Große Briefe der Freundschaft

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Ford an Swift

London, 8. Juli 1736

Du kannst Dir nicht ausmalen, wie sehr es mich bewegte, einen Brief von Deiner Hand zu sehen, nach zweieinhalb Jahren des Schweigens. Die Freude, die es mir bereitet, dass ich noch nicht ganz vergessen bin, wurde schnell getrübt von Deinem Bericht über Deinen schlechten Gesundheitszustand. Ich fürchte, dass Du zu viel nur für Dich alleine lebst; und ein solcher Rückzug hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf all jene, die eigentlich für vergnügte Gesellschaft gemacht sind. Ich war die letzten dreißig Jahre mit so vielen fröhlichen Gefährten gesegnet, weil ich mich einfach neuen anschließe, wenn die alten heiraten und sich aus dem Staub machen. […] Welche Abneigung die Männer an der Macht auch immer gegen Dich hegen mögen – alle anderen würden sich um Deine Gesellschaft bemühen und sich dabei von Dir die Bedingungen diktieren lassen. Und was die Hochgestellten angeht, ich bin mir sicher, dass Du Dich, so wie die Dinge zurzeit stehen, schämen würdest, stündest Du auf gutem Fuße mit ihnen. Wenn sie Dich hassen, dann nur, weil sie Dich fürchten, weil sie um Deine Fähigkeiten besser Bescheid wissen, als Du das zu tun scheinst: Selbst in Deiner melancholischen Stimmung schreibst Du mit viel zu viel Feuer, als dass Dein Geist wirklich niedergedrückt sein könnte. Dein Schwindel und die Taubheit bereiten mir die allergrößten Sorgen, obwohl ich der Überzeugung bin, dass sie Dich hier seltener befallen würden und besser behandelt werden könnten. Auch müsstest Du für niemanden ein Abendessen springen lassen, weil Du jeden Tag zwei oder drei Einladungen erhalten würdest. Ich werde zu diesem Thema nichts weiter sagen, denn ich weiß, dass Du nicht zu überzeugen bist.

[…] Ich habe keinen Grund, an Lord Masham zu zweifeln. Seinen Sohn kenne ich nicht, nicht einmal vom Sehen. Unser Freund Lewis wird unentwegt von seiner kranken Frau in Anspruch genommen, die seit einigen Jahren im Sterben liegt, aber nicht stirbt. Wenn er mich nicht besucht, was er höchstens zweimal im Jahr für eine Viertelstunde tut, sehe ich nichts von ihm. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen Gesundheit und Glück und bin für immer und wahrhaft Dein etc.

Friedrich der Große, der »Philosoph von Sanssouci«, an Voltaire

Friedrich der II., auch »der Große« oder liebevoll »der Alte Fritz« genannt, regierte Preußen von 1740 bis zu seinem Tod 1786. Der 1712 geborene Sohn des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. galt als größter Feldherr seiner Zeit, aber auch als aufgeklärter Herrscher, der die Folter abschaffte, allgemeine Glaubensfreiheit proklamierte und zahlreiche Reformen durchführte. Friedrich II. war zwar ein absolutistischer Herrscher und durchaus ein Machtmensch, sah sein Königtum jedoch als Pflicht und, wie er in den Briefen an seinen bewunderten Freund Voltaire mehrfach schreibt, als einen »Beruf«, der ihm übertragen worden war.

Friedrich suchte bereits 1736 als Kronprinz Kontakt zu dem französischen Philosophen, in dem viele schon damals die Verkörperung der Aufklärung sahen und der wegen seiner subversiven Schriften weltlichen wie kirchlichen Autoritäten oft ein Dorn im Auge war. Der 18 Jahre ältere Voltaire (1694–1778) wurde schnell zum Mentor des philosophie- und kunstbegeisterten Prinzen, der seine Liebe für das Geistige und Schöne auch als König nie verlor. Friedrich II. betätigte sich sogar selbst als politischer Schriftsteller, Musiker und als »Philosoph von Sanssouci«. Voltaire bewunderte den jungen König als Verkörperung aufklärerischer Ideale, vor allem des vernunftgelenkten Handelns, war aber mit seinen kriegerischen Akten durchaus nicht immer einverstanden.

Die Beziehung zwischen König und Philosoph verlief nicht konfliktfrei. Dass Voltaire 1750 als Kammerherr in die Dienste seines hoheitlichen Freundes trat – für beide eigentlich ein außerordentlicher Prestigegewinn – führte drei Jahre später fast zum Bruch zwischen Friedrich II. und Voltaire. Es war eben doch etwas anderes, die freiheitlichen Schriften des Aufklärers von Weitem zu bewundern, als den scharfzüngigen Wahrheitssager am eigenen Hof zu haben; so meinte der preußische König einmal zu seinem rebellischen Kammerherrn, dass seine Werke zwar die allerhöchste Bewunderung verdienten, doch: »Ihr Verhalten verdient, dass man Sie in Ketten legt!«

Voltaire reichte schließlich seinen Abschied ein und wurde sogar kurzzeitig in Frankfurt verhaftet. Doch noch im gleichen Jahr nahmen der Philosoph und der König ihren Briefwechsel wieder auf. Es scheint, dass die beiden schlicht übereinkamen, in gewissen Dingen nicht einer Meinung zu sein – »they agreed to disagree«, wie es die Engländer ausdrücken würden.

Die Brieffreundschaft zwischen Friedrich II. und dem »Patriarchen von Ferney« (auch Voltaire konnte sich männlich-herrschaftlich gebärden) hielt insgesamt über vierzig Jahre an. Als der Aufklärer 1778 starb, hielt der »Philosoph von Sanssouci« am Grabe seines ungleichen Freundes eine fulminante Trauerrede.

Berlin, 8. August 1736

Habe ich auch nicht das Glück, Sie persönlich zu kennen, so sind Sie mir doch durch Ihre Werke bekannt genug. Das sind Geistesschätze, wenn der Ausdruck erlaubt ist, Kunstwerke, die mit so viel Geschmack und Feinheit gebildet sind, dass ihre Schönheiten sich bei jeder Lektüre in neuem Lichte zeigen. Ich glaube in ihnen den Charakter ihres geistvollen Verfassers zu erkennen, der unserem Jahrhundert und dem menschlichen Geiste zur Ehre gereicht. Die großen Männer der neueren Zeit werden Ihnen einst Dank wissen, und nur Ihnen allein, falls der Streit wieder ausbricht, ob den Neueren oder den Alten der Vorzug gebührt; denn Sie lassen die Waagschale zugunsten der Neueren sinken.

Mit den Eigenschaften eines hervorragenden Dichters verbinden Sie eine Fülle von Kenntnissen, die freilich mit der Poesie in gewisser Weise verwandt sind, ihr aber erst durch Ihre Feder zugehören. Nie hat ein Dichter metaphysische Gedanken in Verse gebracht: Solche Ehre war Ihnen zuerst vorbehalten. Diese philosophische Tendenz Ihrer Schriften veranlasst mich, Ihnen eine durch mich angeregte Übersetzung der Anklage und Rechtfertigung von Wolff zu übersenden, des berühmtesten modernen Philosophen, der Licht in die dunkelsten Gebiete der Metaphysik getragen und diese schwierigen Fragen ebenso erhaben wie klar und bestimmt erörtert hat, dafür aber grausamerweise der Irreligiosität und des Atheismus bezichtigt worden ist. Das ist das Schicksal großer Männer: Stets setzt ihr überlegener Genius sie den vergifteten Pfeilen der Verleumdung und des Neides aus.

Ich lasse jetzt die Abhandlung desselben Verfassers »Von Gott, von der Seele und der Welt« übersetzen und werde sie Ihnen zusenden, sobald sie vollendet ist. Ich bin gewiss, Sie werden die Beweiskraft aller seiner Schlüsse schlagend finden; denn sie folgen mathematisch einer aus dem anderen und sind ineinander geschmiedet wie Kettenglieder.

Bei der Nachsicht und Unterstützung, die Sie allen gewähren, die sich den Künsten und Wissenschaften widmen, hoffe ich, Sie werden mich nicht aus der Zahl derer streichen, die Sie Ihrer Belehrung würdigen. Denn so nenne ich Ihre Korrespondenz, die jedem denkenden Wesen nur nützlich sein kann. Ja, ohne das Verdienst anderer zu schmälern, wage ich zu behaupten, dass es auf der ganzen Welt ohne Ausnahme keinen gibt, dessen Lehrer Sie nicht sein könnten.

Fern sei es mir, Sie in einer Weise zu beweihräuchern, die Ihrer unwürdig wäre; dennoch kann ich Ihnen versichern, dass ich in Ihren Werken zahllose Schönheiten finde. Ihre »Henriade« entzückt mich und triumphiert glücklich über die wenig einsichtsvolle Kritik, der man sie unterzogen hat. Das Trauerspiel »Cäsar« zeigt uns durchgeführte Charaktere und ist von großen, gewaltigen Gefühlen erfüllt. Ihr Brutus kann nur Römer oder Engländer sein. […]

Das erweckt in mir den sehnlichen Wunsch, alle Ihre Werke zu besitzen. Ich bitte Sie, mir diese zu schicken und mir keines zu versagen. Sollte sich unter den handschriftlichen eins befinden, das Sie aus notgedrungener Vorsicht der Öffentlichkeit vorenthalten, so verspreche ich Ihnen, tiefstes Geheimnis zu wahren und ihm nur insgeheim Beifall zu zollen. Leider weiß ich, dass ein Fürstenwort heutzutage wenig gilt; doch hoffe ich, Sie werden sich nicht von den allgemeinen Vorurteilen bestimmen lassen, sondern sich zu meinen Gunsten zu einer Ausnahme entschließen.

Ihre Werke würden mich reicher machen als alle vergänglichen und verächtlichen Glücksgüter dieser Welt, die ein und derselbe Zufall uns schenkt und wieder nimmt. Mithilfe des Gedächtnisses kann man sich jene, Ihre Werke, aneignen und sie so lange besitzen wie dieses. Mein Gedächtnis ist schlecht; darum schwanke ich lange, bevor ich mich entscheide, was darin Aufnahme finden soll.

Stünde die Dichtkunst noch auf ihrer alten Stufe, d. h., könnten die Dichter nur langweilige Idyllen trillern, Eklogen nach dem alten Schema und abgeleierte Stanzen verfertigen, oder wüssten sie ihre Leier nur auf den elegischen Ton zu stimmen – ich würde ihr für immer entsagen. Allein, Sie veredeln die Dichtkunst, Sie zeigen uns neue Wege, die ein Cotin und Rousseau nicht beschritten haben.

Ihre Gedichte besitzen so große Vorzüge, dass alle höher stehenden Geister sich gern in sie vertiefen. Sie sind ein Lehrbuch der Moral, das uns denken und handeln lehrt. Sie schmücken die Tugend mit leuchtenden Farben. Der Begriff des wahren Ruhmes wird darin formuliert. Sie gewinnen den Wissenschaften so feine und zarte Reize ab, dass man nach der Lektüre Ihrer Werke vom Ehrgeiz erfasst wird, in Ihre Spuren zu treten. Wie oft habe ich mich nicht dieser trügerischen Lockung hingegeben und mir dann gesagt: Unseliger, lass ab, diese Bürde übersteigt deine Kräfte! Man kann Voltaire nicht nachahmen, wenn man nicht selber Voltaire ist.

 

In solchen Augenblicken habe ich es empfunden, dass die Vorzüge der Geburt, der leere Schall von Größe, mit dem die Eitelkeit uns einlullt, nur wenig oder besser gesagt gar nichts vorstellen. Das sind Maßstäbe, die unser inneres Wesen nicht berühren, lediglich äußerer Schmuck. Wie sehr sind ihnen die Geistesgaben vorzuziehen! Wie viel ist man denen schuldig, die die Natur schon bei ihrer Geburt ausgezeichnet hat! Gefällt sie sich doch, Wesen zu schaffen und mit allen nötigen Gaben auszustatten, um Fortschritte in den Künsten und Wissenschaften zu machen; ihre durchwachten Nächte zu belohnen, ist dann Sache der Fürsten. Ach, erwählte der Ruhm doch mich zum Werkzeuge, um Ihre Erfolge zu krönen! Nur das eine würde ich fürchten, dass dies lorbeerarme Land weniger Lorbeeren hervorbrächte, als Ihre Werke verdienen, und dass man statt seiner zum Eppich greifen müsste.

Begünstigt aber das Schicksal mich nicht so sehr, dass ich Sie mein nennen kann, so darf ich wenigstens hoffen, Sie, den ich schon so lange von ferne bewundere, eines Tages zu sehen, um Sie persönlich all der Achtung und Hochschätzung zu versichern, die denen gebührt, die, der Leuchte der Wahrheit folgend, ihre Arbeiten dem allgemeinen Wohle widmen.

Charlottenburg, 27. Juni 1740

Ihre Briefe, lieber Voltaire, bereiten mir stets unendliche Freude, nicht durch die Lobreden, die Sie mir halten, sondern durch Ihre belehrende Prosa und die reizenden Verse. Sie wollen, dass ich von mir selbst rede wie der ewige Abbé Chaulieu. Was tut’s? Ich muss Sie zufriedenstellen.

[…]

Ich traf Freitagabend in Potsdam ein, wo ich den verstorbenen König in sehr traurigem Zustande fand. Ich dachte mir gleich, dass sein Ende bevorstünde. Er erwies mir tausend Freundlichkeiten und sprach mit mir mehr als eine volle Stunde über die inneren und die äußeren Staatsgeschäfte, und zwar mit aller erdenklichen Geistesklarheit und Vernunft. Das Gleiche tat er am Sonnabend, Sonntag und Montag. Er schien sehr ruhig und gefasst und ertrug seine unendlichen Leiden mit größter Standhaftigkeit. Am Dienstag früh fünf Uhr legte er die Regierung in meine Hände, nahm zärtlich Abschied von meinen Brüdern, von allen höheren Offizieren und von mir. Die Königin, meine Brüder und ich waren in seinen letzten Stunden um ihn; er bewies in seinen Qualen den Stoizismus Catos. Er starb mit der Neugier eines Physikers über das, was im Augenblick seines Todes in ihm vorging, und mit dem Heroismus eines großen Mannes und hinterließ uns allen den aufrichtigen Schmerz über seinen Verlust und das nachahmenswürdige Beispiel seines tapferen Sterbens.

Die Fülle von Arbeit, die mir seit seinem Tode zugefallen ist, hat mir zu meinem berechtigten Schmerze kaum Zeit gelassen. Ich glaubte, dass ich seitdem ganz dem Vaterland gehörte. In diesem Sinne habe ich nach besten Kräften gearbeitet und schleunigst Maßnahmen zum allgemeinen Wohle getroffen, soweit ich es vermochte.

Ich habe gleich damit begonnen, die Wehrkraft des Staates um sechzehn Bataillone, fünf Schwadronen Husaren und eine Schwadron Gardedukorps zu vermehren. Ich habe die Grundlagen unserer neuen Akademie gelegt. Wolff, Maupertuis, Vaucanson und Algarotti habe ich gewonnen. […] Die meiste Mühe macht mir die Errichtung von Kornmagazinen in allen Provinzen, die so groß sind, dass das ganze Land für anderthalb Jahre Nahrung vorrätig hat.

Doch genug von mir! Mich will’s verdrießen!

Teurer Freund, erfahre, welche Lust

Mir schon jetzt erfüllt die Brust,

Bald Dich an mein Herz zu schließen!

Remusberg, 26. Oktober 1740

Das allerunvermutetste Ereignis hindert mich diesmal, lieber Voltaire, meine Seele wie gewöhnlich der Ihren zu erschließen und nach Herzenslust zu plaudern. Der Kaiser ist tot!

Der Fürst, den Natur für den Thron nicht erschuf,

Ward König, dann Kaiser; Eugen hat Ruhm ihm erworben.

Doch ist er, zum Unglück für seinen Ruf,

Als Bankrottierer gestorben.

Dieser Todesfall wirft alle meine friedlichen Pläne über den Haufen. Ich glaube, im Monat Juni wird es sich eher um Schießpulver, Soldaten, Laufgräben handeln als um Schauspielerinnen, Ballette und Theater. Daher sehe ich mich gezwungen, den Handel, den wir vorhatten, zu vertagen. […] Dies ist der Augenblick der völligen Umwandlung des alten politischen Systems; der Stein hat sich gelöst, den Nebukadnezar auf das Bild aus vier Metallen rollen sah, der sie alle vier zerstörte.

Tausend Dank für die Vollendung des Druckes vom »Machiavell«! Arbeiten kann ich jetzt nicht daran; ich bin mit Geschäften überlastet. Meinem Fieber gebe ich nun den Laufpass; denn ich habe meine Maschine nötig. Sie muss jetzt alles hergeben, was nur möglich ist.

Hauptquartier Herrendorf in Schlesien, 23. Dezember 1740

Ich erhielt zwei Briefe von Ihnen, lieber Voltaire, konnte aber nicht eher antworten. Wie der König im Schachspiel Karls XII. bin ich stets auf den Beinen. Seit vierzehn Tagen sind wir immerfort unterwegs, und bei was für Wetter!

Ich bin zu abgespannt, um Ihre reizenden Verse zu beantworten, und zu durchgefroren, um ihren Reiz voll auszukosten, aber das kommt wieder. Verlangen Sie keine Gedichte von einem, der gegenwärtig wie ein Fuhrmann auf der Landstraße liegt und manchmal bis über die Ohren im Schmutz steckt.

Wollen Sie wissen, wie mein Leben sich abspielt? Wir marschieren von 7 Uhr früh bis 4 Uhr nachmittags. Dann speise ich, arbeite, empfange langweilige Besuche, und schließlich kommt ein Wust von albernen Bagatellen. Da gilt es, Querköpfe zurechtzusetzen, Heißsporne zu zügeln, Faule anzutreiben, Ungeduldige im Zaum zu halten, Raubgierige in die Schranken des Rechts zu weisen, Schwätzer anzuhören und Stumme zu unterhalten. Kurz, man muss mit den Durstenden trinken, mit den Hungernden essen, mit den Juden zum Juden und mit den Heiden zum Heiden werden.

Das ist meine Beschäftigung! Gern würde ich sie mit einer anderen vertauschen, wenn mir das Phantom, Ruhm genannt, nicht allzu oft erschiene. Wahrhaftig, es ist großer Wahnsinn, aber man kommt schwer davon los, ist man einmal davon ergriffen.

Potsdam, 7. August 1766

Mein Neffe schrieb mir, er habe sich vorgenommen, auf der Durchreise den Philosophen von Ferney zu besuchen. Ich beneide ihn um den Genuss, Sie zu hören. Mein Name war in Ihren Gesprächen überflüssig. Sie hatten soviel Gesprächsstoff, dass Sie es nicht nötig hatten, sich über den Philosophen von Sanssouci zu unterhalten.

Sie schreiben mir von einer Philosophenkolonie, die sich in Kleve niederlassen will. Ich habe nichts dagegen einzuwenden und kann ihnen gewähren, was sie wünschen, außer dem Holze, das der Aufenthalt Ihrer Landsleute in den Wäldern ganz zerstört hat. Ich stelle jedoch die Bedingung, dass sie diejenigen schonen, die geschont werden müssen, und in ihren Druckschriften den Anstand wahren.

[…] Darf man Vorurteile, die die Zeit in der Anschauung der Völker geheiligt hat, grob verletzen? Und darf man, wenn man Gedankenfreiheit genießen will, den bestehenden Glauben beschimpfen? Wer sich ruhig verhält, wird selten verfolgt. Denken Sie an das Wort von Fontanelle: »Hätte ich die Hand voller Wahrheiten, würde ich es mir mehr als einmal überlegen, ehe ich sie öffnete.«

Die Masse verdient nicht, aufgeklärt zu werden, und wenn Ihre Gerichte streng gegen den unglücklichen jungen Mann verfahren sind, der das Zeichen zerschlagen hat, das die Schriften als Symbol ihres Heils verehren, so machen Sie die Gesetze des Königreichs dafür verantwortlich. Jede Obrigkeit hat geschworen, nach diesen Gesetzen zu richten. Sie kann ihr Urteil nur aufgrund ihrer Vorschrift fällen, und es gibt für den Angeklagten keine Rettung als den Nachweis, dass das Gesetz auf keinen Fall seine Anwendung findet.

Wenn Sie mich fragen, ob ich ein ebenso hartes Urteil gesprochen hätte, so antworte ich mit Nein. Ich hätte die Strafe, der Stimme der Natur folgend, dem Vergehen angepasst. Hast du eine Statue zerschlagen, so verurteile ich dich, sie wiederherzustellen. Hast du vor dem Pfarrer […] den Hut nicht abgenommen, so verurteile ich dich, vierzehn Tage hintereinander ohne Hut in der Kirche zu erscheinen. Hast du Werke von Voltaire gelesen, so wird es Zeit, junger Mann, dass du dir ein richtiges Urteil bildest. Zu diesem Zwecke wird dir aufgegeben, die Summa des heiligen Thomas und die Anleitung zur Brevierlektüre des Herrn Pfarrers zu studieren. Der Wundbeutel wäre so vielleicht härter bestraft als durch den Richter; denn die Langeweile ist ein Jahrhundert, der Tod ein Augenblick.

Möge der Himmel oder das Schicksal diesen Tod von Ihrem Haupte fernhalten, und mögen Sie dieses Jahrhundert, das Sie berühmt machen, sanft und friedlich aufklären. Wenn Sie nach Kleve kommen, werde ich das Vergnügen haben, Sie wiederzusehen und Ihnen die Bewunderung auszusprechen, die Ihr Genie mir stets eingeflößt hat. Im Übrigen bitte ich Gott, Sie in seinen heiligen Schutz zu nehmen.

Sanssouci, 24. Oktober 1766

Wenn ich auch nicht die Kunst verstehe, Sie wieder jung zu machen, wünsche ich Ihnen doch ein langes Leben, als Zierde und Lehrer unseres Jahrhunderts. Was wäre die schöne Literatur ohne Sie? Sie haben keine Nachfolger; leben Sie so lange als möglich.

[…]

Ich beglückwünsche Sie zu der guten Meinung, die Sie von der Menschheit haben. Ich kenne dieses zweibeinige, ungefiederte Geschlecht durch meine berufliche Tätigkeit sehr genau und sage Ihnen voraus, dass weder Sie noch alle Philosophen der Welt es von dem Aberglauben, an dem es hängt, heilen werden. Die Natur hat ihm diese Zutat bei seiner Erschaffung beigemischt. Furcht, Schwäche, Leichtgläubigkeit, vorschnelles Urteil ziehen die Menschen unwiderstehlich zum Aberglauben hin.

Nur wenige philosophische Geister sind stark genug, die tiefen Wurzeln der ihnen durch die Erziehung eingepflanzten Vorurteile zu zerstören. Manche, deren gesunder Verstand, über den Aberglauben aufgeklärt, sich gegen den Unsinn aufbäumt, werden angesichts des Todes von Neuem abergläubisch und sterben als Kapuziner. Bei anderen hängt die Denkweise von ihrer guten oder schlechten Verdauung ab.

Meines Erachtens genügt es nicht, die Menschen aufzuklären. Man müsste ihnen geistigen Mut einflößen können, sonst werden Empfindlichkeiten und Todesfurcht über die stärksten und methodischsten Beweisführungen triumphieren.

[…] Immerhin glaube ich, dass die Stimme der Vernunft durch Auflehnung gegen den Fanatismus das zukünftige Geschlecht duldsamer machen kann als das unsrige, und das wäre schon ein großer Gewinn.

Man wird Ihnen dafür danken, die Menschen von dem grausamen, barbarischen Wahne geheilt zu haben, der von ihnen Besitz ergriffen hatte und dessen Folgen Abscheu einflößen.

Fanatismus und wütender Ehrgeiz haben blühende Strecken meines Landes verheert. […]

Jetzt, wo wieder Ruhe und Ordnung herrscht, werden vor allem die Philosophen allerorten in meinem Lande eine Zukunft finden, vor allem der Feind des Baal und jenes Kults, den man in Ihrem Lande die Babylonische Hure nennt.

Ich empfehle Sie dem heiligen Schutze Epikurs, Aristipps, Lockes, Gassendis, Bayles und all der vorurteilsfreien Seelen, die ihr unsterblicher Genius zu Cherubim an der Bundeslade der Wahrheit gemacht hat.

Potsdam, 26. September 1770

Meine Hauptbeschäftigung besteht darin, in den Ländern, zu deren Herrscher mich der Zufall der Geburt gemacht hat, Unwissenheit und Vorurteil zu bekämpfen, die Geister zu erleuchten, die Sitten zu mildern und die Menschen so glücklich zu machen, wie es ihre Natur und die mir zur Verfügung stehenden Mittel erlauben.

Augenblicklich bin ich nur damit beschäftigt, mich von einer langen Reise zu erholen. Ich bin in Mähren gewesen und habe den Kaiser wiedergesehen, der sich anschickt, eine große Rolle in Europa zu spielen. An einem bigotten Hofe geboren, hat er einfache Sitten angenommen; mit Weihrauch gefüttert, ist er bescheiden; entflammt von Ruhmbegier, opfert er seinen Ehrgeiz der Kindespflicht, die er gewissenhaft erfüllt; und obgleich er nur pedantische Lehrer gehabt hat, beweist er genug Geschmack, um Voltaire zu lesen und sein Verdienst zu achten.

Wenn Sie dieses wahrheitsgetreue Bild dieses Fürsten nicht befriedigt, muss ich gestehen, dass Sie schwer zufriedenzustellen sind.

Potsdam, 24. Oktober 1773

Wenn es mir für immer versagt ist, Sie wiederzusehen, so freue ich mich doch, dass die Herzogin von Württemberg Sie gesehen hat. Diese Unterhaltung aus der Ferne ersetzt nicht den persönlichen Austausch. Berichte und Briefe sind kein Ersatz für Voltaire, wenn man ihn selbst besessen hat.

 

Ich danke Ihnen für die der Erinnerung an meine verstorbene Schwester geweihten Tränen. Ich hätte sicher mit geweint, wenn ich dieser rührenden Szene beigewohnt hätte. Nennen Sie es Schwäche oder übertriebene Verehrung, ich habe für meine Schwester geplant, was Cicero für seine Tullia plante. Ich habe ihr einen Tempel errichtet, der der Freundschaft geweiht ist. Im Hintergrunde steht ihr Standbild, und an jeder Säule hängt ein Medaillon mit dem Reliefbild eines Heros der Freundschaft. Ich schicke Ihnen den Entwurf. Der Tempel steht in einer Baumgruppe meines Gartens. Ich gehe oft hin, um an meinen Verlust und das einst genossene Glück zu denken.

[…]

Wir hoffen, dass diesen Winter vielleicht Friede geschlossen wird. Im Übrigen lieben wir das Sprichwort: »Leben und leben lassen.« Der Friede ist kaum zehn Jahre alt. Man muss ihn zu erhalten suchen, solange es ohne Gefahr möglich sein wird, und sich nicht zu viel noch zu wenig vorsehen, dass man nicht von einem Räuberhauptmann und Führer bezahlter Meuchelmörder überfallen wird.

Das ist nicht die Politik Richelieus oder Mazarins, aber die des Volkswohls, der wichtigsten Aufgabe der Obrigkeit.

Ich wünsche Ihnen diesen Frieden und alles erdenkliche Glück und hoffe, der Patriarch von Ferney wird den Philosophen von Sanssouci nicht vergessen, der sein Genie bewundern wird, solange noch Lebenswärme in ihm ist. Vale.

Potsdam, 24. Juli 1775

Unsre Deutschen haben den Ehrgeiz, sich ebenfalls an den schönen Künsten zu erfreuen. Sie bemühen sich, es Athen, Rom, Florenz und Paris gleichzutun. So sehr ich mein Vaterland liebe, so kann ich nicht sagen, dass sie bisher Erfolg gehabt hätten. Zweierlei fehlt ihnen: die Sprache und der Geschmack. Die Sprache ist zu wortreich. Die gute Gesellschaft bedient sich des Französischen, und einige Schulbücher und Professoren können der Sprache nicht die Feinheit und Eleganz geben, die sie nur im Verkehr mit der großen Welt erlangen kann. Nehmen Sie dazu die Verschiedenheit der Mundarten. Jede Provinz hält an der ihr eigenen fest, und bis jetzt ist noch nicht entschieden, welches Idiom den Vorzug verdient. Vor allem fehlt den Deutschen der Geschmack. Es ist ihnen noch nicht geglückt, die Dichter aus der Zeit des Augustus nachzuahmen. Ihre Werke sind eine schlechte Mischung des römischen, englischen, französischen und deutschen Geschmacks. Auch fehlt ihnen das feine Unterscheidungsvermögen, das die Schönheiten herausfindet, das Mittelmäßige vom Guten, das Edle vom Erhabenen zu unterscheiden und jedes am passenden Orte zu verwenden weiß. Wenn ihre Poesie viele klingende Worte enthält, sind nach ihrer Meinung ihre Werke wohlklingend, obwohl es gewöhnlich nur ein bombastisches Geschwätz ist. In der Geschichtsschreibung wird nicht der kleinste Umstand weggelassen, und wäre er noch so überflüssig. Ihre besten Bücher behandeln das Staatsrecht. Mit Philosophie befasst sich seit dem genialen Leibniz und der großen Monade Wolff kein Mensch mehr. Sie glauben, im Drama Erfolg zu haben, aber bis jetzt ist nichts Ausgezeichnetes erschienen. Deutschland ist jetzt gerade so weit wie Frankreich zur Zeit Franz I. Das literarische Interesse fängt an, sich auszubreiten. Man muss warten, bis die Natur echte Genies entstehen lässt, wie unter den Ministerien Richelieus und Mazarins. Der Boden, der einen Leibniz hervorgebracht hat, kann auch andere hervorbringen.

Ich werde diese schönen Tage meines Vaterlandes nicht erleben, aber ich sehe ihre Möglichkeit voraus. Sie werden mir sagen, das könne Ihnen sehr gleichgültig sein, und es wäre für mich bequem, den Propheten zu spielen, wenn ich den Termin der Erfüllung meiner Voraussage möglichst weit hinausschiebe. Das ist eben meine Art zu prophezeien, und sie ist die sicherste, da mich niemand widerlegen kann.

Ich für meine Person tröste mich damit, dass ich im Zeitalter Voltaires gelebt habe. Das genügt mir. Möge er leben, verdauen, seine gute Laune nicht verlieren und vor allem den Einsiedler von Sanssouci nicht vergessen. Vale.

Potsdam, 7. September 1776

Ludwig XIV. und Ludwig XV. haben durch ihre lange Regierung die Geduld der Franzosen auf eine harte Probe gestellt. Ich bin nun 36 Jahre auf meinem Posten. Vielleicht missbrauche ich nach ihrem Beispiele das Recht zu leben, vielleicht bin ich nicht gefällig genug abzutreten, wenn man meiner überdrüssig wird.

Es ist noch immer meine Gewohnheit, mich nicht zu schonen. Je mehr man sich verwöhnt, umso empfindlicher und kraftloser wird man. Mein Beruf fordert Arbeit und Tätigkeit; Körper und Geist müssen sich der Pflicht unterordnen. Es ist nicht nötig, dass ich lebe, aber wohl, dass ich handle. Ich habe mich dabei immer wohlgefühlt. Ich dränge jedoch niemand meine Methode auf und begnüge mich, sie selbst zu befolgen.