starr in der Befolgung diesbezüglicher Vorgaben.

Meistens sind dem zwanghaften Menschen Arbeit und Beruf am wichtigsten. Hier delegiert er nur widerwillig aus der Furcht heraus, die Aufgaben könnten nicht in seinem Sinne – nämlich perfekt – erledigt werden. Genau das verlangt er von anderen als Kollege oder Vorgesetzter. Er arbeitet daher am liebsten alleine, ist andererseits so voller Zweifel und übervorsichtig, dass er in Führungspositionen mitunter überfordert ist. Der zwanghafte Mensch ist der klassische „zweite Mann“ im Betrieb, der nach Vorgaben und Anordnungen ausführt, und zwar korrekt.

Freizeit, Vergnügen, zwischenmenschliche Beziehungen kommen für die Betroffenen erst an zweiter Stelle, werden oft vernachlässigt oder ebenfalls strengen Regularien unterworfen: Die Freizeit muss sinnvoll genutzt, gestaltet und verplant werden. Zwanghafte Menschen sind Leerlaufphobiker, die am Wochenende, wenn es nichts zu tun gibt, in Verstimmungen geraten.

 

Das Zusammenleben mit Zwanghaften ist anstrengend: Sie sind sparsam bis hin zum Geiz, Großzügigkeit ist ihnen fremd. Sie können sich von nichts trennen, werfen selbst unnütze Dinge nicht weg. Manchmal entwickeln sie sich zu missmutigen, selbstgerechten und nachtragenden Familientyrannen und geben z. B. ihren Kindern stets das Gefühl, nicht gut genug zu sein.

Problematisch ist auch ihre Unentschlossenheit: Bevor sie einen Kauf tätigen, betreiben sie monatelang Internetrecherchen, auch Entscheidungen im Beruf fallen ihnen außerordentlich schwer.

Beispiel

Herr B. ist ein 55-jähriger Vorarbeiter in einer Spedition. Man hat bei ihm eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung und eine depressive Episode diagnostiziert.

Sein gesundheitliches Problem begann, als ein neuer Chef die Firma übernahm. Herr B. bezeichnet dessen Führungsstil als „schlampig und desinteressiert“.

Er hatte bereits mehrere Auseinandersetzungen mit ihm, u. a. weil sein Chef es den Mitarbeitern durchgehen lasse, wenn diese Verpackungsmaterial einfach so in den Hof werfen. Er habe das Material dann zuletzt persönlich im Rahmen von Überstunden aufgeräumt. Sein Chef habe ihn zunächst gebeten, das zu unterlassen; schließlich habe er auch eine Abmahnung bekommen, weil er angeblich seine Prioritäten falsch setze – und das nach 25 Jahren in der Firma …! Herr B. fällt in der Klinik auf, weil er stets mit Bleistift und Notizblock unterwegs ist: Er möchte sich alles aufschreiben, auch die Inhalte der Gruppentherapie, um nichts Wichtiges zu vergessen. Zu Terminen kommt er immer 10 Minuten früher; kommen andere zu spät, ermahnt er sie eindringlich – einschließlich seinen Therapeuten.

In seiner Freizeit hat er einen rigiden Trainingsplan, nach dem er täglich entweder joggt oder Rad fährt. Er notiert sich die entsprechenden Zeiten, Puls, Erholungszeit usw. Im Frühjahr wird der Plan nach einem peinlich genau festgelegten Ablauf intensiviert, auch sein Gewicht wird dann auf eine bestimmte Zielgröße gebracht.

Für sonstige Hobbys habe er keine Zeit, auch führen seine Frau und seine beiden Töchter schon lange ohne ihn in Urlaub, ihm bringe das nichts …

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Eine der zwanghaften Persönlichkeitsstörung ähnliche Disposition wurde 1961 mit dem Begriff „Typus melancholicus“ beschrieben.74 Mit diesem Begriff ist auf das Grundproblem des zwanghaften Menschen hingewiesen: Er hat ein erhöhtes Depressionsrisiko. Er droht nämlich stets hinter seinen eigenen Genauigkeitsund Perfektionsansprüchen zurückzubleiben („Remanenz“) und bleibt in einer engen, von Gewohnheiten und Sicherheitsverhalten geprägten Welt eingeschlossen („Inkludenz“). Seine Welt ist stark bedroht – und zwar von jeder Form von Veränderung: ein neuer Chef, Kündigung, finanzielle Verluste, eigenwillige Mitarbeiter oder auch nur Familienangehörige mit eigenen Vorstellungen. Schließlich auch durch die existenziellen Bedrohungen eines jeden Menschen: Krankheit, Alter, Tod. Immer droht die Welt des Zwanghaften vor dem Hintergrund seines hohen Kontroll- und Sicherheitsbedürfnisses besonders nachhaltig erschüttert zu werden75.

Die Detailverliebtheit und das Kontrollbedürfnis des Zwanghaften können schließlich in eine sogenannte „Zwangsstörung“ münden, in der die Betroffenen unter Kontroll- oder Waschzwängen (zeitraubende Kontrollen, ob z. B. der Herd aus ist, oder stundenlanges Händewaschen oder Duschen) leiden oder Angst (Zwangsbefürchtungen) davor entwickeln, selbst etwas Schreckliches zu tun (z. B. das eigene Kind mit einem Messer verletzen, obszöne Worte im Gottesdienst rufen, unwillentlich sich aus der Höhe hinabstürzen etc). Eine Zwangsstörung ist jedoch eine gesonderte Diagnosekategorie und findet sich nur in 10 - 30 % der Fälle von zwanghafter Persönlichkeitsstörung.76

Der sorgfältig-gewissenhafte Persönlichkeitsstil

Der sorgfältig-gewissenhafte Persönlichkeitsstil bildet – um es plakativ zu sagen – die Basis für den idealen Beamten: Neben dem Streben nach Ordnung, der Gewissenhaftigkeit und dem Pflichtgefühl, neben dem Fleiß und der Einsatzbereitschaft im Dienst, finden sich ein Harmoniestreben und eine Warmherzigkeit (im Gegensatz zur Persönlichkeitsstörung), ein „Sein für Andere“ (Tellenbach).

chern“ und in ein starres Gleisbett legen. Versuche, das doch zu tun, sind mit hohen (gesundheitlichen) Kosten verbunden. Für die zwanghaften Persönlichkeiten gilt daher das Sprichwort „Wer nie vom Weg abkommt, bleibt auf der Strecke“.

Der sorgfältig-gewissenhafte Mensch vernachlässigt den Beziehungsbereich zwar nicht so sehr wie die entsprechende Persönlichkeitsstörung, aber er kommt in der Regel mit ein/zwei engeren Freunden aus. Er ist sparsam, vermeidet Schulden, ist an den Regeln von Anstand und Moral orientiert. Was er nicht mag, das sind unklare Verhältnisse (sogenannte Ambiguitätsintoleranz).

Er ist ein treuer und loyaler Partner, der aber durchaus auch einmal reizbar und launisch sein kann und darüber eine „sanfte“ Tyrannei ausübt.

3.3.4 Die passiv-aggressive (negativistische) Persönlichkeitsstörung

An der Diagnose der passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörungen offenbart sich noch einmal die ganze Problematik der Persönlichkeitsdiagnostik. Ursprünglich in den USA entwickelt und historisch erstmals für Soldaten vergeben, die den Fronteinsatz verweigerten, ist sie bis heute umstritten und bleibt außerhalb der USA (außer im Forschungskontext) unüblich.

Das Kernsymptom der „Widerständigkeit“ gegenüber sozialen und beruflichen Routineaufgaben scheint eher ein allgemeiner Verhaltensstil zu sein, der bei vielen anderen Persönlichkeitsstörungen – aber eben auch im normalpsychologischen Bereich – auftritt. Die in Europa für klinisch-diagnostische Zwecke gebräuchliche ICD-10 führt diese Kategorie deshalb nicht auf, und auch in der neuesten Ausgabe der DSM wurde sie in den Anhang verschoben, wo sie der weiteren Forschung zugänglich sein soll.77

Die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung ist nach wie vor ein Modell, das unscharfe Grenzen hat und nicht zuletzt auch „politisch“ missbraucht werden kann, weshalb besondere Vorsicht bei der Vergabe geboten ist. Sie sei dennoch der Vollständigkeit halber kurz erläutert:

Es soll sich bei der passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung um Personen handeln, die sich passiv der Erfüllung sozialer und beruflicher Routineaufgaben widersetzen, indem sie nörgeln, verzögern, sich entziehen, krankschreiben lassen, die Mitarbeit trotzig verweigern etc.

Sie üben Kritik an Autoritäten, ja verachten sie, und bringen offen Neid und Groll gegenüber solchen Menschen zum Ausdruck, die mehr Glück haben als sie selbst. Gleichzeitig beklagen sie sich über ihr persönliches Unglück und darüber, von anderen missverstanden oder missachtet zu werden.

Der passiv-aggressiv persönlichkeitsgestörte Mensch ist somit der typische „Bedenkenträger“78, der im Beruf grundsätzlich jede Neuerung anfeindet und jede Entscheidung in Frage stellt.

Die Diagnose darf nur gestellt werden, wenn keine affektive (depressive) Störung vorliegt.

3.4 Exkurs: Die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung

Die „andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“ gehört in den Kontext der Traumafolgestörungen und ist keine Persönlichkeitsstörung im engeren Sinne.79

Sie tritt bei Menschen auf, die längere Zeit totalitärer Kontrolle und Unterwerfung ausgesetzt waren. Dazu gehören Konzentrationslagerhaft, Kriegsgefangenschaft, Verfolgung und Folter, Großkatastrophen, aber auch Opfer kultischreligiöser Sekten. Für viele Autoren gehören dazu auch manche Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch und -misshandIung.80