Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik

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1.4 Entstehung des Handbuchs

Man kann eine Publikation besser einschätzen, wenn man ihre Genese ein wenig kennt. An diesem Handbuch sind viele Autor*innen in unterschiedlichem Umfang und in unterschiedlicher Funktion beteiligt. Unser Anliegen als Herausgeber*innen und Autor*innen war und ist es, ein Handbuch vorzulegen, das den aktuellen Stand der Forschungsmethodologie in der Fremdsprachendidaktik angemessen wiedergibt. Dazu war es erforderlich, die in einzelnen Forschungsverfahren führenden Wissenschaftler*innen für eine Autorschaft zu gewinnen. Das ist in erfreulichem Umfang gelungen. Wir danken allen Autor*innen für ihre konstruktive und geduldige Mitwirkung an diesem Band und der nun erfolgten Erweiterung und Aktualisierung in der zweiten Auflage.

Zugleich war es unser Ziel, ein in sich geschlossenes, kohärentes Handbuch vorzulegen, dessen Kapitel miteinander verschränkt sind und aufeinander Bezug nehmen und das auf einer von uns allen geteilten Vorstellung von Forschung in der Fremdsprachendidaktik basiert. Dieses gemeinsame Forschungsverständnis haben wir Herausgeber*innen uns in häufigen intensiven Diskussionen und breiten Recherchen über etwa fünf Jahre hinweg bis zum Erscheinen der ersten Auflage erarbeitet. Und wir haben diesen intensiven Diskurs bei der Arbeit an der zweiten Auflage fortgesetzt. Jedes Kapitel, das von einer/m von uns verfasst ist, wurde in allen Fassungen von allen gelesen, einer kritischen Analyse unterworfen, kommentiert, ergänzt und ausführlich besprochen. Insofern ist dieses Handbuch auch in all den Teilen, für die eine/r der vier Herausgeber*innen namentlich genannt ist, dennoch in vielerlei Hinsicht ein Gemeinschaftswerk.

Das heißt jedoch nicht, dass unser Ziel der Vereinheitlichung und Abstimmung immer bis in die Formulierungen hineinwirkt. Aufmerksame Leser*innen werden feststellen, dass sich durchaus noch unterschiedliche Schreibstile, verschiedene und unterschiedlich konsequente Arten des gendergerechten Schreibens und Variationen in der Verweisdichte ergeben haben.

Auch für die Konzeption und Struktur des Handbuches zeichnen wir – Daniela Caspari, Friederike Klippel, Michael K. Legutke, Karen Schramm – gemeinsam verantwortlich. Am Anfang stand die Idee eines Handbuchs, das die Situation der deutschen fremdsprachendidaktischen Forschung und insbesondere Kontexte und Erfordernisse der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses berücksichtigt. Der Erfolg der ersten Auflage bestätigt unseren Optimismus, ein diesbezüglich nützliches Handbuch geschrieben zu haben.

1.5 Zur zweiten Auflage

Es ist unser Anliegen, das Handbuch auf dem neuesten Stand zu halten. Darunter verstehen wir zum Ersten eine Aktualisierung der in der ersten Auflage enthaltenen Kapitel im Hinblick auf neue Erkenntnisse und Entwicklungen, auf die benutzte Literatur oder die Einbeziehung zusätzlicher Referenzarbeiten, zum Zweiten aber auch eine Erweiterung des Spektrums der Forschungsverfahren, die in den letzten Jahren eine stärkere Berücksichtigung erfahren haben. So enthält die zweite Auflage im zentralen Kapitel 5 zwei neue Unterkapitel, und zwar zur Dokumentarischen Methode (s. Kap. 5.3.4) und zu Test- und Fragebogenstatistik (s. Kap. 5.3.12). Zudem wurden mehrere Grafiken überarbeitet, Passagen in allen Kapiteln aktualisiert oder modifiziert und Literaturhinweise ausgetauscht oder ergänzt. Allerdings war es durch die Schließung der Bibliotheken während der Corona-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 nicht in allen Fällen möglich, Zitate mit eventuellen Neuauflagen der betreffenden Werke abzugleichen oder neu erschienene Publikationen einzusehen.

Wir danken zahlreichen Kolleg*innen aus der Wissenschaft, unseren Doktorand*innen und Habilitand*innen sowie vielen kritischen Leser*innen für konstruktive und ermutigende Rückmeldungen zur ersten Auflage. Diese haben uns motiviert und bei der Überarbeitung geleitet.

Daniela Caspari

Friederike Klippel

Michael K. Legutke

Karen Schramm

› Literatur

Gnutzmann, Claus/Königs, Frank/Küster, Lutz (2011). Fremdsprachenunterricht und seine Erforschung. Ein subjektiver Blick auf 40 Jahre Forschungsgeschichte und auf aktuelle Forschungstendenzen in Deutschland. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 40, 1–28.

2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung

Daniela Caspari

2.1 Was ist Forschung? Welches sind zentrale Forschungsentscheidungen?

Diese grundlegende Frage wird in den bisher erschienenen deutschsprachigen Handbüchern bzw. Einführungen in die fremdsprachendidaktischen Forschungsmethoden nicht thematisiert. Obwohl auch im Rahmen dieses Handbuches keine grundlegende Abhandlung möglich ist, erscheint es gerade in Hinblick auf die Zielgruppe Forschungsnoviz*innen sinnvoll, sich die Unterschiede zwischen Beobachtungen im Alltag oder in der beruflichen Praxis einerseits, so wie sie z.B. von angehenden Lehrperonen im Praktikum oder Referendariat verlangt werden, und der wissenschaftlichen Erforschung von Fragestellungen andererseits bewusst zu machen. Diese Unterschiede sind eher gradueller als grundsätzlicher Natur, wie z.B. an der Geschichte der Fremdsprachenforschung (s. Kap. 3.1), an forschungsmethodischen Ansätzen wie der Aktionsforschung (s. Kap. 4.2) oder bestimmten Verfahren zur Datengewinnung (s. z.B. Kap. 5.2.3 und 5.2.4) zu erkennen ist. Denn es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, Phänomenen in seiner Umwelt auf den Grund zu gehen, nach Gesetzmäßigkeiten zu suchen sowie auf der Basis von Beobachtungen und Erfahrungen Theorien aufzustellen und Vorhersagen zu machen. Während dies im Alltag in der Regel eher zufällig, unbewusst und ad hoc geschieht, zumeist um konkrete Herausforderungen und Probleme des täglichen Lebens zu meistern, zeichnet sich wissenschaftliche Forschung durch eine systematische, regelgeleitete und methodisch kontrollierte Herangehensweise aus.

Sie ist gleich in zweifacher Hinsicht systematisch: zum einen bezüglich der untersuchten Phänomene (hier gilt es, gründlich zu suchen und alles zu berücksichtigen, was man findet, und nicht nur das, was zur eigenen Vorstellung passt), zum anderen bezüglich der Forschungsschritte und Forschungsverfahren. Das schließt nicht aus, dass Forschung auch durch beiläufiges Finden angeregt werden kann, das dann ein gezieltes Weiter-Suchen auslöst (zum Wechselspiel zwischen Suchen und Finden vgl. Schlömerkemper 2010: 11–13). Der Forschungsprozess folgt etablierten Regeln, die beständig reflektiert und kontrolliert werden, die Ergebnisse sind intersubjektiv nachvollziehbar bzw. überprüfbar und falsifizierbar. Ein wesentliches Merkmal besteht darin, dass die Ergebnisse auf der Basis von bzw. in Zusammenhang mit bereits vorhandenem wissenschaftlichen Wissen entstehen und diskursiv verhandelbar bzw. korrigierbar sind. Daher ist es erforderlich, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung veröffentlicht bzw. allgemein zugänglich gemacht werden.

Bei wissenschaftlicher Forschung handelt es sich um einen Prozess, der von den Forscher*innen beständig Entscheidungen verlangt: von der Wahl des Forschungsgegenstandes (Thema), über die Forschungsfrage/n, den Forschungszugang, die Erhebungs- und Auswertungsverfahren bis hin zu Art und Ort der Veröffentlichung der Ergebnisse. Es ist unabdingbar, diese Entscheidungen bewusst und in Kenntnis ihrer Bedingungen und Auswirkungen zu treffen, daher sind sie Gegenstand dieses Kapitels.

Grundlegend für die Wahl des Forschungszugangs sind die jeweiligen Annahmen über die Beschaffenheit der sozialen Wirklichkeit und die Möglichkeiten ihrer Erforschung. Unterschieden werden auf einer Makroebene daher ein subjektivistischerForschungszugangsubjektivistischer und ein objektivistischerForschungszugangobjektivistischer ForschungszugangForschungszugang (subjectivist approach vs. objectivist approach; vgl. im Folgenden Cohen/Manion/Morrison 2018: 5–8), die sich u.a. in ihrer Auffassung von der Natur des Menschen und der Wirklichkeit unterscheiden. Mit diesen unterschiedlichen Forschungszugängen gehen Annahmen darüber einher, was und wie man etwas herausfinden und dies anderen mitteilen kann: Kann ich soziale Wirklichkeit von außen, d. h. durch Beobachtung wahrnehmen und erklären, ihre Gesetzmäßigkeiten erkennen und daraus Voraussagen über zukünftiges Verhalten ableiten? Diese Auffassung legt einen etischetischen Zugang zum Forschungsfeld nahe, in dem von außen Kategorien an einen Untersuchungsgegenstand angelegt werden. Oder muss ich Menschen bzw. spezifischen Gruppen von Menschen und ihren Referenzsystemen möglichst nahekommen, damit ich, soweit dies überhaupt möglich ist, ihre Innensicht auf sich selbst und ihr soziales Umfeld nachzeichnen kann? Diese Auffassung legt einen emischemischen Zugang zum Forschungsfeld nahe, der von den kultur- und sprachspezifischen Kategorien der Forschungspartner*innen ausgeht.

Mit diesen unterschiedlichen Positionen sind ebenfalls unterschiedliche Forschungszugänge verbunden (s. auch Kap. 3.3): Der objektivistischobjektivistischen Herangehensweise entsprechen sog. nomothetischnomothetische Forschungszugänge (nomothetic), die das Ziel verfolgen, allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten aufzustellen. Ausgangspunkt von Forschungsarbeiten in diesem, auch als analytisch-nomologischanalytisch-nomologisch bezeichneten Forschungsparadigma (vgl. Grotjahn 1993: 229–230) sind i.d.R. zuvor aufgestellte Theorien, Modelle oder hypothetische Kausalbeziehungen; das Ziel besteht darin, die daraus abgeleiteten Hypothesen zu überprüfen. Ein solches Vorgehen ist grundsätzlich dann möglich, wenn der Forschungsstand weit entwickelt und die Fragestellungen eng gefasst sind. Bevorzugte Forschungsverfahren in diesem Paradigma sind Tests, Experimente und repräsentative Befragungen.

 

Der subjektivistischsubjektivistischen Herangehensweise entsprechen sog. ideographischideographische Forschungszugänge (ideographic), die das Ziel verfolgen, das Individuelle, Besondere zu beschreiben, zu interpretieren und daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Innerhalb dieses, auch als explorativ-interpretativexplorativ-interpretativ bezeichneten Forschungsparadigmas (vgl. Grotjahn 1993: 230–231) stehen somit Hypothesen und Konzepte bzw. Theorien nicht am Anfang des Forschungsprozesses, sondern sind dessen Ergebnis. Dieser Zugang bietet sich immer dann an, wenn der Gegenstand noch nicht gut erforscht ist oder wenn eine weite Forschungsfrage gestellt wird. Bevorzugte Forschungsverfahren in diesem Paradigma sind Fallstudien, Beobachtungen und Interviews.

Über diese grundsätzlichen ParadigmenParadigma bzw. ForschungszugängeForschungszugang hinaus werden die für jedes Forschungsprojekt notwendigen einzelnen Entscheidungen durch zahlreiche weitere Faktoren beeinflusst. Von entscheidender Bedeutung sind selbstverständlich die Disziplin und innerhalb der Disziplin die jeweilige Forschungsrichtung, die mehr oder weniger explizit gemachte Vorgaben bzw. Erwartungen an eine konkrete Forschungsarbeit richten. Die in den Disziplinen vorherrschenden Traditionen (s. Kap. 3) sind, was sich besonders deutlich in der Rückschau zeigt, nicht selten aktuellen Moden und Tabus unterworfen. Zur Entstehung von zu einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschenden Forschungspraktiken tragen neben der allgemeinen Forschungslandschaft und entsprechenden Tendenzen in den jeweiligen Bezugsdisziplinen auch einflussreiche Forscher*innen bzw. Forschungsgruppen sowie Förderinstitutionen bei. Auch der aktuelle gesellschaftliche Kontext spielt eine Rolle: Welcher Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung wird von der Forschung erwartet? Welche Themen stehen im Zentrum des Interesses? Wie verläuft der mediale Diskurs zu diesen Themen? (Zu den verschiedenen Kontexten fremdsprachendidaktischer Forschung s. auch Kap. 8.)

Die Forschungstraditionen schlagen sich nicht selten in etablierten, sog. prototypischen Forschungsdesignprototypisches Forschungsdesigns (s. Kap. 4.2) nieder, die gewisse Standards setzen und oft als modellhaft gelten. Gerade wenn solche Designs detaillierte Vorgaben hinsichtlich der Erhebungs- und Auswertungsverfahren machen, sind sie insbesondere für Anfänger*innen attraktiv und helfen, die notwendige methodische Qualität einer Forschungsarbeit zu sichern. Den gleichen Effekt kann die Orientierung an sog. Schulen bewirken. Damit bezeichnet man die Tendenz, dass einzelne Wissenschaftler*innen oder Gruppen von Wissenschaftler*innen innerhalb einer Disziplin grundsätzlich bestimmte Forschungsverfahren und Designs propagieren. Der Anschluss an Schulen oder die Ausrichtung auf etablierte Designs kann jedoch dazu führen, dass bestimmte Forschungsfragen gar nicht erst gestellt werden oder dass die ursprüngliche Frage an die Erkenntnismöglichkeiten des Designs angepasst wird. Daher sollte ein Forschungsprojekt nicht mit methodischen Entscheidungen beginnen, sondern von der Forschungsfrage geleitet sein (s. Kap. 4).

Bei den sich anschließenden forschungsmethodischen Entscheidungen ist zu beachten, dass die in der Fremdsprachendidaktik verwendeten ForschungsverfahrenForschungsverfahren i.d.R. aus anderen Forschungsdisziplinen stammen, in der empirischen Forschung z.B. häufig aus den Sozialwissenschaften oder der Linguistik. Sie müssen daher sorgfältig auf ihre Eignung für die jeweilige fremdsprachendidaktische Forschungsfrage geprüft und ggf. entsprechend adaptiert werden. Neben den Entwicklungen in den Bezugswissenschaften tragen auch technische bzw. technologische Entwicklungen zur Weiterentwicklung und -verbreitung bestimmter Forschungsverfahren bei. So waren die zunehmend preisgünstige Verfügbarkeit von technisch ausgereiften Kameras und die Entwicklung von spezieller Auswertungssoftware Voraussetzung für den aktuellen Boom der Videographie in der fremdsprachendidaktischen (Unterrichts-)Forschung (s. Kap. 5.2.3). Andere Beispiele sind die Möglichkeit der Nutzung von umfangreichen Korpora zur Lernersprache (s. Kap. 5.2.6 und 5.2.8) oder von immer komfortableren, leicht zugänglichen Programmen zur Auswertung qualitativer Daten (s. Kap. 5.3.5). Zu beachten ist jedoch, dass auch und gerade für leicht zugängliche Datenquellen oder scheinbar unkompliziert bedienbare Programme forschungsmethodisches Wissen unabdingbar ist, damit die gewählten Prozeduren tatsächlich die gewünschten Ergebnisse liefern.

Häufig weniger beachtet, sowohl in Hinblick auf die individuelle Entscheidung für bestimmte Forschungsprojekte und -verfahren als auch für die Entwicklung innerhalb der Disziplin, werden äußere Einflussfaktoren wie die zur Verfügung stehende Zeit, Unterstützungsmöglichkeiten, administrative Hürden oder auch die Erwartungen des Umfeldes (s. Kap. 6 und Kap. 8). Gerade weil diese Faktoren sehr einflussreich sein können und bestimmte Wege nahelegen, erscheint es umso wichtiger, sich als Forscher*in darüber klar zu werden, welche Vorstellungen von sozialer Wirklichkeit sowie der Art und Zielsetzung ihrer Erforschung man selbst teilt, bevor man die zentralen Forschungsentscheidungen trifft.

Generell wird zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung unterschieden, wobei insbesondere in einer anwendungsorientierten Wissenschaft wie der Fremdsprachendidaktik die Grenzen fließend sind. GrundlagenforschungGrundlagenforschung zielt auf Erkenntnisgewinn in der Disziplin an sich, unabhängig von möglichen Verwendungszusammenhängen. Sie „entwickelt die relevant erscheinenden Fragen und Aufgaben aus sich selbst heraus. Interessant ist, was die Wissenschaftler interessiert“ (Kanning et al. 2007: 239). Häufig geht Grundlagenforschung generellen Fragen nach und versucht, allgemein gültige Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren. Das Erkenntnisinteresse von angewandter ForschungForschungangewandte ist dagegen vor allem auf praxisrelevante Themen und Fragen ausgerichtet: „Im Gegensatz zur Grundlagenforschung ist die Suche nach nützlichen Erkenntnissen der eigentliche Motor der Forschungsaktivität“ (ebd.). Innerhalb der angewandten Forschung können verschiedene Forschungszweige, wie z.B. die Entwicklungsforschung oder die Evaluationsforschung, unterschieden werden. Je nach erkenntnistheoretischer Position, Forschungszweig, Forschungsstand und Erkenntnisinteresse kommt Forschung unterschiedliche Funktionen zu: Die Spannweite reicht vom Aufzeigen und genauen Beschreiben von bestimmten Phänomenen über die Strukturierung, Systematisierung und Kategorisierung von Wirklichkeitsbereichen bis hin zur Entwicklung und Überprüfung von Hypothesen, Konzepten und Modellen. Im Bereich der anwendungsorientierten Forschung liegt der Schwerpunkt dabei auf der Erzeugung von praxisrelevantem Wissen sowie der theoriegeleiteten, systematischen Entwicklung und empirischen Überprüfung von für die Praxis relevanten Konzepten und Materialien. Welches Wissen tatsächlich als praxisrelevant betrachtet wird, kann je nach Zeit, Kontext und Erwartungen der Rezipient*innen variieren; leitend scheint daher die Absicht der Forscher*innen zu sein, Wissen zu erzeugen, das für die unterschiedlichen Akteur*innen in Praxiskontexten interessant ist oder zumindest sein könnte.

2.2 Was ist fremdsprachendidaktische Forschung? Und welches sind ihre zentralen Forschungsfelder?

Fremdsprachendidaktische Forschung konstituiert sich durch ihren Gegenstandsbereich, „das Lehren und Lernen fremder Sprachen in allen institutionellen Kontexten und auf allen Altersstufen“ (Bausch/Christ/Krumm 2003: 1). Aufgrund der Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte wurde diese bekannte Definition durch die Elemente Zweitsprachen und außerinstitutionelle Kontexte sowie den Aspekt der Forschungsmethoden ergänzt. Bausch et al. formulieren in der Neuauflage des „Handbuch[s] Fremdsprachenunterricht“ als Gegenstandsbereich die Beschäftigung mit „dem Erwerb, Lernen und Lehren von fremden Sprachen bzw. Zweitsprachen […] mit differenzierten gegenstandsangemessenen Methoden“ (Bausch et al. 2016: 1). Während die Ursprünge fremdsprachendidaktischer Forschung bereits im 19. Jahrhundert liegen (vgl. Kap. 3.1), etablierte sich die Fremdsprachendidaktik als universitäre Disziplin erst nach dem 2. Weltkrieg. Folgende sechs Merkmale sind als besonders charakteristisch herauszustellen (vgl. im Folgenden Bausch/Christ/Krumm 2003; Doff 2008 und 2010; Edmondson/House 2006; Grotjahn 2006; Wilden/Rossa 2019):

1 Das wichtigste Charakteristikum fremdsprachendidaktischer Forschung ist ihr ErkenntnisinteresseErkenntnisinteresse. Noch in den 1950er und 60er Jahren wurde die zentrale Aufgabe der Didaktik darin gesehen, praktische Empfehlungen für den schulischen Unterricht zu geben. Seit den 1970er Jahren ist nicht zuletzt unter dem Einfluss der Sprachlehrforschung sowohl eine stärker theoretisch ausgerichtete (Grundlagen-)Forschung als auch eine stärkere Ausdifferenzierung des Theorie-Praxis-Bezuges zu beobachten. Das theoretische Ziel fremdsprachendidaktischer Forschung besteht – ganz allgemein – darin, die einzelnen Faktoren fremdsprachlichen Lernens und Lehrens differenziert zu erforschen und in ihrem Zusammenwirken immer genauer zu verstehen. Das praktische Ziel besteht – grob gesagt – darin, die Qualität des Fremdsprachenunterrichts und außerunterrichtlicher Lernangebote theoretisch und/oder empirisch begründet beständig zu verbessern. Dies kann angesichts der Vielfalt und Komplexität der Praxis jedoch nicht durch simple Ableitung theoretisch gewonnener Erkenntnisse geschehen, sondern nur in der Interaktion zwischen Theorie und Praxis. Als anwendungsorientierte Wissenschaftanwendungsorientierte Wissenschaft zeichnet sich die Fremdsprachendidaktik daher durch ein beständiges Wechselspiel zwischen Forschung und Anwendung aus.1 Generelles Ziel ist es, durch das forschungsgeleitete Aufstellen, empirische Überprüfen und erkenntnisbasierte Ausschärfen von theoretischen Grundlagen, Begriffen, Konzepten und Modellen das Erkennen, Verstehen und Erklären von komplexen Lehr- und Lernsituationen voranzutreiben und das Handeln in diesen Situationen zu verbessern.

2 Charakteristisch für den Gegenstandsbereich der Fremdsprachendidaktik ist weiterhin seine FaktorenkomplexionFaktorenkomplexion (Königs 2010), denn beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen wirken zahlreiche Faktoren zusammen. Ein bekanntes Modell stammt von Edmondson (1984, wiedergegeben in Edmondson/House 2006: 25, im Folgenden leicht adaptiert). Er unterscheidet fünf große, sich gegenseitig beeinflussende Faktorenkomplexe:

 Unterricht (beeinflusst durch Curriculum, Lern-/Lehrziele, Lehrinhalte, Lehrmethoden, Prinzipien, Übungsformen, Lehrwerke, Medien usw.)

 Lehr- und Lernumgebungsfaktoren (Dauer, Frequenz, Ausstattung, Lerngruppengröße usw.)

 personenbezogene Faktoren, d. h. Lehrkräfte und Lernende (personale Faktoren, Ausbildung, Motivation/Interesse, fremdsprachige Kompetenzen etc.)

 soziopolitische Faktoren (Status der Fremdsprache, Fremdsprachenpolitik, Ausbildung, ökonomische Bedingungen etc.)

 wissenschaftliche Faktoren (Ergebnisse aus der Sprachlehrforschung und der Fremdsprachendidaktik sowie aus den Bezugswissenschaften).

Angesichts der Vielzahl und der Interdependenz der – keinesfalls vollständig aufgeführten – Einzelfaktoren leuchtet unmittelbar ein, dass die isolierte Darstellung und Erforschung eines Einzelfaktors forschungsmethodisch nicht sinnvoll zu realisieren ist. Fremdsprachendidaktische Forschung muss sich daher auch bei der notwendigen Fokussierung auf einen oder wenige Faktoren stets der Tatsache bewusst sein, dass es sich um Einzelaspekte innerhalb eines komplexen Gefüges handelt.

1 Fremdsprachendidaktik ist aufgrund des weiten und komplexen Gegenstandsbereiches, der durch die vielen Sprachen, Institutionen und Traditionen eine weitere Ausdifferenzierung erfährt, eine vielfältige und heterogene Forschungsdisziplin.

2 Aus diesen drei Merkmalen ergibt sich das vierte: Fremdsprachendidaktische Forschung ist interdisziplinärinterdisziplinär, denn sie greift sowohl inhaltlich als auch forschungsmethodisch auf Bezugswissenschaften zurück. Je nach Gegenstand und Fragestellung handelt es sich z.B. um die Erziehungswissenschaften, die Linguistik und Literaturwissenschaft, die Kultur- und Medienwissenschaften, die Sozialwissenschaften und/oder die Psychologie. Dabei stellt sich immer wieder die Herausforderung, die Theorien, Modelle und Erkenntnisse aus den Bezugswissenschaften (selbst-)bewusst für die spezifischen Fragen und Interessen der Fremdsprachendidaktik zu nutzen und die unterschiedlichen Perspektiven mit Fokus auf die Fremdsprachendidaktik zu integrieren.

 

3 Dieses interdisziplinäre und integrierende Vorgehen hat zur Folge, dass fremdsprachendidaktische Forschung durch eine große Breite an methodischen Herangehensweisen charakterisiert ist und sich je nach Gegenstand und Forschungsfrage unterschiedlicher methodischer Ansätze und Verfahren bedient. Dazu überprüft sie die Passung zwischen ihren Fragen und den Ansätzen bzw. Verfahren verwandter Disziplinen und wandelt sie ggf. ab. In diesem Prozess entstehen zunehmend spezifisch fremdsprachendidaktische forschungsmethodische Zugänge und Forschungsdesigns.

4 Aus dem Theorie-Praxis-BezugTheorie-Praxis-Bezug ergibt sich, dass Praktiker*innen (wie Lerner*innen, Lehrer*innen oder Ersteller*innen von Curricula und Prüfungen) nicht nur Forschungspartner*innen sind, sondern auch selbst zu Forschenden werden können, die selbst oder in Zusammenarbeit mit universitären Forscher*innen sie interessierende Fragen untersuchen. Im Design der Aktionsforschung und der insbesondere im englischsprachigen Raum verbreiteten Forschungsrichtung der teacher research (s. Kap. 4.2) liegen dafür weithin akzeptierte Forschungsansätze vor. Das Gros der fremdsprachendidaktischen Forschung findet allerdings an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen, in geringem Umfang auch an außeruniversitären Einrichtungen wie dem Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) statt (vgl. auch Kap. 8).

5 Charakteristisch für die Fremdsprachendidaktik ist weiterhin, dass der allergrößte Teil der Forschung von den Wissenschaftler*innen selbst angestoßen und durchgeführt wird, wobei den Qualifikationsarbeiten von Nachwuchswissenschaftler*innen besondere Bedeutung zukommt. AuftragsforschungAuftragsforschung z.B. von Länderministerien oder Behörden ist eher selten. Neben den vielen Forschungsprojekten in Einzelarbeit entstehen zunehmend Arbeiten in kleineren Forschungsverbünden (z.B. in Graduiertenkollegs oder Research Schools) oder als Teil großer interdisziplinärer Projekte (s. auch Kap. 8).