Große Werke der Literatur XIV

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Aus der Reihe: Große Werke der Literatur #14
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I.

In meinem Vortrag gehe ich von der elementaren hermeneutischen Maxime aus, dass ein Gedicht all das bedeutet, was es bedeuten kann. Sie wurde in Hölderlins Epoche entwickelt. Alles, was es bedeuten kann, heißt nicht alles Mögliche, sondern nur das in diesem Gedicht, bei diesem Autor und in seiner Zeit Mögliche.1

Erschienen ist Andenken zuerst in Leo von Seckendorfs Musenalmanach für das Jahr 1808. Handschriftlich ist nur die Schlussstrophe überliefert. Entstanden ist das Gedicht wohl Ende 1802 oder im Frühjahr 1803. Hölderlin war psychisch krank. Aber wenigstens für den Herbst 1802 bezeugt sein Freund Isaak von Sinclair, er habe bei ihm „nie größere Geistes – u. Seelenkraft als damals“ gesehen.2

Im ersten Überblick werden wir schon gewahr, dass das Gedicht nicht gereimt ist und die Zeilenlängen unregelmäßig sind. Fünf Strophen à 12 Zeilen, die letzte Strophe hat 11 Zeilen. Ein Versehen, oder fand es Hölderlin damit gut? Den Eindruck eines Gedichts erzeugen zuerst die Druckanordnung und die strophische Gruppierung des Textes. Der Rhythmus ist unregelmäßig, es kommt aber immer wieder zu rhythmischen Wiederholungen wie „Hingehet der Steg […] / Tief fällt der Bach“ oder „“Auf seidnen Boden, / Zur Märzenzeit“. Das Gedicht wird rhythmisch beendet mit dem metrischen Muster des Adoneus: „stiften die Dichter“. Dieses rhythmische Muster findet sich auch sonst: „unter den Winden“ z.B., „Schatten der Schlummer“, „bringen zusammen“. Eine rhythmische Spannung wird auch hervorgebracht durch die vielen Enjambements, ein poetisches Mittel, das Zeilenende und Zeilenübergang verbindet. Der Rhythmus ist intensiv, aber bei aller Variabilität und Spannung doch auch verhalten, unangestrengt. Dies liegt auch an der Übersichtlichkeit der syntaktischen Strukturen. Wiederholungen auch in der lautlichen Struktur: Sie wird immer wieder verdichtet durch Assonanzen und Alliterationen, durch eine Art Binnenreime also: „Geh aber nun und grüße / Die schöne Garonne, / Und die Gärten von Bourdeaux“ oder „Hingehet der Steg“ oder „… wächset ein Feigenbaum. / An Feiertagen gehen / Die braunen Frauen daselbst“ oder „einsam, jahrlang“, „stiften die Dichter“. Wiederholung und Variation also, eine solche rhythmische und lautliche Struktur – ist sie von dynamischer Kraft – erfahren wir als ästhetisch gelungen.

Das Gedicht trägt den lapidaren Titel „Andenken“. Andenken bedeutet ein ‚Denken an‘ Vergangenes, eine Erinnerung an, aber im Unterschied zu Erinnerung ein konzentriertes, gesammeltes ‚Denken an‘, eine bewusstere, ‚andächtige‘ Handlung. Nicht einfach ein ‚Nicht-vergessen-haben‘, ‚Sich-wieder-Erinnern‘. Das Andenken kommt dem Denken nahe, aber der Gegenstand dieses Denkens ist vorgegeben, es ist Vergangenes. Das Andenken ist ein Andenken aus einer zeitlichen Distanz. Es gilt meist Verstorbenen. Mit Anzeigen in Zeitungen soll das trauernde Andenken oder Gedenken an eine Person öffentlich bekundet werden.

Semantisch nahe ist Andenken auch dem Gedächtnis. Dieser Ausdruck kommt später im Gedicht vor. Abgeleitet ist er vom Partizip ‚gedacht‘ des Verbums ‚gedenken‘. Die Wörterbücher halten eine semantische Übereinstimmung von Andenken, Erinnern und Gedächtnis fest – wie z.B. in den Abendmahlsworten Lukas 22,19: „das tut zu meinem Gedächtnis“ – aber auch einen Unterschied: Gedächtnis kann auch das Erinnerungsvermögen bedeuten, ein ‚Gefäß‘ für das Erinnern, insofern auch für das Andenken. So nennen wir z.B. das Gedächtnis metaphorisch ein Sieb, reden wir von einem guten oder schlechten Gedächtnis. Der Ausdruck kann auch für eine lebhafte Vorstellung, eine Anschauung stehen. Ein Andenken kann auch ein Mittel des Andenkens bedeuten, dass man z.B. von einer Reise zurückbringt, ein Souvenir also.

Der Titel heißt nicht ‚Ein Andenken‘ oder ‚Das Andenken‘, sondern nur lapidar „Andenken“. Als Leser erwarten wir daher, dass es über ein bestimmtes Andenken hinaus um das Andenken als solches, um die Handlung des Andenkens als solche geht.

Der Nordost wehet,

Der liebste unter den Winden

Mir, weil er feurigen Geist

Und gute Fahrt verheißet den Schiffern.

Das Wehen des Nordostwindes wird festgestellt von einem lyrischen Subjekt, das sich in ein besonderes, emotionales, geradezu persönliches Verhältnis zu diesem Wind setzt. Er ist ihm der liebste. Dieses Subjekt artikuliert sich selbstsicher und gelassen. Wahrnehmbar wird die unmittelbare Instanz einer bestimmten Person. Sie nennt sich nicht mit Namen, sagt auch nicht ‚ich‘, wohl ‚mir‘, exponiert sich aber im ganzen Gedicht in ihrer Subjektivität. In dieser Artikulation folgen auf die Anrede an den Wind die Evokation von Erinnerungen an Bordeaux und die Landschaft um Bordeaux, der Ausdruck eigener Befindlichkeit und der eigenen Situation, Reflexionen, die ihren Ausgang von diesen Erinnerungen und der eigenen Situation nehmen, und am Ende eine selbstbewusste, sentenziöse Aussage.

Warum ist der Nordost diesem Subjekt der liebste unter den Winden? Der Nordost weht nach Südwesten, also von der schwäbischen Heimat des Verfassers aus gesehen, wie man vorausgreifend folgern kann, in die Richtung, in der Bordeaux und das Meer liegen. Dieser Wind verheißt feurigen Geist, dies zuerst, und gute Fahrt den Schiffern. Feurigen Geist, das bedeutet metaphorisch Begeisterung, Wagemut, Leidenschaft. Die alte Metapher konnte übrigens um 1800 vor dem Hintergrund der Lehre vom sublimen, als Materie gedachten ‚Lebensgeist‘ auch noch wörtlich verstanden werden. Der feurige Geist oder das „Feuer vom Himmel“ ist das, was dem Brief an den Freund Böhlendorff vom 4. Dezember 1801 zufolge den abendländischen, nüchternen Deutschen mangelt. Im Rückblick auf seine Zeit in Bordeaux, auf die sich das Gedicht bezieht, schreibt Hölderlin in einem zweiten Brief an Böhlendorff, dass er in diesem südlichen Frankreich „das gewaltige Element, das Feuer des Himmels“ erfahren habe und die „Stille“ und das „Athletische“ der Menschen als Gegenreaktion auf dieses Feuer.3 Daher ist es gerade der Nordostwind, der „feurigen Geist“ verheißt.

Eröffnet wird mit diesen Zeilen eine Welt des Aufbruchs, der Ausfahrt und Fahrt wagemutiger Schiffer, eines Zusammenhangs von Natur, dem Wind, und dem Handeln der Menschen. Der Wind verheißt feurigen Geist, auf ihn sind die Schiffer angewiesen. Auf diese Natur, auf das von ihr angeregte und ermöglichte Handeln der Schiffer bezieht sich das Subjekt, emotional, beobachtend, reflektiert und reflektierend zugleich. Diesen Wind fordert das Subjekt „nun“ auf, zu gehen und die Schiffer zu grüßen.

Stilistisch fällt die Vokalfüllung in „wehet“ und „verheißet“ auf. Später dann: „hingehet“, „hinschauet“, „denket“, „ Hofe“, „wächset“, „beginnet“, „ausgehet“, „nehmet“, „bleibet“. Dies entspricht einem Gebrauch in der Literatursprache Ende des 18. Jahrhunderts, z.B. bei Klopstock oder in den Homer-Übersetzungen von Voß.4 Darin kann man aber auch, wie der Augsburger Brecht am Beispiel von Hölderlins Übersetzung der Antigone, einen schwäbischen Tonfall erkennen.5 Bei Klopstock finden sich auch Formen wie „ein edel Paar“ statt ‚ein edles Paar‘. Die apokopierten Ausdrücke „edel“, „Mühl“, „Erd“, „Spitz“, „Lieb“ sind Formen sowohl der dialektalen Umgangssprache wie der Literatursprache. Der umgangssprachlichen Syntax nähern sich auffällig die Verse „wo nicht die Nacht durchglänzen / Die Feiertage der Stadt, / Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht.“ Eine antikische Aura umgibt in der vierten Strophe die Ausdrücke ‚der geflügelte Krieg‘, also, die Segel metaphorisch als Flügel verstanden, der Seekrieg mit Segelschiffen, und der ‚entlaubte Mast‘, ein Pleonasmus, der das Auf-sich-Bezogene, Asketische dieser Situation auf dem Meer herausstellt. Insofern blenden diese Stilmittel zwei sprachliche Register ineinander, ein ‚hohes‘ mit antiken Konnotationen und ein umgangssprachliches, ‚niedriges‘ Register.

Der Nordost ist der Wind, der von Nordosten nach Südwesten weht. Dieser Südwesten wird nun in den folgenden Zeilen lokalisiert. Es ist Bordeaux und die Landschaft um Bordeaux. Es fällt auf, dass die Erinnerung sich nicht auf das Großstädtische oder den Hafen von Bordeaux richtet, sondern auf eine eher ländliche Szenerie: die Gärten, das scharfe, d.h. steil abfallende Ufer, der Bach, der Ulmwald, die Mühle, der Hof, der seidne Boden, die Stege, die Weinberge. Nach Jean-Pierre Lefebvre beziehen sich diese Angaben auf Lormont, damals ein Dorf am anderen, östlichen Ufer der Garonne.6

Geh aber nun und grüße

Die schöne Garonne

Und die Gärten von Bourdeaux

Dort, wo am scharfen Ufer

Hingehet der Steg und in den Strom

Tief fällt der Bach, darüber aber

Hinschauet ein edel Paar

Von Eichen und Silberpappeln.

Das lyrische Subjekt fordert den Nordost auf „nun“ zu gehen und die „schöne Garonne“ und die „Gärten von Bourdeaux“ zu grüßen. Mit den „Gärten“ sind die Parks, die jardins publiques, in Bordeaux und wohl auch die Weingärten um Bordeaux gemeint. Die Konjunktion „aber“ in „Geh aber nun“ hat keine oder nur eine schwache adversative Bedeutung, markiert vielmehr, wie häufig in der Umgangssprache und bei Hölderlin, den Beginn einer neuen Sprechsequenz.

Ein besonderer Ort wird im Andenken evoziert, ein scharfes Ufer, an dem ein Steg hingeht, ein Bach, der tief in den Strom fällt, darüber ein Paar von Eichen und Silberpappeln. Eichen, Pappeln und Ulmen, sie werden in der nächsten Strophe genannt, werden auch in der Beschreibung einer Reise erwähnt, die der Bruder von Hölderlins Patron in Bordeaux, der hamburgische Domherr Friedrich Johann Lorenz Meyer, 1801 nach Bordeaux machte.7 Das lyrische Subjekt verfügt über eine genaue Ortskenntnis, besagen diese Angaben, es kennt Bordeaux aus eigener Anschauung, aus eigenem Erleben. Es war einmal da. Auf diesen ‚autobiographischen‘ Effekt kommt es auch an. Hier, im Gedicht, wird die Stadt auch mit dem älteren Namen Bourdeaux genannt (abgeleitet von lat. Burdigala), der Ende des 18. Jahrhunderts auch sonst noch verwendet werden konnte. Durch diesen Namen erhält die Stadt eine Aura des Alten, zugleich deutet das Subjekt ein vertieftes Wissen an, eine besondere Kenntnis der Stadt (in den Briefen schreibt Hölderlin ‚Bordeaux‘).

 

Als Leser schließt man, dass dieses Subjekt identisch ist mit dem Verfasser, dass dieser Verfasser Bordeaux aus eigenem Erleben kennt. Man muss zu seinem Verständnis nicht wissen, was sein Verfasser, Friedrich Hölderlin, in Bordeaux alles erlebt hat. Doch kann dieses Wissen natürlich heuristisch genutzt werden, um Bedeutungen im Gedicht zu finden, die man sonst vielleicht übersehen hätte. Also werde ich kurz den biographischen Hintergrund skizzieren. Er ist auch für sich interessant.8

II.

Bordeaux! Die Stadt liegt im Südwesten Frankreichs, an der Garonne, die sich wenige Kilometer flussabwärts mit der Dordogne zur Gironde vereinigt. Bordeaux, das ist die Stadt des Handels, die Stadt Montaignes und Montesquieus und, während der Revolution, die Stadt der Girondisten, so genannt nach der Gironde. Die Girondisten bildeten in der französischen Nationalversammlung eine gemäßigte demokratische Fraktion. Sie verfolgten liberale, föderale, reformistische und kosmopolitische Ziele und favorisierten eine repräsentative Demokratie. Sie setzten sich für die Gleichberechtigung der Frauen und die Aufhebung der Sklaverei ein. Die meisten deutschen Anhänger der französischen Revolution, auch Hölderlin, waren Sympathisanten der Gironde. Die Guillotinierung der Girondisten durch die Jakobiner in Paris war ein Schock für diese deutschen Revolutionssympathisanten.1 In Bordeaux selbst wurden 1793–1794 fast 600 Anhänger der Gironde guillotiniert.

Bordeaux war eine große, bedeutende und reiche Handelsstadt. 1801 wurden 91000 Einwohner gezählt. Gehandelt wurde mit Wein – natürlich dem roten Bordeaux – und Kolonialprodukten aus den westindischen Inseln: mit Kaffee, Zucker, Indigo und nicht zu vergessen mit Sklaven. Ein Großteil des Handels ging in die Hansestädte und nach Preußen, getragen von einer colonie allemande protestantischer Kaufleute, unter ihnen Daniel Christoph Meyer, ein Kaufmann aus Hamburg. Er lebte seit 1770 in Bordeaux. Meyer war der offizielle Repräsentant der Hamburger Handelshäuser in Bordeaux. Mitte der 1790er Jahre hatte er sich an einer zentralen Allee ein prächtiges, klassizistisches, heute noch existierendes Palais errichten lassen.2

Dieser Meyer hatte einen „Hauslehrer und Privatprediger“ (461) für seine Kinder und seine Familie gesucht. Zugesagt wurde für die Stelle ein stattliches Gehalt und Geld für die Reise. Die Stelle war im Herbst 1801 Hölderlin durch einen Bekannten und entfernt Verwandten, den Professor für klassische Sprachen am Gymnasium in Stuttgart, Friedrich Jakob Ströhlin (und wohl auch durch Hölderlins Freund Christian Landauer, einem Stuttgarter Kaufmann) vermittelt worden. Ströhlin war selbst längere Zeit Hofmeister bzw. protestantischer Prediger in Bordeaux gewesen. Hölderlin nahm das Angebot an. Vermutlich auf eigenen Wunsch sollte er vorläufig vom Predigen dispensiert sein.

Die Stadt Bordeaux konnte Hölderlin gegenwärtig sein durch die Nachrichten über das Schicksal der Girondisten, aber auch durch Informationen, die er in Frankfurt, wo er als Hauslehrer im Hause des Bankiers Gontard lebte, gewinnen konnte. Die Ehefrau seines Arbeitgebers, Susette Gontard, die Frau, die er liebte und die er als Verkörperung antiker Schönheit verklärte, entstammte einer Hamburger hugenottischen Kaufmannsfamilie mit geschäftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen zu Bordeaux. Ihr Mann gehörte ebenfalls der französisch-reformierten Kirche an. Auch andere bedeutende Frankfurter Bankiersfamilien, wie die Familien Bethmann oder Metzler, hatten Beziehungen zu Bordeaux.

Nicht zuletzt konnte ihm Bordeaux präsent sein durch Karl Friedrich Reinhard, einen Studenten des Tübinger Stifts wie wenige Jahre später er selbst. Befreundet war Reinhard mit Carl Philipp Conz und den Brüdern Gotthold Friedrich und Karl Friedrich Stäudlin, die später Lehrer und Förderer Hölderlins wurden. 1787 nahm Reinhard eine Hauslehrerstelle in Bordeaux an, wo er sich bald der girondistischen Société des Amis de la Constitution anschloss. Er ging dann nach Paris und engagierte sich publizistisch für die Girondisten. 1791 veröffentlichte er in Schillers Zeitschrift Thalia einen Artikel unter dem Titel Übersicht einiger vorbereitender Ursachen der französischen Staatsveränderung von einem in Bordeaux sich aufhaltenden Deutschen. Später machte er dann auf verschiedenen Stationen in ganz Europa diplomatische Karriere.3 Für diesen Reinhard und seinen Weg in der Revolution hatte sich Hölderlin sicher interessiert.

Das deutsche Publikum war über Bordeaux auch informiert durch Reisebeschreibungen, z.B. von Sophie von La Roches Journal einer Reise durch Frankreich (1787). Sie war die Verfasserin des von den zeitgenössischen Lesern gefeierten Romans Geschichte des Fräuleins von Sternheim und Großmutter von Clemens und Bettine Brentano. Sie schreibt auch ‚Bourdeaux‘. Während ihres Aufenthalts in Bordeaux fungierte Ströhlin als ihr Reiseführer.

Hölderlin hatte in dieser Zeit keine berufliche Perspektive. Im Frühjahr 1801 war seine Stelle als Hauslehrer bei einer Kaufmannsfamilie in Hauptwil in der Schweiz nach drei Monaten gekündigt worden, vermutlich wegen seiner psychischen Labilität. Als privatisierender Schriftsteller, das hatte er eingesehen, konnte er kein Auskommen finden. Wegen der schwierigen Beziehung zu seiner Mutter beanspruchte er auch sein väterliches Erbe nicht. In seine Heimatstadt Nürtingen zurückgekehrt, fasste er den Plan, an der Universität in Jena Vorlesungen über griechische Literatur zu halten. Er wandte sich an Schiller und Immanuel Niethammer, Landsleute und lange hilfreiche Gönner, beide Professoren in Jena – Schiller, der damals schon in Weimar lebte, nominell noch Professor für Geschichte, Niethammer für Theologie. Beide antworteten nicht mehr. Der Verleger Cotta war bereit, seine Gedichte zu Ostern 1802 herauszugeben, wozu es aber aus ungeklärten Gründen nicht kam.

Nach den Annahme des Angebots schrieb Hölderlin am 4. Dezember 1801 an seinen Bruder Karl: „So viel darf ich gestehen, dass ich in meinem Leben nie so fest gewurzelt war ans Vaterland […] Aber ich fühl’ es, mir ists besser, draußen zu sein“ (424). Und an den Freund Böhlendorff:

Ich bin jetzt voll Abschieds […] es hat mich bittre Tränen gekostet, da ich mich entschloss, mein Vaterland [wohl nicht Schwaben, sondern Deutschland gemeint] noch jetzt zu verlassen, vielleicht auf immer. Denn was hab ich Lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen. Deutsch will und muss ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens-und die Nahrungsnot nach Otaheiti triebe. (427f.)

Um den 10. Dezember 1801 brach Hölderlin auf, am 15. kam er in Straßburg an, dann führte ihn die Reise nach Lyon. In Lyon gibt er sich im polizeilichen Passkontrollbuch als homme de lettres an. Dann ging die Reise weiter durch das verschneite Zentralmassiv, vermutlich über Périgueux und Libourne nach Bordeaux. Diese Reise, insgesamt mehr als 600 km, war mit der Postkutsche und zu Fuß zurückzulegen. In Bordeaux kam er am 28. Januar 1802 an. Der Mutter berichtet er von den Gefahren der Reise und schreibt: „Ich bin nun durch und durch gehärtet und geweiht, wie Ihr es wollt. Ich denke, ich will so bleiben in der Hauptsache. Nichts fürchten und sich viel gefallen lassen“ (430). Die Formulierung lässt daran zweifeln, ob diese Aussagen tatsächlich zutreffen. Über den Empfang im Hause Meyer schreibt er: „Der Anfang meiner Bekanntschaft, meiner Bestimmung ist gemacht. Er könnte nicht besser sein. ‚Sie werden glücklich sein‘, sagte beim Empfange mein Konsul. Ich glaube, er hat Recht.“ (430). Mehr erfahren wir über die Familie des Konsuls nicht. Hölderlin wohnte nicht im Hause des Konsuls, sondern in einer Straße in unmittelbarer Nähe der Hafenkais.4

Kein weiterer Brief zwischen Ende Januar und Karfreitag, dem 16. April. An diesem Tag schreibt er an die Mutter und bezieht sich auf den Tod der Großmutter, die im Februar gestorben war. Er spricht darin von der Notwendigkeit, sich nicht zu sehr zu „bewegen“, und davon, sein „geprüftes Gemüt“ zu „bewahren“ und zu „halten“ und nennt die Familie Meyer „wahrhaft vortreffliche[n] Menschen“ (431). Aber auch hier keine genauere Information über die Familie und über seine Lage in Bordeaux.5

Am 10. Mai wurde ihm ein laisser passer von Bordeaux nach Straßburg ausgestellt mit der Erlaubnis, sich frei zu bewegen. Mitte Mai reiste er von Bordeaux ab. Er nahm vermutlich die Poststraße über Angoulême und Tours nach Paris.

Da man über Hölderlins Aufenthalt in Bordeaux so wenig wusste (und weiß), und die Figur des wahnsinnigen Dichters faszinierte, bildeten sich im 19. Jahrhundert schnell Legenden. So veröffentlichte der Dichter, Journalist, politische Emigrant und Hölderlin-Verehrer Moritz Hartmann 1861 unter dem Titel Eine Vermutung eine Art Bericht, wonach 1802 in einem Schloss bei Blois ein Fremder aufgetaucht sei – offensichtlich psychisch krank, mit heruntergekommener Kleidung, aber, wie die Schlossbewohner ihn wahrnehmen, edel und „von Natur aus groß und tief“. Zum Abendessen eingeladen steuert der Fremde sofort auf das Sofa zu, legt sich hin und schläft sogleich ein: „Wir standen da und sahen einander erstaunt an. ‚Er ist verrückt,‘ lispelte meine Tante, aber mein Vater schüttelte den Kopf und sagte: ‚Es ist ein Original; er gefällt mir; er ist ein Deutscher.‘“

In Paris besichtigte Hölderlin wohl das im November 1801 eröffnete Musée des Antiques im Louvre, gefüllt mit Statuen, die Napoleon überall, vor allem in Italien, hatte erbeuten lassen. Nach der Rückkehr schreibt er im Brief an Böhlendorff:

der Anblick der Antiquen hat mir einen Eindruck gegeben, der mir nicht allein die Griechen verständlicher macht, sondern überhaupt das Höchste der Kunst, die auch in der höchsten Bewegung […] dennoch alles stehend und für sich selbst erhält, so dass die Sicherheit in diesem Sinne die höchste Art des Zeichens ist. (432f.)

Dann reiste er über Straßburg nach Stuttgart zu Freunden, wo er Mitte Juni, Anfang Juli 1802 ankam, „leichenbleich, abgemagert, von hohlem wildem Auge, langem Haar und Bart, und gekleidet wie ein Bettler“, wie später berichtet wird.6 Der Ausreisevermerk in Straßburg trägt als Datum den 7. Juni 1802.

Der Grund für die Abreise aus Bordeaux ist dunkel. Erwogen wird, dass er eine Nachricht erhalten hat, Susette sei todkrank, vielleicht sogar von Susette selbst.7 Sie hatte sich, schon erkrankt, an den Röteln ihrer Kinder angesteckt und starb am 22. Juni. Danach wäre Hölderlin von Straßburg nach Frankfurt zur todkranken Susette gereist, von dort nach Stuttgart. Für eine solche Nachricht von Susette oder von anderen Personen aus ihrem Umkreis wären Übermittlungswege über die geschäftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen von Susettes Familie oder über die Frankfurter Handels- und Bankhäuser mit Geschäftsbeziehungen zu Bordeaux immerhin denkbar.8

Doch überzeugen diese Vermutungen nicht.9 Wenn er zur todkranken Susette gerufen wurde, warum dann der Aufenthalt in Paris? Warum hatte er nicht die schnellste Verbindung mit der Diligence gewählt? Er hatte genügend Reisegeld. Erwägen muss man auch seine psychische Labilität als mögliche Ursache seiner Abreise. Man muss davon ausgehen, dass Hölderlin erst Anfang Juli 1802 vom Tod der Geliebten durch einen Brief seines Freundes Isaak von Sinclair erfahren hatte.

Was hatte Hölderlin von dieser Reise nach Frankreich mitgebracht? Es gibt nicht sehr viele Zeugnisse von ihm darüber, aber eine Antwort kann man doch geben. Frankreich war ihm vorher das Land Rousseaus, der Revolution und der Menschenrechte gewesen, jetzt war es ihm auch das Land der Sinnenlust und der Nähe zu den Griechen. Zusammen mit dem antiken Griechenland und Deutschland bildet Frankreich für Hölderlin die entscheidende politische und kulturelle Konstellation. Eine „liebenswürdige Fremde“ nennt er das Land im Gedicht Das Nächste Beste, das ebenfalls den Aufenthalt in Bordeaux evoziert10. Er erinnert sich an den intensiven Geruch der Zitronen und des Öls, „wo Dankbarkeit und Natürlichkeit mir die Gascognischen Lande“ gegeben haben.11 In Das nächste Beste steht auch eine Zeile, aus der man das Bewusstsein herauslesen kann, dass er diesem Aufenthalt eine neue poetische Sprache verdankt: „Ursprünglich aus Korn, nun aber zu gestehen, befestigter Gesang von Blumen als/Neue Bildung aus der Stadt.“ Der „Gesang von Blumen“ kann sich metaphorisch auf Blumengestecke, aber auch auf den sublimierenden „Gesang“ der Dichtung beziehen. Zu dieser neuen poetischen Sprache gehört auch die Integration vulgärfranzösischer Wendungen, so wie er sie von den Matrosen in Bordeaux gehört haben konnte, in anderen Gedichten, wie z.B. in Kolomb. Und dieses Südwestfrankreich hatte ihn in seiner Überzeugung bestärkt, dass die Formklarheit und Formfestigkeit der antiken, griechischen Kunstwerke eine Gegenreaktion auf die angeborene, orientalische Wildheit, ja Todeslust der Griechen war. Er war ja, wie die anderen deutschen Griechenlandverehrer auch, nie in Griechenland gewesen. Hier fühlte er sich Griechenland geographisch, klimatisch und kulturell nahe. An Böhlendorff schreibt er:

 

„Das gewaltige Element, das Feuer des Himmels und die Stille der Menschen, ihr Leben in der Natur, und ihre Eingeschränktheit und Zufriedenheit, hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nachspricht, kann ich wohl sagen, dass mich Apollo geschlagen.“ Und: „Das Athletische der südlichen Menschen, in den Ruinen des antiquen Geistes, machte mich mit dem eigentlichen Wesen der Griechen bekannter; ich lernte ihre Natur und ihre Weisheit kennen, ihren Körper, die Art, wie sie in ihrem Klima wuchsen, und die Regel, womit sie den übermütigen Genius vor des Elements Gewalt behüteten“ (432).12

Diese Briefstelle und die vorher schon zitierte von den antiken Statuen in Paris legen die Frage nahe, ob das antike Griechenland, das Verhältnis von Antike und Moderne, auch für Andenken von Bedeutung ist.

Die Reise nach Bordeaux und zurück war strapaziös und, wegen der vagabundierenden Räuberbanden, auch lebensgefährlich. Was immer der Grund für die Abreise aus Bordeaux war, sie widersprach den Hoffnungen und Erwartungen, mit denen Hölderlin nach Bordeaux aufgebrochen war. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung ist es erstaunlich, in welcher Souveränität und Gelöstheit Andenken verfasst ist.