Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie

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Aus der Reihe: EHP-Praxis
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2. Der Humor

»Als echter Polarist trägt dieser Philosoph seinen Schalknarren im Busen. Er hat ihn Mynona getauft und mit seinen Eulenspiegeleien, seinen berühmten Grotesken, die Welt der Philister unsicher gemacht. Man lese ›Rosa, die schöne Schutzmannsfrau‹, die ›Bank der Spötter‹, die ›Graue Magie‹ oder gar den herrlichen ›Schöpfer‹ und man wird verstehen, was es heißt: die Kappe werf’ ich in die Luft – denn ich entsprang!« (Udo Rukser, GS 3, 877)

Friedlaender hatte ein alter ego: Mynona (anonyM murehsredna). Und Mynona schrieb vor allem Grotesken. Diese innovative literarische Ausdrucksform hat er wesentlich geprägt und virtuos beherrscht: »Kein deutschsprachiger Autor vor ihm und nach ihm hat die Form der Groteske zu solcher Meisterschaft entwickelt und so souverän gehandhabt wie Mynona.« (H. Geerken in M 1980, Bd. 2, 288) In den verqueren Geschichten, deren Anspielungen auf zeitgenössische Personen und Ereignisse heute leider oft unverständlich sind, erweist er sich, der »geradezu zirzensische Sprachartist«, als spielerischer Wortjongleur und kreativer Buchstabenanarchist, der an verfestigte und erstarrte Sprech- und Denkmuster rüttelt, um neuen Ausdrucksmöglichkeiten Raum zu schaffen. Er stellt die Dinge auf den Kopf und verdreht die Perspektiven in einem »Fasching der Logik« (Titel in F 1913). In »Trappistenstreik« z. B. verkehrt sich der streng asketische Schweigeorden in eine gröhlend zechende Meute (M 1922). Da wird jemand »durch allzu stürmische Verehrerinnen in die zweite Dimension zurückgedrängt, d. h. buchstäblich plattgeschlagen« (M 1980, Bd. 1, 67). Oder da »war eine Stille entstanden, wie sie nur zwei Tote mit vereinten Kräften bewerkstelligen können« (M 1919, 5). Die Ehe ist ein »Trauringkampf«. Er spricht vom »Königsberger Intelligenzklops«, »Immanuel (Unbe-)Kant« (M 1931, 51), von einem »Saufruf an mein Volk« (1919, 387), kreiert Wortschöpfungen wie »Hinterpretation« (M 1931, 49), »Zionanie, Ejakulyriker, Nebenbeischlaf« (M 1980, Bd. 2, 302 f.).

Schon früh (M 1922) warnt Mynona scharfsichtig vor den aufkommenden »Hakenkreuzgrünschnäbeln« und deren antisemitischem Ungeist. In der Groteske »Fast Nacht« von 1934 (in M 1980, Bd. 1, 227–229) karikiert er dann in gallenbitterer Satire das »runenalte Zauberland Hintlerien«, in dem »zur Fastnacht das Progrommaterial auszugehen droht«, da der »Antise-Mitmensch« die Juden bereits zu stark dezimiert hat. Um dem entgegenzuwirken, inszenieren das »Verführerlein«, der »weniger hochbetagte als vielmehr tiefumnachtete Landespapa« und sein »Propaghandi« oder »Propagauner« eine projüdische Kampagne, die das nun philosemitisch manipulierte Volk dazu bringt, in »Juda du Recke!«-Rufe auszubrechen. Dass der Verfasser derartig entlarvender Texte sich nach der nazistischen Machtergreifung ins Exil retten musste, bedarf keiner weiteren Erklärung (Frambach 1996, 16).

Mir ist es ausgesprochen sympathisch, dass dieser Philosoph nicht nur ernsthaft philosophiert, sondern auch seinen Humor kreativ auslebt. Und das ist für ihn nicht nur eine Beschäftigung neben seiner Philosophie, sondern zutiefst mit ihr verbunden.

»Mynona war und ist ein wohltuendes Gegengewicht gegen den Verfasser der Schöpferischen Indifferenz, die Zerstreuung zu dieser Anspannung, das Alkali zu dieser Säure, das Sichgehenlassen einer in Friedlaender verborgenen Disziplin, die Liederlichkeit meines strengen Anstandes (ohne den ich wirklich ein Luder wäre).« (Brief v. 1918; GS 4, 17)

Er sieht sich gleichsam als Doppelexistenz: »Ich bin ernsthafter Philosoph und Humorist in Personal-Union.« (F 1982, 35) Die humorig grotesken Geschichten sind für ihn spielerische Umsetzungen seiner philosophischen Überzeugungen: »Groteske Verzerrung ist die Kraft- und Belastungsprobe der seelischen Fähigkeit, Umfänglichkeit und Elastizität; die Rechnungsprobe auf die Richtigkeit des metaphysischen Prinzips der schöpferischen Indifferenz polarer Observanz.«4 Der Humor ist ihm Gegenpol zu seinem konsequenten strengen Denken und macht ihn geistig flexibel. »Ohne Spielzeug bei mir kein Ernstzeug.« (Tagebuch 5, März 1934) Damit aus dem Ernst kein tödlicher Ernst wird, kein Fanatismus, keine intolerante Ideologie, darum ist der Humor wichtig. »Es ist der Test jeder guten Religion, ob man über sie Witze machen kann.« (Gilbert Chesterton) Auch, ob sie Witze machen kann, möchte ich ergänzen. Das gilt nicht nur für Religionen, sondern auch für Philosophien, Ideologien, Weltanschauungen aller Art. Auch für Psychotherapieansätze.

Auch Fritz Perls hatte durchaus eine humoristische Ader, die sich z. B. in den selbstironischen Karikaturen seiner Autobiografie ausdrückte.

Der Humor wird viel zu wenig ernst genommen. Und wie gesagt, darum ist es mir so sympathisch, dass Friedlaender den Humor in sein Philosophieren integriert. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass ich selbst eine Neigung zu satirischem Humor habe: »Psychologie des Gartenzwergs. Eine psycho-soziale Studie über eine kleine Existenzform von großer Bedeutung.« (Frambach 1998, verfasst 1983)

Die Doppelung Friedlaender/Mynona benennt den ganzen geistigen Menschen. Darum ist es richtig, dass Detlef Thiel konsequent das Kürzel F/M verwendet. Ich spreche meist von Friedlaender, da ich mich auch meist auf den Philosophen der Personalunion beziehe.

3. Die Mystik

Dieser Punkt ist mir bei Weitem der wichtigste. Und darum ist er auch bei Weitem umfangreicher als die ersten beiden Aspekte.

Schon vor meinem Studium der Theologie habe ich mich für Mystik interessiert. Für christliche Mystik und Kontemplation, die Praxis der Mystik, aber auch für Mystik in anderen Religionen, insbesondere den Zen-Buddhismus. Hugo Enomiya-Lassalle (1898–1990), der Pionier des Zen im christlichen Raum, war mein wichtigster Lehrer der meditativen Praxis, aber ich beschäftigte mich auch mit der Philosophie des Zen, z. B. der Kyoto-Schule von Nishida und seinen Nachfolgern. Auf die Gestalttherapie stieß ich dann gegen Ende der Siebziger-Jahre. Zuerst machte ich eine Ausbildung beim Nürnberger Arbeitskreis für Gestalttherapie, dem heutigen Symbolon-Institut, später am Fritz-Perls-Institut. An der Gestalttherapie hat mich der erfahrungsbezogene, experimentelle Charakter angezogen, speziell die Betonung der »Awareness«, der in der Leiblichkeit gegründeten Bewusstheit im Hier-und-Jetzt. Das waren Aspekte, die ich auch von christlicher Mystik und Zen her kannte. Aber insgesamt hatte mich meine geistige Suche eher intuitiv als reflektiert zu Mystik, Zen und Gestalttherapie geführt. Nun wollte ich tiefer und bewusster verstehen, was diese drei Bereiche verband, das prinzipiell Gemeinsame. Nach jahrelanger intensiver, wenn auch nicht sehr systematischer Auseinandersetzung in Praxis und Theorie erschloss sich mir im Sommer 1986 ein neues vertieftes Verständnis. Struktur und Dynamik des Prozesses, der diesen drei Bereichen gemeinsam ist, wenn auch auf verschiedene Inhalte bezogen, wurden mir bewusst in einer spontanen Einsichtserfahrung, die mich auch emotional tief bewegte. (Von wegen Denken im Sinne einer intensiven geistigen Suche hat nichts mit Gefühlen zu tun!) Ich habe das in meiner Dissertation ausgearbeitet, die 1994 leicht verändert unter dem Titel »Identität und Befreiung in Gestalttherapie, Zen und christlicher Spiritualität« erschienen ist. Entscheidend für dieses Prozessverständnis war für mich Friedlaenders Philosophie schöpferischer Indifferenz und polarer Differenzierung. Dadurch konnte ich nicht nur das von Perls unklar beschriebene »Fünf-Schichten-Modell« der Neurose als Phasen von Fixierung, Differenzierung, Diffusion, Vakuum und Integration stimmig interpretieren, sondern auch den existenziellen Prozess im Zen und der christlichen Mystik.

Friedlaender ist für mich ein philosophischer Mystiker. Darum ist seine Philosophie auch in religiöser Hinsicht relevant. Er ist kein religiöser Mystiker, in keiner Weise einer bestimmten Religion zuzuordnen, auch nicht der jüdischen. Er ist ein religiös unabhängiger Freigeist und sieht sich nur der philosophisch stimmigen Erkenntnis verbunden. In hinduistischen Kategorien würde man ihn dem Jnana-Yoga zuordnen, dem Weg zur Befreiung durch Wissen und Erkenntnis. Mystik ist nicht nur als ein religiöses Phänomen zu verstehen. Hilarion Petzold (1983) spricht im Rahmen seines umfassenden Ansatzes der sogenannten Integrativen Therapie von »Säkularer Mystik«. Mystik ist ein allgemeinmenschliches, kultur- und religionsübergreifendes Phänomen und nicht nur auf die Sphäre des Religiösen beschränkt.

Das Verhältnis des Absoluten zum Relativen, der Transzendenz zur Immanenz oder, theistisch-religiös ausgedrückt, von Gott zur Welt, das ist nach meinem Verstehen das zentrale Thema von Friedlaender, das er in seiner ureigenen Terminologie ausdrückt. Und damit ist er nah an mystisch-religiösen Einsichten, wie z. B. von Meister Eckhart (um 1260–1328), den er sehr schätzt: »Eckehardt entzückt mich, er ist der göttliche Freigeist fast schon im allerreinsten Sinne.« (F/K 1986, 35) Am Beispiel einer für Eckharts Gottesverständnis zentralen Aussage möchte ich verdeutlichen, wie relevant Friedlaender für den Bereich der Mystik ist. Eckhart schreibt: »Gott aber unterscheidet sich durch seine Ununterschiedenheit, seine Unendlichkeit, von allem Geschaffenen, Unterschiedenen, Endlichen …«5

Gott unterscheidet sich durch Ununterschiedenheit. Das trifft sich mit den grundlegenden Einsichten von Friedlaender.

»Das allerallgemeinste Merkmal aller möglichen Phänomene ist der Unterschied, die Differenz.« (GS 10, 98) Damit ein Phänomen existent und wahrnehmbar sein kann, muss es im Gegensatz zu etwas Anderem stehen, sich von etwas Anderem unterscheiden, different sein. Das grundlegendste Gestaltungsprinzip, das die Differenz der Phänomene strukturiert, ist die Polarität, der Urgegensatz, der Urunterschied. »Auch die allerkomplizierteste Relativität lässt sich in korrelative Paare auflösen.« (GS 10, 155)

 

Geht man der relativen Wirklichkeit konsequent auf den Grund, so lässt sie sich auf polare Verhältnisse zurückführen wie plus und minus, ein und aus, groß und klein, hoch und tief, nah und fern, abstoßen und anziehen, geben und empfangen usw. »Polarität ist der Ariadnefaden im Labyrinthe der Welt.« (GS 10, 432) Pole sind nach Friedlaenders Definition exakt entgegengesetzt wie plus und minus, sie sind »oppositiv (spiegelhaft) homogen« (GS 10, 135), sie sind identisch, aber mit umgekehrtem Vorzeichen. Polarität ist nicht nur eine philosophische Theorie, die eine interessante Geschichte und Interpretation hat (Thiel 2012, 27 ff.), sondern wissenschaftlich in allen Wissensgebieten nachzuweisen (Höhl/Kessler 1974; Köhne 1981, 1983), wie z. B. in der Quantenphysik (Welle-Teilchen-Dualismus; Komplementaritätsprinzip, Nils Bohr) oder der Struktur der DNA mit 64 polaren Kombinationsmöglichkeiten. Aber Friedlaenders philosophischer Blick richtet sich vor allem auf die Mitte der Polaritäten, auf deren Indifferenz:

»Seit Alters her hat man beim Polarisieren mehr auf die Pole als auf deren Indifferenz geachtet. In dieser aber steckt das eigentliche Geheimnis, der schöpferische Wille, der Polarisierende selber, der objektiv eben gar nichts ist. Ohne ihn aber gäbe es keine Welt.« (GS 10, 436)

Diese Indifferenz ist die schöpferische Zentraldimension der Wirklichkeit, genauer die »Immension aller Dimension« (GS 10, 440), die Friedlaenders Denken in immer neuer Variation unermüdlich umkreist. Das prinzipielle Problem dabei ist, dass es sich eben um nichts Differenziertes, Unterscheidbares handelt, das darum negativ als Nichts missverstanden wird: »Es herrscht ein Lebens- und Denkfehler: man verwechselt das Nichts von plus und minus mit dem minus.« (GS 10, 133). Die »monströse Überschätzung des Differenzierten« (GS 10, 120) führt zum Ignorieren der indifferent-zentralen Wirklichkeit, dessen, was wirklich wirkt:

»Grade das Nichts des Unterschieds ist dessen Schöpfer, die Realität der Realitäten, verglichen mit welche Unterschiede bereits subaltern sind, späte Sinnenfälligkeit. Gerade das objektive Nichts ist das subjektive Herz der Welt.« (GS 10, 120)

3.1 Mystische (Theo)-Logik

Betreiben wir nun etwas mystische (Theo)-Logik im Sinne von Meister Eckhart und Friedlaender. Wer oder was auch immer sich von der differenzierten Welt der Phänomene, des Relativen durch Ununterschiedenheit unterscheidet, steht dazu in einem Verhältnis, dass das herkömmliche Denken transzendiert und die logischen wie auch sprachlichen Ausdrucksformen übersteigt. Wir kommen in den Bereich des Paradoxen (griech. para dokein kann als das Denken übersteigend interpretiert werden). Denn das normale Denken, der Intellekt, beruht auf dem Prinzip des Unterscheidens. Ich habe das in einem Aufsatz mit dem merkwürdigen Titel »Von der Unfähigkeit des Intellekts das Absolute zu erkennen oder der Wettlauf zwischen Hase und Igel« (1996 veröffentlicht, 1989 verfasst) versucht zu erklären. Das intellektuelle Unterscheiden funktioniert wie das visuelle Unterscheiden, das Sehen, nach dem Vordergrund/Hintergrund-Prinzip. Wenn im Vordergrund etwas erkannt wird, etwas als Figur Gestalt wird, worauf sich das unterscheidende Erkennen und Wahrnehmen scharf stellt, dann wird immer etwas nicht erkannt, nämlich der Hintergrund, der unscharf und diffus wird.


An der bekannten Rubinischen Kippfigur kann das gut eingesehen werden. Entweder man sieht die Vase oder die zwei Gesichtsprofile. Beides zugleich können wir nicht sehen. Anders ausgedrückt: Das Ganze, das Absolute, wird durch unser unterscheidendes Erkennen immer in zwei unterschieden.

Dieses Ganze oder Absolute kann im Zusammenhang der Vordergrund/ Hintergrund-Differenzierung als der Grund verstanden werden. Das ist für mein Verständnis der Gestalttherapie wie auch von Zen und christlicher Mystik von zentraler Bedeutung. Wie vorne und hinten sind Vordergrund und Hintergrund polar, entsprechen der polaren Differenzierung. Der Grund ist kein mit dem unterscheidenden Intellekt erkennbares Phänomen. Er entspricht der Mitte der polaren Differenzierung, der schöpferischen Indifferenz. Er ist das, was sich in Vordergrund und Hintergrund differenziert. Im Daoismus wird der Grund durch den leeren Kreis symbolisiert, der sich als Phänomen in die Polarität von Yin und Yang differenziert.

Der Grund ist ein in Philosophie und Religion nicht selten zentraler Terminus. Ich beschränke mich hier auf das Verständnis bei Meister Eckhart. Bei Eckhart ist der »grunt« von entscheidender Bedeutung für das Verhältnis von Gott und Welt sowie die mystische Gotteserfahrung. Ernst Waldschütz hat dem »Denken und Erfahren des Grundes« (1989) bei Eckhart ein gründliches Buch gewidmet. Der Grund ist nach Waldschütz »das Allerselbstverständlichste, das oft gerade nicht bemerkt wird – doch Eckhart ruft es in Erinnerung.« (ebd. 120) Der »grunt«, den er auch als »boden reif aller creaturen« (DW I 225, 5 f.) bezeichnet, ist so grundlegend, dass ihn Eckhart einfach »isticheit« nennt, was Waldschütz mit dem Begriff der »So-heit« im Buddhismus (ebd. 325) in Beziehung setzt. Weiter sieht er bei Eckhart eine den grundsätzlichen Gegensatz von Subjekt und Objekt transzendierende Auffassung, die an die »Nondualität« (Loy 1988) erinnert, die für fernöstliche Spiritualität kennzeichnend ist: »Die Einheit des Grundes bedeutet, dass ein Denken in der Zweiheit von Subjekt und Objekt nicht nur nicht möglich, sondern völlig inadäquat ist.« (ebd. 341) »Mit der Objektivität des vorstellenden Denkens verschwindet auch die Subjektivität und es tritt etwas Neues ein, jenseits dieser Zweiheit, besser: diese Zweiheit immer schon unterlaufend und in einer ursprünglichen Einheit versammelnd.« (ebd. 333)

Die Einsichten von Eckhart und Friedlaender zu Gott und schöpferischer Indifferenz übersteigen die Prinzipien der klassischen aristotelischen Logik. Sich durch »Ununterschiedenheit unterscheiden« transzendiert das fundamentale logische Prinzip des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten: »Tertium non datur.« (Ein Drittes gibt es nicht.) Was ununterschieden, indifferent ist, das ist identisch, dasselbe. Das besagt der »Satz der Identität des Ununterscheidbaren«, Principium identitatis indiscernibilium. Und daher kann es sich nicht unterscheiden. Sonst wäre es unterschieden, different, anders. Und eben nicht ununterscheidbar. Die mystische Logik von Eckhart und Friedlaender besagt nun, dass der Satz der Identität wie auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten hier nicht gilt. Eine Entsprechung in der Zen-Philosophie ist die Logik des »soku-hi«, was man als »Ist gleich-Ist nicht-Logik« übersetzen könnte, die sich auf das berühmte logische Tetralemma des buddhistischen Philosophen Nagarjuna (2./3. Jh. n. Chr.) zurückführen lässt (Frambach 1994, 318 f.).

Interessant, dass der logische Grundsatz des »Tertium non datur« auch anders ausgedrückt werden kann. Im Englischen ist die Bezeichnung »Law of the Excluded Middle« üblicher, womit das inhaltlich identische »Prinzip des zwischen zwei kontradiktorischen Gegensätzen stehenden ausgeschlossenen Mittleren« (principium exclusi tertii sive medii inter duo contradictoria) wiedergegeben wird.

»Mitte! Das ist ein Zauberwort« (F/K 1986, 220), schreibt Friedlaender in einem Brief an seinen Freund, den Zeichner Alfred Kubin. Nebenbei: Auch Perls spricht schlicht vom »Finden einer Mitte« (1969, 32) als dem Ziel von Therapie. Und Friedlaender behauptet nun eben dies, dass diese Mitte logisch nicht ausgeschlossen ist, sondern dass sich in ihr das schöpferische Prinzip der Welt verbirgt. Was es dafür braucht, dies zu erkennen, ist eine grundlegend veränderte geistige Sichtweise. Friedlaender sieht seine Philosophie als Anleitung zu einer »Orthopädie des Lebens, das noch immer verrenkt ist« (F/K 1986, 210). Er will die Perspektive prinzipiell, von Grund auf, in ihre polar ordnende Mitte renken:

»Das Fundament der Dinge ist daher nicht ihre untere Grund-, sondern ihre zentrale Mittellage, die Dinge sind polar. Das ›Unten‹ ist die Mitte des polaren ›Oben‹.« – »Man meint, das sei ein Gegensatz: hie Wesen, dort Erscheinung; hie ›Jenseits‹, dort ›Diesseits‹: – aber der Gegensatz besteht allein in der Erscheinung, im ›Diesseits‹: das ›Wesen‹ dagegen ist kein ›Jenseits‹, es ist das Inmitten, es ist der schöpferische Berührungspunkt der unterschiedenen, vereinzelten Erscheinungen. Es ist nichts, das heißt nichts Unterscheidbares. Alles andere Verstehen des Nichts ist Missverständnis.« (GS 10, 139 u. 129)

Friedlaender wird nicht müde, in immer neuen Variationen auf diese Mitte der schöpferischen Indifferenz hinzuweisen, die sich aber, nach meinem Verständnis, dem Erkennen des unterscheidenden Intellekts entzieht. Nicht dem Erkennen insgesamt! Aber es bedarf einer neuen Weise des Erkennens, der Einsicht. Dazu später mehr.

Bei Nikolaus von Kues oder Nicolaus Cusanus (1401–1464), dem spekulativ mystischen Theologen und Philosophen am Beginn der Neuzeit, findet sich ein Begriff, der für unseren Zusammenhang aufschlussreich ist.6 1462 verfasst Cusanus seine Spätschrift De non aliud, »Vom Nicht-Anderen«, die von Kurt Flasch (1998, 565) als Höhepunkt und Quintessenz seines Denkens betrachtet wird, das von Begriffen wie der docta ignorantia, dem »Belehrten Nichtwissen«, oder der coincidentia oppositorum, dem »Zusammenfall der Gegensätze«, geprägt ist. In seinem Verständnis des Nicht-Anderen ist Nikolaus wohl auch stark von Meister Eckhart beeinflusst, auf den er sich namentlich allerdings fast nie bezieht, da dessen Lehre als häretisch verurteilt worden war. Non aliud, das oder der Nicht-Andere, fasst in einem Wort zusammen, was sich durch Ununterschiedenheit unterscheiden meint. Es verdichtet jene paradoxe, das unterscheidende Denken übersteigende Einsicht in die Transzendenz. Gott ist grundsätzlich anders als die Welt, weil er der Nicht-Andere ist. Denn das Anders-Sein, das Unterschiedensein, ist das fundamentale Kennzeichen der Welt. Gleichzeitig kann er, weil er der Nicht-Andere ist, auch nichts anderes, also unterschieden sein. Diese für das gewöhnlich logische Denken unverdauliche paradoxe Spannung, die auch in der hinduistischen A-dvaita (»Ohne-zweites«)-Lehre zu finden ist, ergibt sich bei einem mystischen Gottesverständnis. Der Gegensatz von Identität/Indifferenz und Differenz wird transzendiert in einer übergeordneten Identität, die Friedlaender schöpferische Indifferenz nennt.

Den Ausdruck des Nicht-Anderen kann man mit einem zentralen theologischen Motiv des protestantischen Theologen Karl Barth (1886–1968) aus der Anfangszeit seiner sogenannten Dialektischen Theologie kombinieren. Für Barth war Gott der »Ganz-Andere«. Er wollte damit die radikale Transzendenz Gottes betonen und bezog sich dabei auf den »unendlichen qualitativen Unterschied von Zeit und Ewigkeit« bei Sören Kierkegaard. Kombiniert ergibt das:

»Gott ist der Ganz-Andere, weil er der Nicht-Andere ist« (Frambach 1994, 312)

»Die Transzendenz, die Ganz-Andersheit Gottes, fällt zusammen mit seiner Nicht-Andersheit, seiner Immanenz. Das Absolute unterscheidet sich vom Relativen durch Nichtunterschiedenheit. Die Transzendenz der Wirklichkeit Gottes besteht gerade in ihrer radikalen Immanenz.« (ebd.)

»Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.« Dieser vielzitierte Satz von Dietrich Bonhoeffer aus Widerstand und Ergebung, seinen Aufzeichnungen aus dem NS-Gefängnis, bringt mit einfachen Worten zum Ausdruck, dass Gott nicht unter den unterscheidbaren Phänomenen der differenzierten Welt zu finden ist. Aber er ist nur die halbe Wahrheit. Polar symmetrisch ergänzt lautet die andere Hälfte: »Einen Gott, den es nicht gibt, gibt es.«

Die Frage nach der Existenz Gottes kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Sie übersteigt diese sich ausschließende Alternative. Wenn Hans Küng, dessen »Projekt Weltethos« ich sehr schätze, auf die Titelfrage seines umfang- und kenntnisreichen Buches »Existiert Gott?« (1978) abschließend mit einem klaren, überzeugten Ja antwortet, so kann ich dem nicht zustimmen. »Tertium datur«, es gibt dieses ausgeschlossene Dritte, die ausgeschlossene Mitte, worin die einfache Alternative von Ja und Nein überstiegen wird. Wobei »geben« wie »existieren« keine adäquaten Ausdrücke sind. »Die Dinge haben bloß Existenz, aber ihr persönliches Nichts hat Insistenz, es ist ihr Schöpfer und Quell« (GS 10, 129), schreibt Friedlaender.

 

Um auf die lebendige Mitte des Nichts der schöpferischen Indifferenz in der differenzierten Mannigfaltigkeit hinzuweisen, verwendet Friedlaender eine Vielzahl von Bezeichnungen: Ich, später oft Ich-Heliozentrum, Selbst, Wesen, Subjekt, Individuum, Identität, Person, Geist, Seele, das Absolute, ∞, Insistenz, Wille, Freiheit … Er legt sich nicht auf bestimmte definitive Wortetikettierungen fest, sondern versucht das letztlich Unbeschreibliche in kreativ vielperspektivischer Variation hinweisend zu umschreiben. Alle seine Aussagen, insbesondere (aber nicht nur) bezüglich der Indifferenz, sind »so gemeint, wie man überhaupt ehrlicher Weise etwas meinen kann: beweglich! Lebendig. Man soll sich an ihren Buchstaben nicht kehren, man soll, wo möglich, mit einem besseren ihre Bedeutung verdeutlichen« (F 1905, 203 f.).