Geist und Leben 2/2015

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Das Schürztuch Jesu

Mit dem Schürztuch soll Jesus den Jüngern nach der Fußwaschung am Gründonnerstag die Füße abgetrocknet haben. Es ist ein Leinentuch, gewebt ohne Musterung aus starken Leinenfäden. Es misst 230 mal 128 cm an der einen und 95 cm an der anderen Seite. Eine genaue Datierung besitzen wir leider nicht. Die biblische Belegstelle von der Fußwaschung mit dem Hinweis auf das Leinentuch, mit dem sich Jesus zu diesem Zweck umgürtet hat, findet sich bei Joh 13,1–13.

Was fehlte dieser Welt, wenn es das, worauf das Schürztuch Jesu hinweist, wenn es die Fußwaschung, von der der Evangelist Johannes berichtet, nicht gegeben hätte? – Es fehlte das Vorbild eines selbstlosen Dienstes, der die menschengemachten Rangordnungen und Hierarchien, auch die kirchlichen in dieser Welt der Lächerlichkeit preisgibt. Jesus wäscht seinen Jüngern nicht den Kopf, sondern die Füße. Da kümmert sich der, mit dem niemand auf gleichem Fuße verkehren kann, um den Dreck von der untersten Fußsohle seiner Untergebenen und erklärt das zum Maßstab. „Ihr nennt mich Herr und Meister und ihr habt Recht, ich bin es. Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr tun, wie ich euch getan habe.“ (Joh 13,13)

Mit dem Fehlen dessen, woran das Schürztuch Jesu erinnert, wäre zudem die enge Verbindung von Abendmahl, also Gottesdienst, und Fußwaschung, also Menschendienst, nicht mehr gegeben. Dass Liturgie und Diakonie zusammengehören, nicht zuletzt darauf verweisen das Schürztuch und seine Verwendung im Kontext des letzten Abendmahles auch noch. Gottesdienst ist immer zweierlei, der Dienst Gottes an den Menschen und der Dienst des Menschen für und vor Gott. Der Menschendienst Gottes und der Gottesdienst des Menschen gehören zusammen.

Das Lendentuch Jesu

Schauen wir uns nun das Lendentuch Jesu an, das er am Kreuz getragen haben soll, um seine Blöße zu bedecken. Es wird im Dom aufbewahrt und besteht aus grobem dreieckigen Leinengewebe, mit bräunlichen, auf Blutspuren hindeutenden Verfärbungen. Es ist ein grobschlächtig aus einer Tunika zugeschnittenes Dreieckstuch. Seine Maße betragen 127,5 mal 151 cm. Von einem Gewand oder allgemeiner von Kleidungsstücken, die Jesus zum Zeitpunkt seiner Hinrichtung getragen hat, berichten Lk 23,32–35 und Joh 19,23. Von einem speziellen Lendentuch ist allerdings in den Hinrichtungsschilderungen nicht die Rede.

Das Lendentuch war das einzige, was man römischer- wie jüdischerseits bei einer Hinrichtung den Gekreuzigten in der sonstigen Nacktheit und Ausgesetztheit an Intimität noch konzedierte. Es war gewissermaßen der letzte Schamlappen gegen den blanken Voyeurismus und den Sadismus, der seine sexuelle Lust durch die Quälerei und in der Quälerei anderer Menschen erfährt.

Was fehlte dieser Welt, wenn es das, worauf das Lendentuch Jesu hinweist, nicht gäbe oder gegeben hätte? – Es fehlte der Gedanke der Solidarität Gottes mit den Bloßgestellten, mit den Begafften, mit den Ausgezogenen und den Zur-Schau-Gestellten, mit den Entblätterten, mit den bis auf die Haut und bis ins Mark Blamierten, mit den schamlos Entehrten. Es fehlte das Zeichen der Solidarität mit den Menschen, die wie er durch einen Justizskandal, ja einen Justizmord beseitigt wurden und werden in dieser Welt. Im Tod Jesu Christi begibt sich Gott selbst in die tiefsten Niederungen des menschlichen Leidens und Sterbens, weil er leiden kann und den Menschen leiden mag. Hier begegnet uns ein zutiefst sympathischer, d.h. leidensfähiger und mitleidender Gott.

Das Grabtuch Jesu

Das Grabtuch Jesu (Sindon munda) meint das Tuch, in das Jesus gehüllt worden sein soll, als er vom Kreuz abgenommen und ins Grab gelegt worden ist. Es ist ein feines, kostbares Leinentuch und misst heute 105 mal 180 cm. Es muss einmal doppelt so lang gewesen sein. Es sind auch Stücke herausgeschnitten worden. Vermutlich stammt das Grabtuch aus dem 1. Jh. v. Chr.

Was fehlte dieser Welt, wenn es das, worauf das Grabtuch Jesu Christi hinweist, wenn es seinen bestialischen Tod nicht gegeben hätte? – Es fehlte der Gedanke einer bis zum Äußersten, einer über die Todesgrenze hinausgehenden Heilsintervention Gottes für den Menschen und diese Welt. Gott macht sich, so sagt der christliche Glaube, angesichts des Leids der Welt keinen schlanken Fuß. Er geht den Weg des Menschen mit, den scheinbaren Holzweg vom Holz der Krippe bis zum Holz des Kreuzes, den Weg vom Geburts- bis zum Todesschrei, den Weg von den Windeln bis zum Leichentuch. Er steht wie wir im Leid und durchsteht mit uns das Leid bis in Sterben und Tod hinein. Er markiert den Weg durch das Sterben, den Weg in den Tod mit den Wegzeichen zum Leben. Er macht auch diesen letzten, uns allen zugemuteten Weg noch zum Lebensweg.

Das Schweißtuch Jesu

Das sog. Sudarium, das Schweißtuch Jesu besteht aus feinster alexandrinischer Muschelseide, aus Byssos. Es ist 352 mal 615 cm groß, sechzehnfach gefaltet, wurde 1860 auf eine Schutzunterlage genäht und 1895 mit einer Schutzdecke verziert. Es stammt spätestens aus dem 1. Jh. unserer Zeitrechnung, überschneidet sich also mit der Lebenszeit Jesu. Vom Schweißtuch Jesu spricht die Heilige Schrift in Joh 20,6–7. Es ist die Rede davon, dass es auf dem Haupt Jesu gelegen, dann aber, nach der Auferstehung Jesu, nicht mehr bei den Leinentüchern, sondern separiert und zusammengebunden an einem eigenen Platz gelegen habe.

Was wäre, wenn es das, worauf das Schweißtuch Jesu hinweist, nicht gegeben hätte oder geben könnte? – Das Schweißtuch markiert im Evangelium den entscheidenden Übergang, es steht für den Schritt aus dem Ende, für das der Tod steht, zu einer Vollendung, für die das Leben steht. Es ist ein Signum, das die Geschichte des Todes Jesu mit der ersten Erfahrung von Auferstehung verbindet, ein verbindendes Zeichen, das auf die Identität und die Kontinuität des Gestorbenen und Auferstandenen hinweist. Ohne das, worauf das Schweißtuch hinweist, fehlte der Gedanke an die Auferstehung Jesu Christi und der Gedanke an die Auferstehung der Ermordeten, der Gemeuchelten, der zu Tode Geschundenen, der Verhungerten, der Verdursteten dieser Welt. Es wäre die endgültige absolute Irreversibilität des zugleich gleichmacherisch gerechten und des zugleich gnadenlos ungerechten Todes. Es gäbe keine ausgleichende endgültige Gerechtigkeit, sondern ausschließlich die Verewigung bleibender Ungerechtigkeit.

So aber hören wir in der ersten Präfation der Totenmesse noch die Worte: „Deinen Gläubigen, o Herr, wird das Leben gewandelt, nicht genommen. Und wenn die Herberge der irdischen Pilgerschaft zerfällt, ist uns im Himmel eine ewige Wohnung bereitet.“ Und so beten die Katholik(inn)en in jeder Eucharistiefeier nach den auch uns selbst geltenden Wandlungsworten: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Durch diesen Blick auf Tod und Auferstehung Jesu Christi wandelt sich auch die persönliche menschliche Unheils- in eine Heils- und Hoffnungsperspektive über den Tod hinaus.

Was bleibt?

Alle diese textilen Heilsutensilien sind kontingent, sind durch die Zufälle und die Willkürakte der Geschichte zu uns gekommen. Sie sind nicht essentiell zur Stützung des christlichen Glaubens in der Welt; das Glauben ginge also auch ohne sie. Und vielleicht erscheint dem einen oder anderen historisch-skeptisch orientierten Menschen diese Art von Frömmigkeit eher hinderlich als förderlich für den eigenen Glauben. Das ist nicht zu bestreiten und darf auch so sein. Aber gibt es nicht ebenso viele legitime, geistgewirkte Zugänge zum Glauben wie es geistvolle gläubige Menschen gibt?

Natürlich kann man sich fragen, ob diese textilen Heiligtümer historisch echt sind. Einige sind uralt, reichen gut belegbar bis in die Zeit Jesu hinein, sie könnten in dem Sinne historisch echt sein und sind es vermutlich doch nicht. Sie können aber, und das ist entscheidend, zum Echtwerden des Glaubens beitragen, zur Echtheit des Glaubens anregen. Sie können uns die unabweisliche Frage nach den ethischen Maßstäben und der existenziellen Entschiedenheit des eigenen Lebens vorlegen. Sie können Wegweiser sein, Wegweiser, die man nicht braucht, wenn man den Weg genau kennt. Aber nicht alle kennen den Weg genau genug.

Etwas, was nur alle sieben Jahre gezeigt wird, ist der ständigen Verfügbarkeit und Sichtbarkeit entzogen. Um es zu sehen, muss man warten und sich innerlich ausrichten können auf den besonderen, vielleicht einmaligen Moment. Dabei wird das, was die Griechen der Antike Chronos nannten, die scheinbar mehr oder weniger gleichförmig und belanglos verstreichende Zeit, zu dem, was dieselben Griechen Kairos nannten, zum günstigen, einmaligen, vielleicht gnadenhaften Moment, in dem sich eine Wende im Glauben und im Leben vollziehen kann.

Die Vereinmaligung des Moments der Sichtbarkeit macht aber zugleich darauf aufmerksam, dass eigentlich jeder Moment im Chronos als genutzter Moment einen Kairos zu irgendetwas darstellt, zur Umkehr aus dem falschen Trott, zum Neubeginn nach dem desaströsen Ende, zur Versöhnung nach dem bitteren Zerwürfnis, zur Hoffnung nach der tödlich lähmenden Angst. Gerade in dieser Zeit, in meiner Zeit, kann auch durch mich die Unheils- zur Heilszeit gewandelt werden. Gott wandelt auch mich, und er wandelt auch durch mich und meinen kleinen Beitrag unsere heillose Zeit in sein zeitloses Heil.

Im Kern: Inkarnation

Im Kern zielen alle diese textilen Erinnerungsstücke auf das christliche Proprium, auf das Alleinstellungsmerkmal des Christlichen, auf die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, auf seinen Dienst der Menschlichkeit, auf sein grausames Leiden und Sterben, auf seine Auferstehung. Die textilen Erinnerungsstücke erinnern an den Kernbestand der christlichen Botschaft und der ist konkret, geschichtlich, menschlich und darin zugleich göttlich, der ist ganz und gar irdisch und darin himmlisch.

 

Sich für aufgeklärt haltende Menschen neigen dazu, die angeblich noch immer unaufgeklärten, einem Reliquienkult anhängenden Menschen zu belächeln. Karl Rahner, einer der ganz Großen in der Theologie des 20. Jhs., einer, der so abstrakt denken konnte, dass er damit viele junge Theolog(inn)en abhängte, hat aber schon vor vielen Jahrzehnten hellsichtig bemerkt: Auch die großen abstrakten Philosophien, die scheinbar so ganz auf Konkretionen und Handgreifliches oder Augenfälliges verzichten können, sind doch nur abgeblasste Mythologeme. Wir alle brauchen die Anschaulichkeit und den inhaltlichen Mehrwert, den Bedeutungsüberschuss, der in allen Narrationen steckt. Wir alle brauchen das Pack-Ende und das Packende des Konkreten, um zum Abstrakten vorzudringen. Wir alle brauchen die Handreichung des Anschaulichen, um eine Ahnung vom Unanschaulichen zu erhalten. Wir alle brauchen das Sich-Zeigen im Endlichen, um einen Schimmer vom Unendlichen, eine Ahnung von Gott zu erhaschen.

Jetzt sind diese konkreten, geschichtlichen, menschlichen und menschlich allzu menschlichen Erinnerungsstücke für sieben Jahre wieder eingepackt. Wenn wir aber mit der christlichen Botschaft vom geerdeten Himmel, mit unserem Glauben an den Mensch gewordenen Gott an unseren Arbeits- und Ausbildungsplätzen, in unseren Beziehungen, Ehen und Familien nicht auspacken, dann können wir nicht nur diese textilen Heiligtümer ein für alle Mal einpacken und eingepackt lassen, dann können wir auch als Christ(inn)en einpacken. Also nach dem Einpacken bitte auspacken und anpacken, d.h. Zeugnis geben, und zwar mit Wort und Tat.

A

Lesetipp der Redaktion

aus dem Online-Archiv:

www.geistundleben.de

Franz-Josef Steinmetz SJ,

Jesus und sein Esel. Eine Betrachtung zum Palmsonntag, in: GuL 72/2 (1999), 136–140.

Diaspora im NT
N

Hildegard Scherer | Bonn

geb. 1975, Dr. theol. habil., Privatdozentin für Neues Testament an der Universität Bonn

hildegard.scherer@uni-bonn.de

Christliches Leben in der Diaspora
Neutestamentliche Perspektiven

Diaspora: So deutet eine junge, engagierte Katholikin ihre Situation, als sie hört, in ihrer süddeutschen Bischofsstadt sei die Katholikenzahl unter 50 % gefallen. Eine Schrumpfung. Eine numerische Minderheit, die weitere Fragen aufwirft: Fällt damit nicht über kurz oder lang der öffentliche Feiertag Mariä Himmelfahrt? Alte Selbstverständlichkeiten stehen plötzlich zur Disposition. „Diaspora“ bedeutet alltagssprachlich den Minderheitenstatus und die Marginalisierung einer Glaubensgruppe. Diese muss von ihrem kulturellen Zwischenraum aus verhandeln, sich behaupten und anfragen lassen. Ohne Zweifel ein mühsamer Weg. Nachvollziehbar sind Beklemmung und Zukunftssorge, die Christ(inn)en hierzulande anficht, wenn sie ihre Kirche schrumpfen sehen.

Allerdings: Global wie historisch konnten und können Christ(inn)en anderswo von einer solchen „Diasporasituation“ nur träumen – von Konkordat bis Körperschaftsrecht steht die Kirche hierzulande institutionell doch auf festem Grund. Die Kirchensteuergemeinschaften wirtschaftsstarker Staaten binden Millionen Menschen als „Fördermitglieder“ ein, und engagierte Christ(inn)en erfahren an ihren Wirkungsorten Anerkennung. Im Nahen Osten erleben wir z.Z. völlig andere Dimensionen von „Diaspora“. Menschen bezahlen sie mit Heimat, Habe oder Leben. Wie anders steht christliche „Diaspora“ da in Staaten ohne verfasste Religions- und Meinungsfreiheit, oder auch dort, wo es an Infrastruktur und Bildung mangelt?

Wir stoßen auch zu Beginn der christlichen Bewegung auf solche äußerst prekären Ausgangsbedingungen. „Minderheitensituation“ ist das täglich Brot der wenigen christlichen Gruppen – doch gerade in einer solchen „Diaspora“ bringen sie Texte voller spiritueller Ressourcen hervor. Insbesondere die situationsbezogene Briefliteratur vererbt uns Paradigmen für das Leben in „Diaspora“. Doch bevor wir nach solchen Verhaltensoptionen fragen, zunächst ein Blick auf den Streuungsvorgang am Anfang der christlichen Bewegung.

„Diaspora“: gewaltsam zerstreut oder aktiv streuend?

Hält man sich an Begriff und Phänomen von diaspora/diaspeiro in Septuaginta2 und Neuem Testament und somit an die Ursprünge unseres griechischen Lehnwortes, so erstaunt zunächst einmal der differenzierte Sprachgebrauch. Diaspora, „Zerstreuung“ bzw. diaspeirein, „zerstreuen“ spiegeln teilweise3 einen Leidenszustand: Gewaltsam löst ein Mächtigerer eine Gruppe von Unterlegenen auf und „zerstreut“ sie räumlich – eine Art Kriegsfolge, wie Ez 29,12 oder Dtn 28,25 sie beschreiben; eine Machttat, wie sie auf den Sturz des Turms zu Babel folgt (Gen 11,8f.). In der prophetischen Gottesrede ist es der Herr selbst, der diese Zerstreuung bewirkt (z.B. Jer 15,7; Ez 12,14f.) – und in dessen Macht es steht, sie wieder aufzuheben, indem Israel in sein Land zurückkehren kann (z.B. Jes 11,12; Ez 11,17; Dtn 30,4f.). Die Zwischenzeit kann in biblischer Diktion eine Zeit der Ohnmacht sein: Bilder der „Zerstreuung“ sind das Reisig im Wind (Jer 13,24) oder die herrenlosen Schafe in den Bergen (1 Kön 22,17).

Diese negative Diaspora-Konzeption denkt vom Ideal eines räumlichen Lebenszusammenhangs aus, der schmerzhaft gestört wird. Erst mit dem Wiedergewinn von Lebensort und Souveränität ist der Leidenszustand behoben. Ohne Zweifel nährt sich diese Konzeption aus tatsächlichen Verlust- und Unterdrückungserfahrungen unter fremder Herrschaft.

Was die realgeschichtliche Entstehung der jüdischen Diaspora im Osten und im Mittelmeerraum betrifft,4 steht hinter ihr sicher häufig eine erzwungene Umsiedlung nicht nur als Folge einer militärischen Unterwerfung, sondern auch durch Versklavung und Verkauf oder wirtschaftliche Not. Doch ist keineswegs auszuschließen, dass sich so manche auch mehr oder minder freiwillig in neue Umgebungen begaben – und dort blieben. Die ersten Christ(inn)en, v.a. die antiochenisch-paulinischen, haben eine Streuung der christlichen Gruppen geradezu gesucht – mit missionarischer Dynamik.5 Zwar liegt, wie uns die Apostelgeschichte aufzeigt, auch den ersten Aufbrüchen weg von der „Jerusalemer Urgemeinde“ eine Leidenssituation zu Grunde: Die Verfolgung der Hellenist(inn)en, namentlich des Stephanus, führt zur Mission u.a. in Samarien und Antiochia (Apg 8,1.4; 11,19). Doch von dort aus brechen schon bald Barnabas und Paulus nach Zypern und ins südliche Kleinasien auf (Apg 13). Paulus und seine Mitarbeiter(innen) legen in der Folge tausende von Kilometern zurück und hinterlassen in den Metropolen von Mazedonien, Griechenland und Kleinasien nach einem meist kurzen Gründungsaufenthalt winzige Zellen – schätzungsweise 40–80 Personen – von Jesus-Anhänger(inne)n.

Die christlichen Missionare(n) haben offensichtlich nicht an geschlossene Flächen gedacht oder Mehrheitsverhältnisse gekippt. Sie haben offensichtlich nie aus einer geschützten „Hausmacht“ heraus agiert, nie ein Interesse besessen, autarke Strukturen zu entwickeln. Gerade mitten in der „anderen“ Umgebung haben die Christusgläubigen in entscheidenden Bereichen einen Kontrapunkt zum Mainstream gelebt:6 z.B. im Bekenntnis zum einen Gott Israels, der über alles irdisch Erfahrbare hinaus einen letzten Rückhalt bietet, sich als Herr „jeden Geschöpfs“ erweist (vgl. Röm 8,31–39); in der Loyalität zum erhöhten „Herrn“ Jesus Christus; in den daraus folgenden sozialen Entschränkungen und Neuorganisationen im „einen Leib“ (Gal 3,27f.; 1 Kor 12; Röm 12,4–8); in der Relativierung irdischer „Retter“ (vgl. Lk 2,11) und ihrer Machtstrukturen (Mk 10,42–45). Paulus beschreibt dies mit dem Begriff einer „neuen Zeit“ („Äon“, z.B. Gal 1,4; vgl. 6,15; Röm 12,2), die sich mitten in die „alte“ schiebt, als Leben nach dem „Willen Gottes“. Und gerade diese offen gelebte Alternative machte die christlichen Gruppen den einen attraktiv, den anderen unerträglich.

Die Gruppen können kaum auf Identitätstraditionen bauen, sobald typisch jüdische Abgrenzungssymbole wie Beschneidung oder Reinheitsgebote gefallen sind. Sie basieren allein auf entschiedenen Individuen. Damit sind sie aber auch unabhängig von geographischen Zentren, differenzierten Institutionen oder weiteren Bindungen – sie sind tatsächlich universal. Christentum kann überall dort gelebt werden, wo sich bereits Einzelne in Einstellung und Verhalten verändern. Die Tauf-Initiation und der kontinuierliche Lebenskern des Herrenmahls sind an jedem beliebigen Ort mit einfachster Ausstattung möglich – mit Wasser, Brot, Wein und wenigen kurzen Formeln.

Eine möglichst breite Streuung der Gemeinden „bis ans Ende der Erde“ (Apg 1,8) wird sogar zum Wunschziel – je mehr „Diaspora“, desto besser, könnte man für die ersten Christ(inn)en sagen. Doch bleibt auch dieses Ideal nicht ungetrübt: Christliche Gemeinden werden sich über kurz oder lang in einem Leidenszustand wiederfinden. In 1 Petr schlägt die Problematik der Minderheitensituation voll durch – die Adressat(inn)en fühlen sich wieder in „Diaspora“ (1 Petr 1,1) mit all ihren Konsequenzen. Doch liegt ihr konzeptionelles Ideal nicht in regionaler Restitution – sondern in transzendenter Transformation: Ihr angestammter Ort („Erbe“) liegt in den Himmeln. In ihrer Identität verankert sind die Angesprochenen also im göttlichen Bereich, jenseits der irdischen Strukturen – in diesen bleiben sie stets fremd und sitzen zwischen den Stühlen (vgl. 1 Petr 1,4.17; 2,11).7 Das Urchristentum hat sich also bewusst einer Minderheitensituation gestellt.

Herausforderungen der Diaspora

Die Christ(inn)en der Diaspora sind als Minderheit „zwischendrin“, in ständigem Alltagskontakt mit „Anderen“: Familienmitgliedern, Nachbar(inne)n, Berufskolleg(inn)en, städtischen Institutionen. Diese Begegnung, keineswegs immer solidarisch und friedlich, fordert heraus: Was tun bei machtförmiger Konfrontation? Welche Außenwirkung soll angezielt werden? Wie weit reicht die gemeinsame Basis mit den „Anderen“? Die christliche Briefliteratur zeigt mehrschichtige Antworten – exemplarisch seien hier die sog. Sendschreiben Offb 2f., Röm 12 und 1 Petr angeführt: Texte, in denen Ethos anschaulich verhandelt wird.