Geheimakte Luther

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Bolemius kratzte sich nachdenklich an seiner Beule und schrieb: „Bettler und fahrende leut bringen ihre gemeinen lieder dem Lutter ins Haus, auf dass sie ihren weg in die allerheiligste kirche finden …“ Er setzte die Feder ab. „Oh Christenheit“, seufzte er, „wohin geht deine Reise? Hinab in den Schlamm der Straße! Mönche brechen ihr Gelübde, heiraten Nonnen und knechten die heiligen Texte in gemeine Weisen. Wenn das so weitergeht, sitzen am End die Bauern, Spielleut und Bettler in der Messe, und die hohen Herren finden keinen Platz mehr und stehen draußen.“ Er blickte Overbeck an, der sich wieder gesetzt hatte. „Hast du noch ein Lied?“

Overbeck dachte nach. „Ja, ich hab noch eins. Ein Osterlied. Das ist schon ein paar Jahre alt. Die Weise hat er in einigen Teilen genommen nach einer Sequenz des victimae paschali laudes des Wipo von Burgund.“

Overbeck zog ein anderes Blatt hervor, schlug ein paar Akkorde an und sang: „Christ lag in todesbanden für unsre sünd gegeheben, der ist wieder erstanden und hat uns bracht dahas leben. Des wir sollen froelich seyn Gott loben uhund dankbar seyn und singen halleluhuja, halleheluja …“

Er unterbrach das Lied und sagte: „Eigentlich keine schlechte Weise, aber wisst Ihr was? Nirgendwo kommt die heilige Kirche vor oder die Tradition. In der vierten Stroph heißt es gar: Die schrift hat verkündet das, wie ein tod den andern fraß. Die Bibel hier, die Bibel da, die Schrift hat verkündet, und die Schrift sagt dieses und so fort. Als ob man die Priester und die Bischöfe und Kardinäle gar nicht mehr braucht.“

„Ja, ja“, nickte Magister Bolemius, „das hast du gut erkannt, und dein Schädel hat nicht nur Platz für Noten, sondern auch für die Theologie. Der Lutter ist ein ganz gefährlicher Bursch. Die Lieder erregen das Gemüt, dadurch schleicht er sich in die Seelen und Herzen der Menschen ein, und sie merken gar nicht, dass heimlich still und leise eine ganz andere, eine fremde Theologie gelehret wird. Das müssen wir verhindern.“

„Wie soll das gehen?“, fragte Overbeck und leerte seinen Krug. „Die Lieder sind schon in den Köpfen drin. Die kann man nit herausreißen. Und hier in Wittenberg hat der Lutter schon ein Buch drucken lassen. Er nennt es das Achtliederbuch. Und jetzt ist sogar ein neu Gesangbuch herausgekommen.“

Der Gesandte lächelte und legte den leeren Krug flach auf den Tisch.

„Agnes!“, rief Overbeck. „Schenk nach!“

Agnes erschien nach ein paar Augenblicken, nahm den leeren Krug und goss ihn voll. Ihre missmutigen Blicke streiften den Musicus. Dann wollte sie sich zurückziehen.

„Und dann kannst du Brot, Sauermilch, Gemüse und den Schinken auftragen.“

„Das werd ich alles dem Schwertfeger sagen, wie du mit seinem Schinken umgehst“, murmelte sie.

„Ja, sag‘s ihm nur“, antwortete der Musicus. „Hier werden wichtige Dinge verhandelt.“ Murrend zog sie sich zurück.

Magister Bolemius tat noch einen ehrbaren Zug aus dem vollen Krug, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und sagte: „Wir können den Lauf der Dinge verhindern und die Evangelischen zurücktreiben, wenn wir die Idee des Lutter übernehmen. Die Musik von der Straße und die rechte Theologie hineinpacken. Die lateinische Messe beibehalten und die neuen Weisen sanft dazwischenstreuen!“

Overbeck lachte. „Schlau“, nickte er.

„Und du“, sagte Bolemius und wies mit dem Zeigefinger auf ihn, „kannst gleich damit anfangen, dann klingeln die Taler nicht nur für deine gesammelten Worte auf den Holztafeln, sondern auch für deine Musik.“

Overbeck starrte den Gesandten mit großen Augen und offenem Mund an. Vor seinem inneren Auge sah er sich schon als berühmten Liederdichter, dessen Weisen im ganzen deutschen Land gesungen wurden. Wenn die Macht der Kirche hinter ihm stand, wer konnte seine Lieder dann noch verhindern?

„Nun, was hast du noch notiert, Overbeck?“, fragte der Gast.

Der Musicus klapperte mit seinen Holztafeln und hielt eine hoch. „Hier ist noch etwas, das gefährlich werden könnt. Der Lutter will nämlich, dass seine Liedlein auch vor Fürsten und in den Schulen gesungen werden. Hört her. Er beugte sich zum Fenster, weil die Sonne unterging, und las: „Könige, fürsten und herren müssen die musica erhalten. Denn großen potentaten und regenten gebühret, ihr hand über die guten freyen künsten und gesetzen zu halten. Man muß musicam von noth wegen in schulen behalten und soll die jugend stets zu dieser kunst gewöhnen, denn sie machet fein geschickte leut.“

„Ja, ja, der Lutter ist nicht dumm“, murmelte der Gesandte, und Overbeck rief: „Agnes, mach Licht!“

„Ja, ja, ich komm schon!“, hörten sie die Magd rufen.

„Wir legen eine Pause ein, Herr Magister“, sagte Overbeck und grinste. „Ich denk, da habt Ihr von mir doch ein paar gute Worte für Euren schweren Dienst bekommen, nehme ich an.“

„Das ist wahr!“, nickte Magister Bolemius und streckte sich. „Eine gute Ausbeute.“

Die Tür ging auf, und Agnes kam mit einem Brett voller Speise herein. Ein Junge, der einen Kienspan in der Hand hielt, zündete die Kerzen auf dem Gestell an.

Magister Bolemius streute indessen Sand über die Pergamente, blies darüber und legte sie vorsichtig auf einen leeren Stuhl zum Trocknen. Dann betrachtete er wohlwollend, wie sich der Tisch mit Brot, Schinken und Gemüse füllte.

„Dem Lutter werden wir seine Lieder austreiben“, sagte er zu Overbeck.

Der nickte nur und meinte: „Ich geb den Liedlein ein paar Jahre, dann sind sie abgesungen und vergessen!“

Eleonore Dehnerdt

Katharina von Bora

Ich hatte es mir so einfach vorgestellt, Frau Luther zu befragen, denn sie nahm nicht nur Studenten bei sich auf, sondern auch Fremde. Eine warme Mahlzeit bekam jeder. Im schwarzen Kloster durften selbst Bettler, egal ob Mann oder Frau, am Tisch sitzen, und Luther hörte sich ihre Geschichten an und gab Rat. Wenn er selbst nicht da war, übernahm sein Weib die Aufgaben. Ich dachte also bei mir, dass es ein Leichtes sei, etwas über Luther zu erfahren. Ich hatte voller Bedacht die Tage gewählt, in denen Doktor Martinus nicht da war.

Ich kam jedoch gar nicht dazu, anzuklopfen! Denn als ich in aller Herrgottsfrühe um das Haus spähte, machte sich der Knecht Wolf schon daran, die Pferde anzuspannen. Er hatte mich bemerkt. „Was streunt Ihr ums Haus, wo die Türe zur anderen Seite steht?“, bellte er mich an.

„Nein, nein, ich wollte die Frau Doktor nicht wecken.“

„Die Frau Doktor war schon auf den Beinen, als Ihr noch geschnarcht habt. Kommt ein andermal wieder!“

Dann erschien jedoch Katharina selbst, um den Sitz des Pferdegeschirrs zu prüfen. Als sie mich stehen sah, fragte sie, ob ich krank sei. Ich verneinte empört. Hatte sie denn keine Augen im Kopf? Sie sagte: „Warum seid Ihr, Fremder, in der Stadt, wo doch hier die Pest wütet?“

Himmel, wie ich erschrak! „Die Pest?“

Katharina schüttelte den Kopf. „Ihr müsst wohl in der Nacht gewandert sein. Jeder anständige Wirt hätte Euch gewarnt, und die Wachen an den Toren sind auch gehalten, alle zu informieren.“

Da stand ich nun in einer Stadt, in der die Pest Einzug gehalten hatte.

„Wenn Ihr wollt, nehme ich Euch mit aufs Land, und Ihr seid vor der Pest sicher.“ Sie verschwand, und Wolf erklärte mir mürrisch, dass Katharina zu Luthers Eltern fahren würde, um sie zur Pflege ins schwarze Kloster zu holen. Sie wollten nicht alleine bleiben, während sich die Pest weiter ausbreitete. Ich solle aus Wittenberg fort, wenn mir mein Leben lieb wäre, und gleich aufsitzen.

Nicht genug, dass Katharina selbst die Zügel führte, sie drückte mir auch noch den kleinen Hans in den Arm, damit er eine ruhigere Fahrt habe. Mir blieb nur diese eine Fahrt, um sie zu befragen. Doch dieses Weib verstand es, meine Befragung immer so zu drehen, dass sie ihre Meinung dabei kundtat. Sie hat von Aristokratie und Theologie keine Ahnung und mischt sich doch in alles ein.

„Warum wählt Ihr nicht das Haupttor, um aus der Stadt zu fahren?“, fragte ich, als sie umständlich durch die engen Gassen kutschierte, um zum Nordtor zu gelangen.

„Ich kann nicht das Haupttor wählen, da dort die Tage die Altgläubigen Wache halten.“

„Was fürchtet Ihr denn die Altgläubigen?“, rief ich ihr zu.

„Diese würden mir nachsetzen und zu verhindern wissen, dass ich wieder nach Wittenberg kommen kann.“

Ich nickte unbemerkt, denn das wäre gewiss auch in meinem Sinn so gewesen. Das kleine Tor wurde uns schon geöffnet, als wir in dessen Nähe kamen. Katharina gab den Pferden die Peitsche, und der Wagen rumpelte in voller Fahrt durch das Tor und über die Brücke.

„Haltet das Kind fest“, mahnte sie mich, als ich mich mit einer Hand am Wagen festhalten wollte. Diese Frau hatte es eilig, und die ihr die Tore öffneten, mussten Handlanger Luthers sein.

„Ich denke, Ihr habt diese Nacht ebenfalls nicht das Haupttor gewählt, sonst hättet Ihr von der Pest gewusst.“ Und ehe ich etwas erwidern konnte, redete sie weiter: „Einzig die Dirnen, die ihr Brot mit Huren verdienen, schmuggeln ihre Gäste unbemerkt in die Stadt. Und selbst wenn sie schon die Pest im Leib hätten, würden sie nicht auf den Taler verzichten!“

Mir war der Schweiß ausgebrochen, aber ich konnte nicht den Mantel öffnen, da sich der kleine Hans wie eine Wolllaus an mir festhielt.

 

„Wäre es nicht besser, wenn Euer Gemahl, der ja ein Mann Gottes sein will, nicht noch einem Weibe zur Last fiele und Kinder zeugen würde?“

Da lachte Katharina: „Das hat er doch lange genug gemacht! Er war ja schon ein alter Mann, als er mich zur Frau nahm.“

„Das nenne ich Lüsternheit.“

Abermals lachte dieses Weib frech und antwortete: „Es gibt einen Unterschied zwischen Lüsternheit und Lust. Das eine dient dem Tod, das andere dem Leben. Als er Mönch war, legte er sich aus Lüsternheit zu den Weibern, wie es heute noch viele Mönche halten. Buße und Ablass konnten ihn reinwaschen. Aber wer kann denn vor Gott rein sein, wenn die Frauen und gezeugten Kinder allesamt in der Hölle zu schmoren haben? Nein, nein, Ihr müsst es von einer anderen Seite sehen. Selbst als Martinus den Weibern abschwor, plagten ihn seine Gelüste so über die Maßen, dass ihm ständig davon träumte. Wer so geplagt wird – wer kann da vor Gott bestehen? Ach, wenn Ihr wüsstet, welche Qualen er deshalb litt! Selbst jetzt, wo er in mir ein liebend Weib hat und wir die Kinder in Jesu Namen erziehen, denkt er, die Fleischeslust sei lauter Sünde. Dabei steht es doch in der Bibel ganz anders. Im Ehestand segnet Gott das Paar auf so natürliche und ergötzliche Weise, wie die Vögel und Fische ihre Nachkommenschaft sichern. Wer sollte darüber Gott nicht danken?“

„Euer Martinus lobt die Ehe gleich einem Paradies und spricht von Euch als Eva. Trotzdem sagen die Leute, dass Euer Gatte die Ehe nicht als Sakrament gelten lässt und sogar einigen Paaren erlaubte, sich mit seinem Segen zu trennen. Wie erklärt Ihr das?“

„Das versteht nur, wer den Geplagten richtig zuhören kann. Auch ich verstand es zuerst nicht, und deshalb kann ich es schlecht erklären.“

„Ich will es ja nicht von Euch erklärt haben, sondern von Luther selbst.“

„Dann, werter Herr, müsst ihr Ihn auch selbst fragen!“

„Wenn er nun aber nicht da ist!“

„Dann müsst Ihr Euch mit meiner Antwort zufriedengeben, wie ich auch in stetem Einvernehmen und auch im Streite alles mit meinem werten Martinus bespreche. Entweder Ihr seid mit meinem Gespräch, das ich bei dieser Kälte auf dem Kutschbock führen muss, zufrieden oder eben nicht!“

Ich besänftigte sie und sagte, dass ich zufrieden sei.

„Dann lasst es mich erklären, mit meinen Worten, denn Martinus und ich können uns gemeinsam auch allezeit einigen und so weiterbringen, wie es einer alleine nicht vermag. Aber ich muss zuerst überlegen. Und verlangt auch keine ewig gültige Antwort, denn auch Jesus herrschte nicht über die Menschen, sondern suchte mit ihnen einen Weg zum Heil.“

Welche Frechheit dieses erstaunliche Weib an sich hatte! Als ob sie wüsste, wie Jesus war! Man sollte den Frauen das Lesen verbieten, damit sie sich nicht in Dinge einmischen, von denen sie nichts verstehen.

Dann fuhr sie fort: „Was, sagte Jesus, sei das höchste Gebot?“

„Gott den Herrn zu ehren.“

„Ja, das gilt Gott gegenüber. Das höchste Gebot dem Menschen gegenüber ist jedoch die Liebe. Somit sollen ja auch die Ehe und die Liebe zusammengehören. Manchmal jedoch hat eine Ehe wenig mit Liebe zu tun. Ebenso legen sich manche Brautpaare vor Zeugen aufs Bett, und ihnen bleiben doch die Kinder oder die Herzenszuneigung versagt. Das ist dann wie in der Geschichte mit dem Esel, der in den Brunnen fiel, und die Jünger Jesu zogen ihn heraus, obwohl es Sabbat war. Die Schriftgelehrten sagten zu Recht, dass die Jünger deshalb bestraft werden sollten, denn das Gesetz verbietet die Arbeit am Sabbat. Doch was diente dem Leben? Die Einhaltung des heiligen Gesetzes oder die Rettung eines armen Esels? Jesus antwortete darauf, dass der Sabbat für den Menschen da sei und nicht der Mensch für den Sabbat. Also soll der Sabbat Mensch und Tier zugutekommen. Das hieße auch im Falle einer Ehe, dass die Ehe für den Menschen sei und nicht der Mensch für die Ehe. Also das Heilige ist für den Menschen, wir selber jedoch können keine Heiligkeit herbeiführen. Das Richtige zu tun und heilig zu sein bedeutet also, stets zu lieben und darin Gott zu ehren.“

„Das sagt Luther?“, rief ich aus, „dass wir das Heilige tun können?“

„Regt Euch nicht über meine Worte so auf! Mein Mann redet in theologischen Worten und im Disput. Wenn Ihr mir richtig zugehört und noch mehr verstanden hättet, was ich sagte, wüsstet Ihr es anders zu deuten. Ihr braucht nicht den Teufel an die Wand zu malen, bloß weil wir etwas anders deuten können als vor tausend Jahren! Aber da seid Ihr genauso wie mein Martinus. Sobald sich etwas ändert, ob das Bier anders gebraut wird oder Gottes Liebe sich nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern täglich erweisen will – immer denkt er, die Teufel würden ihre Hände im Spiel haben und sich auf ihn stürzen.“

„Die Teufel stürzen sich auf Martin Luther?“

„Ich bitte Euch: Fangt nicht auch noch davon an!“, rief die Lutherin entsetzt.

„So schlimm ist es?“

„Eben nicht! Ihr Männer seht in allem die Teufel. Ich jedoch kann ihn nicht erkennen!“

„Ihr glaubt also nicht an den Teufel?“, fragte ich nach.

„Ich glaube an Christus, den Allmächtigen, der die Macht des Bösen längst bezwungen hat. Und ich sehe nur den Unsinn, der entsteht, wenn die Menschen meinen, die Teufel würden unter uns wohnen und ihr Unwesen treiben. Was habe ich denn davon, wenn Martinus meint, die Teufel würden sich in seiner Schreibstube sammeln? Wenn er das Tintenfass nach ihnen wirft, habe ich die Flecken wegzuwaschen! Wenn er des Nächtens von den Teufeln geplagt wird, muss ich ihn halten und trösten, und wir haben beide zu wenig Schlaf. Wenn er denkt, sie wohnen in Juden, Wiedertäufern oder gar dem Papst selbst – so verlieren wir doch die Menschen aus den Augen, für die Christus sein Leben gegeben hat. Will er nicht alle zu sich ziehen, an sein liebend Herz?“

„So sehr wütet also der Teufel im Leben des Martinus?“, fragte ich erneut.

„Ihr könnt nicht richtig zuhören“, beschwerte sich Katharina. „Jedenfalls nicht mir. Martinus denkt, es wären die Teufel. Ich weiß jedoch, dass es keine Teufel sind.“

„Was ist es dann?“

„Hirngespinste. Und daran gingen schon mehrere Tintenfässer zu Bruch. Tinte, teure, schöne Tinte, die die Ängste vertreiben soll. Schreiben soll er damit, das teure Wort Gottes schreiben, damit alle von der Hilfe Christi in Deutsch lesen können. Schreiben und nicht an die Wand werfen! Die Tinte ist die schärfste Waffe meines werten Martinus. Die Teufel, die ihn treiben, sind nichts anderes als Angst: Die Angst vor seinen Verfolgern, die Angst, nicht genug Zeit für die Übersetzungen zu haben, und dann sind da noch die vielen Ängste, wenn ihn sein schwacher Körper martert. Wo er in allem und jedem die Teufel sieht, sehe ich schlichte Menschenkinder: Juden, Heiden, Christen – allesamt sind das Werk des einen Gottes.“

„Und das sagt Ihr ihm etwa auch so?“

„Ja, das sage ich ihm so, und manchmal wird er darüber ruhiger. Aber nur allzu oft plappert er doch immer noch seine alten Litaneien daher, grade als ob er noch ein Mönch sei und nicht die Liebe Gottes erlebt habe. Es braucht seine Zeit, bis ein Christenmensch wirklich zur Freude und zum Frieden findet. Auch mein Martinus traut dem allmächtigen Gott manchmal sehr wenig zu.“ Dann überlegte sie und ergänzte: „Doch mir fällt eine Wunderwaffe ein, eine Zeit, in der alle Ängste und Teufel weichen müssen.“

„Und, welche Waffe ist es?“

Da lachte die Frau glücklich und wohlgemut: „Singen. Wenn wir von Gottes Kraft und Liebe singen und unsere Ängste und Bitten Gott nicht verschweigen, dann ist Gott unter uns und vertreibt alle Angst und Not. Ein Lied ist ein Gebet, das gesungen zur Medizin und Seligmachung dient. Mein Martinus versteht es auch in Nöten und Anfechtung, solche Wunder zu vollbringen.“ Und als ob das nicht genug sei, begann sie zu singen, und der kleine Hans stimmte begeistert ein. Der Knabe auf meinem Schoß klatschte sogar mit den Händen und sang in seinem kindlichen Kauderwelsch mit.

Einen Vers nach dem andern sangen sie, obwohl ich sie nicht darum gebeten hatte. Der Knabe verlangte gar ein Lied ums andere, und obwohl die Zeit noch nicht auf Weihnachten zuging, sangen sie vom Kripplein und Jesuskind: „Er ist auf Erden kommen arm, dass er sich unser erbarm und in dem Himmel mache reich und seinen lieben Engeln gleich. Kyrieleis. Das hat er alles für uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an. Des freu sich alle Christenheit und dank im des in Ewigkeit. Kyrieleis.“

Ich war überrascht, dass der Knabe so laut mitsingen konnte. „Wie kommt es, dass der Junge, der so lange nichts gesagt hat, plötzlich singen kann?“, fragte ich erstaunt.

„Wir haben Hans beigebracht, dass er nur sprechen darf, wenn wir ihn etwas fragen, denn sonst plappert er ständig in die Gespräche hinein. Aber wenn wir singen, dann weiß er, dass sich Gott über jeden Lobpreis freut, selbst wenn das Lob aus Kindermund kommt. Ja, Gott freut sich über den undeutlichen Gesang der Kinder“, beendete sie zufrieden das Gespräch.

Das Kind hatte die Rede der Mutter gehört und schaute zu mir hinauf, was ich dazu zu sagen hätte. Darauf war ich nicht gefasst, aber ich erkundigte mich, wie alt denn der Junge sei.

„Ihr wollt nachrechnen, ob wir schon vor der Hochzeit das Bett miteinander teilten?“, bemerkte die Lutherin. „Falls ihr wie Erasmus von Rotterdam meint, da wäre der Teufel mit im Spiel gewesen und Hans wäre in Sünde gezeugt und geboren worden, muss ich Euch enttäuschen. Unser lieber Hans ist nun ein und ein halbes Jahr alt. Und so Gott will, wird er über wenige Wochen ein Geschwisterchen bekommen. Viele haben davon geredet, unsere Kinder würden mit Pferdefuß und Hörnern auf die Welt kommen und wären von Schwielen übersät, da ein Mönch und eine Nonne miteinander gehurt hätten. Aber wie Ihr seht, ist bei Hans alles an seinem Platz: Die blanken Augen, die reinen Ohren, seine flinken Beine und die lieben Händchen.“ Voller Stolz rief sie zu Hans: „Hans, bist du nicht unser größter Schatz auf Erden?“

Und der Knabe antwortete brav: „Hans, großer Satz.“ Als Zeichen reckte er beide Arme weit über seinen Kopf hinaus, dass ich ihn gut festhalten musste.

„Warum bringt Ihr dieses Kind in Gefahr, indem Ihr es heute mit auf die Reise nehmt?“, fragte ich die Lutherin.

„Mir ist nichts Besseres eingefallen. Ihr müsst wissen, dass die Mutter Luthers nicht nur alt und gebrechlich ist. Ihre Seele hat sich verfinstert über all den Ängsten, die sie erlitten hat. Sie will nicht mehr ihr Haus verlassen und auf einer Straße gehen oder fahren. So dachte ich bei mir, dass es nur unser Hänschen vermag, seine Großmutter zu uns nach Wittenberg zu locken. Ich werde ihr sagen, dass sie den Jungen hüten soll und ich sie für das nächste Kind ebenso brauche. Ich werde sie auf der Fahrt hinten in den Planwagen legen, und Hänschen wird sich zu ihr legen. Darüber, ich bin mir sicher, wird sie ihre Angst vergessen. Denn wer könnte sich je um sich selbst ängstigen, wenn man ein Kind zu hüten hat?“

Ich sah auf den Jungen hinab und merkte, dass er eingeschlafen war. So plötzlich, wie er zu singen begonnen hatte, so unvermutet war sein Köpfchen vornübergesunken. Ich knöpfte mir vorsichtig meinen weiten Mantel auf, hob ihn über den Buben und knöpfte ihn über uns beiden wieder zusammen. So war er warm, und da ich die oberen Knöpfe nicht geschlossen hatte, konnte er gut atmen.

„Danke“, sagte Katharina: „Gott selbst hat Euch heute gleich einem Engel zu uns geschickt.“ Das sagte sie aufrichtig, obwohl sie offenbar genau wusste, dass ich nicht als Freund der Familie gekommen war. Als ob sie meine Gedanken erraten hätte, rief sie: „Auch Judas war wichtig im Heilsplane Gottes. Doch besser wäre es ihm hernach gegangen, wenn er von Saulus zu Paulus geworden wäre. Gott freut sich über jeden Sünder, der umkehrt und an seinem Reich baut.“

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu schweigen. Und selbst dabei hatte ich genug zu tun, denn die Lutherin trieb die Pferde ohne Unterlass über die aufgeweichten Landstraßen. Wenn ihr ein Fahrzeug entgegenkam, suchte sie keine Ausweichstelle, sondern fuhr ungezügelt an der Kutsche vorbei, dass sich der Wagen dabei mehrmals so stark nach rechts neigte, dass ich befürchtete, vom Bock zu fallen. Dabei war ich kein ängstlicher Mann.

„Hätte Euch Luther nicht lieber hinter dem Ofen, als hochschwanger auf dem Kutschbock – dazu noch mit einem fremden Mann an der Seite?“, fragte ich.

„Das würde sich mein liebster Martinus gewiss von Herzen wünschen. Doch unser beider Wunsch ist es, nun endlich seine alten Eltern zu uns zu holen. Da jedoch Martinus noch einige Tage fort ist, liegt es an mir, die Fahrt zu besorgen. Gewiss hätte ich den Auftrag auch anderen übergeben können. Aber die kleinen Kinder brauchen die Mutter und verwirrte Eltern die Tochter. Da nützen kein Gesinde und kein Geld. Ich muss mich eilen, weil ich mich gleich wieder auf den Heimweg machen muss. Ich denke, eine meiner Sauen wird wohl in der Nacht noch ferkeln. Ich muss vor dem Abend wieder in Wittenberg sein.“

 

„Hat Luther denn keine zuverlässigen Knechte eingestellt?“

„Die Knechte und Mägde stelle ich selbst ein, und sie sind zuverlässig; wenn jedoch Segen auf der Wirtschaft liegen soll, so will die Saat von der Herrschaft in die Felder gebracht werden, und ebenso soll der Hausherr bei den Geburten von Tieren zugegen sein.“

Selbstverständlich hatte sie von sich als „Hausherr“ gesprochen. „Mutet Ihr Euch nicht zu viel zu?“

Wieder lachte die Frau an meiner Seite: „Ja, ich mute mir viel zu. Und doch ist es nur ein geringer Teil von dem, was ich alles vollbringen will. Doch Ihr müsst wissen, nicht mein Martinus bürdet mir die Arbeit auf – ich selbst habe dieses Leben an Martinus‘ Seite gewählt.“

„Ich denke, Ihr habt gewählt, eine Nonne zu sein.“

„So hatten es die Eltern vorbestimmt, als sie mich mit sechs Jahren ins Kloster gebracht hatten. Aber ich lobe den Tag, als ich die Mauern verlassen konnte. Jeden Tag danke ich Gott dafür, denn jetzt führe ich das Leben, für das ich bestimmt wurde. Ich danke es Gott und den Freunden Luthers.“

„Wer hat Euch geholfen, wie sind deren Namen?“

„Das tut nichts zur Sache, denn ich wäre auch alleine entflohen.“

„War es so schlimm im Kloster?“

„Nein, es war nicht schlimm im Kloster, denn ich hatte es besser als jede Frau aus der Stadt. Im Kloster hielten wir zusammen und waren besser versorgt, als es in den Familien geschieht, außerdem war es mir immer eine Freude, Gott zu loben.“

„So habt Ihr im Kloster durch die Türen geschaut, Luther erblickt und ihn zum Mann haben wollen?“

Über meiner Frage begann Katharina laut zu prusten: „In diesen Mann kann sich doch keine Frau auf den ersten Blick verlieben! Er ist mürrisch und fett und grob in der Sprache.“ Sie lachte und lachte.

„Aber Ihr sagtet doch zuvor, dass Ihr ihn wolltet!“

„Langsam, langsam. Als ich noch im Kloster war, sah ich Luther überhaupt nicht. Aber wir bekamen seine übersetzten Bibelabschriften zu lesen. Als ich die Worte Gottes nicht nur auf Latein, sondern auch auf Deutsch lesen konnte, da rannen mir vor Freude die Tränen über die Wangen; und Ihr müsst wissen, ich bin keine Frau, die schnell weint! Und dann begegneten mir immer öfter Menschen, die von Gottes Liebe und Vergebung sprachen, ohne Ablass zu bezahlen, den sie auch gar nicht hätten aufbringen können. Ich ahnte, dass sich die frohe Botschaft in einer Weise ausbreiten will, wie es noch nie vernommen wurde, als ob Christus selbst wieder vom Himmel stiege. Luther sah ich das erste Mal zwei Tage nach meiner Flucht. Ich war seiner Lehre zugetan, aber ich fand ihn so hässlich wie alle anderen Mönche, die mir begegnet waren.“

„So hat er Euch gar gezwungen?“

„Nein, nein. Er wollte mich ja ständig mit einem andern verheiraten. Er wollte, dass alle entlaufenen Nonnen brave Pfarrfrauen würden.“ Katharina schwieg eine Weile und erklärte dann: „Ich liebte Hieronymus Baumgärtner von ganzem Herzen. Er studierte zu Wittenberg, und er wollte mich ehelichen. Doch seine Eltern verboten ihm, eine entlaufene Nonne als Schwiegertochter zu bringen. So ließ er mich im Stich. Nicht im Stich ließ mich jedoch Martinus, der sich weiter sorgte, welchen Mann ich denn ehelichen könnte. Aber mir gefiel keiner von denen, die er mir vorschlug. Was mir gefiel, war ein Leben an der Seite Luthers. Als er mich wieder drangsalierte zu heiraten, sagte ich es in aller Öffentlichkeit, dass ich am liebsten ihn selber heiraten wolle. Darüber hat er gespottet und es allen weitererzählt. Da drehten seine Kollegen den Spieß um und sagten: ‚Du zwingst uns zu heiraten, aber selber nimmst du dir keine Frau.‘ Er entschuldigte sich damit, dass er ja in ständiger Lebensgefahr sei und nicht ehelichen könne … Seinen Eltern erzählte er auch von mir, und die waren es, die ihm ins Gewissen redeten, weil sie mich zur Schwiegertochter wünschten.“

„So seid Ihr den Bund der Ehe eingegangen, ohne einander wirklich zu begehren?“

„Jedenfalls begehrten wir uns nicht vor der Ehe. Die Liebe wuchs jedoch von der Stunde an, als wir Ja sagten. Und um nichts auf der Welt wollten wir uns nun missen.“ Katharina machte wieder eine Pause und sprach zufrieden: „Mein Martinus muss mich nirgends hinschicken und zu keiner Arbeit oder Liebesdiensten ermuntern, denn es ist alles so, wie ich es selbst gewählt habe.“

„Verzeih, werte Lutherin, aber ich habe auch gehört, dass Luther gesagt habe, er würde Euch eine Backpfeife geben, wenn Ihr ihm noch einmal bei Tisch widersprechen würdet.“

„Ja, das hat er gesagt, und er sagte auch, dass er, wenn er noch einmal freien würde, sich ein gehorsam Weib aus Stein hauen würde.“

„So hat er also bereut, was er tat?“

Doch auch daraufhin lachte das Weib nur: „Wer bereut nicht ab und zu das, wofür er sein Leben hingibt? Und wie stünde ein Mann da, der sich nicht ab und zu seiner Frau laut überlegen zeigt?“

Wir fuhren durch ein schmales Tor in ein großes Gehöft ein. Katharina lenkte den Wagen im Innenhof einmal um den Brunnen und brachte ihn zum Stehen. Wie auf ein geheimes Zeichen wachte Hans auf und gähnte. „Wir sind da, Hans!“, rief die Lutherin.

Ich erhob mich, steif vom langen Sitzen. Ich wollte nicht Luthers Eltern begegnen. Wer weiß, ob sie mich erkannt hätten? Ich wickelte den Jungen aus meinem Mantel und hob ihn der Lutherin auf den Arm.

„Danke. Ihr habt unseren Sohn gehalten, wie ein Vater ihn halten würde.“ Sie blickte mit weichen Augen auf den kleinen Hans. Langsam regte sich Leben im Hof. „Wir wollen keine Zeit verlieren“, redete die Lutherin weiter.

„Das ist auch in meinem Sinn“, gab ich ihr zur Antwort.

„Ihr sollt Euch hier noch stärken. Ihr könnt auch gewiss über Nacht beiben, aber ich habe jetzt zu tun.“

Ich verneigte mich vor ihr, doch sie gab mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange und sagte, ich sei ihr immer ein willkommener Gast. Hans sprach es ihr nach. Ich hatte während der Fahrt einen kleinen Freund gefunden. Ohne sich umzuschauen, verschwand sie mit Hans hinter der dicken Holztür. Sie hatte mich wohl schon vergessen.

Das Gesinde sammelte sich auf dem Hof, der Gastwirt wollte auch ein gutes Geschäft mit mir machen. Und mir brannte noch der herzliche Kuss der Lutherin auf meiner Wange, weil ich ihren Sohn gehalten hatte.

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