Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik

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5. Forschungsverfahren
5.1 Grundsatzüberlegungen

Friederike Klippel

Im zentralen fünften Kapitel dieses Handbuches geht es um das methodische Kernelement von Forschung: zum ersten um die wesentlichen Verfahren und Werkzeuge für die Datengewinnung und -erhebung sowie die Zusammenstellung von Dokumenten (Kap. 5.2.1 bis 5.2.8), zum zweiten um Verfahren und Instrumente für die Aufbereitung und Analyse von Daten und Dokumenten (5.3.1 bis 5.3.13). Dieses Kapitel ist denn auch bei weitem das umfangreichste des Handbuchs. Die einzelnen Teilkapitel wurden von ausgewiesenen Expert*innen für das jeweilige Verfahren verfasst; wie in Kapitel 4 illustrieren auch hier klare Grafiken die zentralen Vorgehensweisen und Elemente der unterschiedlichen Forschungsmethoden. Während Kapitel 4 die grundsätzlichen Forschungsentscheidungen im Hinblick auf das zu wählende Design, auf Fragen des Samplings oder der Forschungsethik behandelt, also Aspekte der Forschungsmethodologie, geht es hier vor allem um einzelne Forschungsmethoden. Wir verstehen den Begriff ForschungsmethodeForschungsmethode bzw. ForschungsverfahrenForschungsverfahren relativ breit; Methoden oder Verfahren der Forschung bedienen sich unterschiedlicher Instrumente oder Werkzeuge. So arbeitet die Methode der Befragung etwa mit dem Instrument Fragebogen, zu dessen quantitativer Auswertung das Werkzeug SPSS in Anwendung kommen kann. Auch das Interview ist ein Verfahren der Befragung; bei seiner Durchführung kann als Instrument der Interviewleitfaden eingesetzt werden. Bei der Inhaltsanalyse etwa ist ein Instrument das Kodierschema; dazu hilft als Werkzeug eine Software wie z.B. MAXQDA. Allerdings lassen sich Werkzeuge und Instrumente nicht für jedes Forschungsverfahren sauber voneinander trennen. Zugleich sind einige Werkzeuge bei der Anwendung unterschiedlicher Verfahren einsetzbar.

Wenn im Folgenden die Verfahren für historische, theoretische und empirische Forschung in dieser Reihenfolge im Einzelnen vorgestellt werden, dann bedeutet diese Reihung keinerlei Wertung. Desgleichen ist mit der vergleichsweise breiten Darstellung von Verfahren für die empirische Forschung nicht ausgesagt, dass diese Art von Forschung grundsätzlich bedeutsamer sei als andere Forschungsansätze. Es ist jedoch unübersehbar, dass sich die aktuelle Diskussion zu und Beschreibung von Forschungsmethoden fast ausschließlich auf empirische Forschung bezieht, während historische und theoretisch-konzeptuelle Forschung in den gängigen Handbüchern nur selten überhaupt beachtet werden. Insofern betritt dieses Kapitel Neuland, indem es auch diese Herangehensweisen unter forschungsmethodischer Perspektive thematisiert.

Die 21 Teilkapitel bieten eine breite Palette an geeigneten Forschungsmethoden für die Fremdsprachendidaktik, wobei wir selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Da sehr viele Autor*innen an Kapitel 5 mitgewirkt haben, ergibt sich an dieser Stelle des Handbuchs eine gewisse Vielfalt der Stile und Sichtweisen. Zudem wird deutlich, dass sich einzelne Instrumente und Werkzeuge nicht nur einem, sondern mehreren Verfahren zuordnen lassen, da gewisse Affinitäten zwischen unterschiedlichen Verfahren bestehen. In einem Handbuch, das Hilfen für die eigene Forschungsarbeit oder zur Betreuung von Qualifikationsarbeiten bereitstellen möchte, sollte es vor allem um eine klare und konkrete Darstellung der einzelnen Verfahren und Instrumente zum gegenwärtigen Zeitpunkt gehen. Diesem Ziel dienen die Übersichts-Grafiken, die fast allen Kapiteln zugeordnet sind. Weniger wichtig erschien es daher aus Sicht der Herausgeber*innen, historische Entwicklungen von einzelnen Methoden, bestimmte Schulenbildungen oder Kontroversen zu einzelnen Forschungsmethoden detailliert zu referieren.

Dieses Kapitel, in dem sehr viele Forschungsmethoden vorgestellt werden, mag vielleicht den Charakter eines Menüs suggerieren, aus dem man nach Geschmack beliebig auswählen kann. Sich über unterschiedliche Zugangsweisen in der Forschung zu informieren, hat jedoch immer das Ziel, die für das jeweilige Forschungsvorhaben am besten geeignete Methode zu finden. Die Passung von Forschungsfrage und Forschungsmethode spielt in jeder Forschungsarbeit eine zentrale Rolle. Nicht jedes Verfahren eignet sich zur Bearbeitung jeder Forschungsfrage; vielmehr muss auf der Basis des treibenden Erkenntnisinteresses überlegt werden, wie man am besten zu Ergebnissen gelangt. Die eingesetzten Forschungsmethoden und ihre Instrumente sind zudem nicht wertneutral, sondern tragen eine bestimmte Perspektive, ein bestimmtes Menschenbild in sich. Daher gibt es durchaus gewisse Affinitäten zwischen dem Wissenschafts- und Forschungsverständnis individueller Forscher*innen und deren bevorzugter Wahl von bestimmten Forschungsmethoden.

Neben die individuellen Präferenzen treten zeitbedingte Strömungen. Jede Epoche besitzt häufigere und weniger beachtete Ausprägungen von Forschung, und zwar sowohl im Hinblick auf die beforschten Bereiche und Themen als auch auf die forschungsmethodischen Ansätze. Schließlich durchläuft auch die Forschungsmethodologie generell durch die fortwährende Forschungstätigkeit eine Entwicklung, die zur Verfeinerung, Ausweitung, Schärfung, Neuentwicklung oder auch zum Aufgeben bestimmter Verfahren führen kann. Noviz*innen in der Forschung sollten daher bestehende Methoden oder Designs nicht einfach unreflektiert übernehmen, sondern – abhängig von der Forschungsfrage – durch ihre Ideen und Experimentierfreude dazu beitragen, auch die Forschungsverfahren weiterzuentwickeln. Anregungen dazu können aus der Kombination unterschiedlicher Methodologien, der Modifikation bekannter Verfahren oder aus benachbarten Disziplinen kommen. Allerdings muss dabei beachtet werden, dass sich nicht alles mit allem sinnvoll kombinieren lässt, da den einzelnen Ansätzen unterschiedliche Auffassungen von Forschung zugrundeliegen können (s. Kap. 2). Dass solche forschungsmethodischen Innovationen in Qualifikationsarbeiten zudem nur in Absprache mit den betreuenden Wissenschaftler*innen vorgenommen werden sollten, ist selbstverständlich.

Betrachtet man die in diesem Kapitel vorgestellten Verfahren mit dem Ziel, unterschiedliche Arten des Forschens zu unterscheiden, dann ließe sich eine grobe Differenzierung in eher zyklischeVorgehenzyklisches und eher lineare Vorgehensweisenlineare Vorgehensweisen treffen. Hermeneutische, inhaltsanalytische und hypothesen-generierende Ansätze beruhen ebenso wie die historische Forschung auf einer wiederholten Befassung mit den zu analysierenden Texten, Dokumenten und Daten. Demgegenüber ist die hypothesenprüfende Vorgehensweise stärker linear und umfasst eine Reihe von klar definierten, aufeinanderfolgenden Schritten. Eine Rückbindung an die theoretische Grundlegung, die man als zyklisches Element ansehen könnte, erfolgt in diesen Verfahren vor allem im Zuge der Interpretation und Diskussion der Ergebnisse.

Angesichts der Fülle der möglichen forschungsmethodischen Zugriffe ist es für Forschungsnoviz*innen oft schwer, sich für ein bestimmtes Verfahren zu entscheiden. Die Wahl der Forschungsmethode ist eine zentrale Weichenstellung für die gesamte Arbeit und bedarf gründlicher Überlegung. Dieses Kapitel soll dabei helfen, die gesamte Breite der forschungsmethodischen Optionen und deren besondere Stärken bewusst werden zu lassen. Als Illustration für ein spezifisches Vorgehen dienen jeweils Referenzarbeiten, die als Beispiele ausgewählt wurden, weil in ihnen die forschungsmethodische Umsetzung besonders gelungen ist. Insofern liefert dieses Großkapitel auch die Möglichkeit, an guten Beispielen zu lernen.

5.2 Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten

Karen Schramm

Dieser Abschnitt thematisiert Verfahren der DokumentenDokumente-, TextTexte- und Datengewinnung. Diese stellen einen zentralen Arbeitsschritt im Forschungsprozess dar, der zwar prinzipiell nach der forschungsfragebasierten Design-Erstellung (s. Kap. 3 und 4) und vor der Datenaufbereitung und -analyse (s. Kap. 5.3) zu verorten ist. Dennoch ist zu betonen, dass sich diese Arbeitsschritte – insbesondere bei explorativ-interpretativen Forschungsarbeiten – nicht einfach in linearer Abfolge sukzessiv abarbeiten lassen, sondern dass aufgrund der komplexen Zusammenhänge spiralförmig voranschreitende Vorgehensweisen bzw. dabei vorzunehmende kontinuierliche Verfeinerungen notwendig sind.

Gelingt es, das Forschungsdesign und die entsprechende Größe des Dokumenten-, Text- oder Datenkorpus hinreichend zu präzisieren, so lässt sich bei der Gewinnung dieses Korpus eine überdimensionierte Anhäufung vermeiden. Die Forschungspraxis zeigt jedoch, dass die gezielte Eingrenzung allzu häufig Schwierigkeiten bereitet. Im Bereich der empirischen Forschung wird darauf scherzhaft mit der Metapher von DatenfriedhöfenDatenfriedhöfe Bezug genommen; damit ist die Ansammlung von Daten gemeint, die aufgrund der für die Auswertung zur Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen nicht analysiert werden können. Diesen unglückseligen Fall schon im Vorfeld zu vermeiden, erscheint mit Rücksicht auf die Anstrengungen, die eine Datenerhebung den Forschungspartner*innen abverlangt, genauso wichtig wie im Hinblick auf die begrenzten Ressourcen der erhebenden Forschenden selbst (s. auch Kap. 4.6 zur Forschungsethik).

Grundlegend unterscheiden wir in diesem Handbuch zwischen dem Erfassenerfassen und dem Erhebenerheben und nutzen den Begriff der Gewinnung von Dokumenten, Texten und TextDatenDatenDokumente (s. zu dieser Unterscheidung Kap. 4.1) als Oberbegriff für beide Verfahren. Das Konzept des Erfassens bezieht sich dabei auf Dokumente, Texte und Daten, die unabhängig von der jeweiligen Forschungsarbeit vorzufinden sind. Wie Abbildung 1 verdeutlicht, kann dieses Erfassen sich erstens konkret auf den Unterricht beziehen (beispielsweise auf das Einsammeln von lehrer- und lernerseitigen Arbeitsprodukten wie Unterrichtsplanungen oder Aufsätze). Es wurde in der forschungsmethodischen Diskussion bislang kaum thematisiert; das in dieser Hinsicht innovative Kapitel 5.2.7 ist solchen Verfahren gewidmet. Zweitens ist für die Fremdsprachendidaktik auch die Erfassung von Dokumenten und Texten von Interesse, die über konkrete Unterrichtssituationen hinausreichen und die entweder auf eine Dokumentensammlung für historische Forschungsarbeiten (s. Kap. 5.2.1) oder eine Textsammlung für theoretische Studien (s. Kap. 5.2.2) hinauslaufen.

 

Im Gegensatz zum Erfassen ist für das Erheben die Tatsache charakteristisch, dass die gewonnenen Daten ohne die Forschungsarbeit nicht existierten. Abbildung 1 zeigt die vielen Verfahren zur Datenerhebung, die in der Fremdsprachendidaktik Beachtung finden: Hier ist zunächst einmal die häufig getroffene Unterscheidung von Beobachten und Befragen relevant. Die vielfältigen Formen des Beobachtens (unter anderem die ethnographisch motivierte teilnehmende Beobachtung mit Feldnotizen, die gesteuerte Beobachtung anhand von Beobachtungsbögen oder die videographische Beobachtung) werden in Kapitel 5.2.3 thematisiert. Befragungen in Form von Fragebögen und Interviews stellt Kapitel 5.2.4 vor. Die in Kapitel 5.2.5 aufgefächerten Verfahren der Introspektion sind in Abbildung 1 zwischen dem Beobachten und Befragen abgebildet, da Verfahren des Lauten Denkens und des Lauten Erinnerns einerseits ähnlich wie Befragungen auf Impulsen der Forschenden beruhen, aber andererseits ähnlich wie Beobachtungen nicht-kommunikativ bzw. auch in Abwesenheit der Forschenden ablaufen können. Auch der Themenbereich des Testens ließe sich begrifflich der Befragung zuordnen; aufgrund der Bedeutung dieses Bereichs wurde er in Abbildung 1 jedoch ausgegliedert und wird in einem eigenen Kapitel (5.2.8) ausführlich behandelt. Im Fall des Kapitels zur Lernersprache und Korpuserstellung (5.2.6) hat es sich als gewinnbringend erwiesen, das Erfassen und Erheben gemeinsam zu thematisieren, sodass dieses Kapitel in Abbildung 1 entsprechend platziert ist.


Als wesentlich für die Charakterisierung von empirischen Unterrichtsdaten wird seit spätestens den 1980er Jahren die Unterscheidung von Produkt- und ProzessdatenProdukt- und Prozessdaten betrachtet. In Abbildung 1 weist die hell- und dunkelgraue Markierung auf diese (nicht immer trennscharfe) Dichotomie hin, die zwischen den punktuellen Ergebnissen des Lernens, dem Produkt, und dem zeitlich ausgedehnten Vorgang des Lernens, dem Prozess, unterscheidet: Als eher produktorientiert sind die unterrichtsbezogene Erfassung von Daten, das Erfassen und Erheben von Lernersprache und das Testen zu charakterisieren, während das Beobachten, das Befragen und die Introspektion sich besonders für die Erforschung von (meta-)kognitiven, affektiven und sozialen Prozessen eignen.

Steht bei einer Untersuchung die sprachliche oder kulturelle Entwicklung von Lernenden über einen längeren Zeitraum im Vordergrund, erweist sich auch die begriffliche Unterscheidung von Längs- und QuerschnittdatenLängs- und Querschnittdaten als zentral. Dabei zeichnen Längsschnittdaten die tatsächliche Entwicklung von Personen über einen längeren Untersuchungszeitraum nach, während Querschnittdaten Personengruppen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien (z.B. Klassenstufen oder Sprachniveaus) untersuchen, um auf der Grundlage einer Datenerhebung zu einem einzigen Zeitpunkt Aussagen über angenommene Entwicklungsprozesse zu treffen.

5.2.1 DokumentensammlungDokumentensammlung

Elisabeth Kolb/Friederike Klippel


Wenn das Erkenntnisinteresse einer Forschungsarbeit darin liegt, gegenwärtige Prozesse und Zustände oder vergangene Epochen und Ereignisse zu beschreiben, zu interpretieren und zu bewerten, so ist es nötig, sich auf DokumenteDokumente zu stützen, die diese Gegebenheiten repräsentieren. Um tatsächlich gültige Aussagen treffen zu können, muss diese Analyse auf einer möglichst breiten, objektiven, systematischen, repräsentativen und validen Basis an Belegen beruhen. Daher sind wichtige Forschungsstrategien die SucheDokumenteSuche von, SammlungDokumenteSammlung von, AuswahlDokumenteAuswahl von und Anordnung von DokumentenDokumenteAnordnung von. Dokumente können je nach Forschungsinteresse unterschiedliche Realisierungen aufweisen: Sie können von Daten derart unterschieden werden, dass Dokumente jegliche Art von schriftlichen oder gegenständlichen Belegen umfassen, die nicht speziell für das Forschungsprojekt generiert wurden, wohingegen Daten erst durch die eingesetzten Erhebungsverfahren geschaffen werden. Während mit HeuristikHeuristik der erste Schritt des Auffindens von Dokumenten beschrieben ist, verlangt die anschließende KorpuserstellungKorpuserstellung begründete Entscheidungen dazu, welche der gefundenen Dokumente ausgewählt und analysiert werden sollen. Im Folgenden werden 1. für fremdsprachendidaktische Forschung relevante DokumenttypenDokumenttypen vorgestellt, 2. die Schritte bei Heuristik und Korpuserstellung erläutert und 3. konkrete Verfahrensweisen, Schwierigkeiten bei der Sammlung verschiedener Dokumente und der Umgang damit dargestellt.

1 Welche Dokumente kommen in Frage?
Terminologie

Grundsätzlich werden unter Dokumenten Texte, Materialien und Medien verstanden, die nicht im Kontext aktueller wissenschaftlicher Arbeit als wissenschaftliche (Sekundär-)Literaturwissenschaftliche (Sekundär-)Literatur entstanden sind, sondern ursprünglich einem anderen Zweck dienen, so wie es etwa für alle Arten von unterrichtsbezogenen Produkten der Fall ist (s. dazu Kap. 5.2.7).1 Während die Bezeichnung Dokument vor allem in der sozialwissenschaftlichen Forschung Verwendung findet, wird in der Geschichtswissenschaft eher von QuellenQuellen gesprochen; diese Begrifflichkeit differenziert nach gegenwärtiger bzw. vergangener Entstehungszeit (Glaser 2013: 366–367). Allerdings ist insbesondere für historische Forschungsarbeiten diese Kategorisierung nicht eindeutig: So können beispielsweise Zeitschriftenaufsätze oder Rezensionen in ihrer Entstehungszeit Dokumente gewesen sein, während sie jetzt als Quellen zur Rekonstruktion vergangener Geschehnisse oder Zeitabschnitte herangezogen werden.

Weiterhin können Primär- und SekundärdokumentePrimär- und Sekundärdokumente unterschieden werden: Während erstere von Zeitzeugen oder direkt Beteiligten produziert werden, verwenden letztere Primärdokumente, um ein Ereignis oder eine Epoche zu rekonstruieren und zu beschreiben (Martin 2018: 325). Auch hier gibt es fließende Übergänge zwischen diesen beiden Polen: Ein Zeitgenosse kann mit zeitlichem Abstand, z.B. in seiner Autobiographie, Gegebenheiten darstellen; ein derartiger Rückblick kann deutlich anders aussehen als ein zeitgenössischer Bericht.

Relevante Arten von Dokumenten

Für die fremdsprachendidaktische Forschung äußerst relevant ist die Einteilung nach den Urheber*innen der Dokumente sowie nach dem Vertriebsweg bzw. der Zugänglichkeit der Dokumente (vgl. Scott 1990: 14–18). Ausgehend von der Zugehörigkeit zu verschiedenen Kommunikationsbereichen können hauptsächlich offizielle, halboffizielle, öffentliche und private Dokumente unterschieden werden.

 Offizielle DokumenteDokumenteoffizielle werden von staatlichen Institutionen veröffentlicht und in erster Linie auch von deren Vertreter*innen rezipiert. Dazu gehören z.B. Gesetze, Lehrpläne, Stundentafeln, Verordnungen und Verträge. Sie zeigen, wie der Staat als Akteur die Organisation und den Ablauf von (Fremdsprachen-)Unterricht konzeptionell vorgibt. Diese Dokumente erlauben nur in begrenztem Maß Rückschlüsse auf die Unterrichtswirklichkeit und sind vielmehr als Absichtserklärungen auf der Makroebene der Schul- und Unterrichtsorganisation zu sehen (Fend 2008: 167; Kolb 2013: 38–40).

 Halboffizielle DokumenteDokumentehalboffizielle entstehen in der Kommunikation zwischen Institutionen und Angehörigen dieser Institutionen und Privatpersonen. Wenn auch die Zuordnung nicht immer eindeutig ist, so können dazu Handreichungen von Landesinstituten, Schulprogrammschriften, Stoffverteilungspläne, schulinterne Curricula, Unterrichtsentwürfe, Jahresberichte, Klassenbücher, Schülerzeitungen, Zeugnisse, Tests usw. gezählt werden (s. Kap. 5.2.7). Während einige dieser Dokumenttypen eher innerhalb der Institution Schule rezipiert werden, haben andere auch außerhalb ein Publikum, z.B. Eltern. Sie spiegeln amtliche Positionen wider, sind aber gleichzeitig als Dokumente der Mesoebene der schulischen Institutionen oder als Dokumente der Mikroebene des Unterrichts auch näher an der Unterrichtsrealität (Fend 2008: 167).

 Zu den privaten DokumentenDokumenteprivate, die von unterschiedlichen Beteiligten stammen können, zählen beispielsweise Tagebücher von Lernenden und Lehrenden, Interviews, Briefe oder (Auto-)Biographien, Webseiten, Blogs und Posts von Fremdsprachendidaktiker*innen, Lehrpersonen oder Sprachenlernenden. Am Übergang zwischen halboffiziellen und privaten Dokumenten befinden sich Lernertexte (z.B. ausgefüllte Arbeitsblätter, Klassenarbeiten, Aufsätze oder Portfolios) (s. Kap. 5.2.7). Diese und viele weitere Dokumente geben kleine, subjektiv gefärbte Ausschnitte aus verschiedenen Bereichen wieder und müssen daher, was Zuverlässigkeit und Korrektheit betrifft, vorsichtig rezipiert und interpretiert werden (s. Kap. 5.2.7. und 5.3.1).

 Als öffentlich können DokumenteDokumenteöffentliche bezeichnet werden, wenn sie in irgendeiner Form – gedruckt oder digital – veröffentlicht sind, so dass sie bei Interesse relativ leicht zugänglich sind. Dazu sind verschiedene Dokumente zu zählen wie Rezensionen, Zeitschriften- und Zeitungsartikel, Konferenzberichte, Statistiken, kommerzielle Selbstlernmaterialien, Lehrwerke und zugehörige Medien, Podcasts, Videos, Dokumente im open access, Plakate, Anzeigen, Graffiti oder auch literarische Texte.

Was die ZugänglichkeitZugänglichkeit betrifft, so können schriftliche Dokumente beispielsweise frei im Buchhandel erhältlich sein oder in Bibliotheken bereitgestellt werden, sie können in Archiven vorhanden sein, oder sie können nur intern einem begrenzten Adressatenkreis (z.B. als Arbeitspapier oder als private Nachricht) verfügbar sein (vgl. Scott 1990: 14–18). Schriftliche Dokumente aus allen o. g. Kategorien, die nicht öffentlich zugänglich sind, sondern innerhalb eines bestimmten Rezipientenkreises zirkulieren, werden als graue Literaturgraue Literatur bezeichnet (Bortz/Döring 2006: 360). Da sie meist schwierig aufzufinden sind, werden sie oft vernachlässigt; sie bieten jedoch viele Gelegenheiten, neue Erkenntnisse zu bestimmten Diskursen zu gewinnen, etablierte Sichtweisen zu ergänzen und möglicherweise gar zu revidieren. Im Internet werden solche Texte zwar gelegentlich auf privaten Webseiten oder in Foren veröffentlicht; dadurch sind sie aber nicht automatisch leichter zu finden.

Ein weiterer wichtiger Anhaltspunkt, um zu analysierende Dokumente auszuwählen, ist das Medium. Neben gedruckten Texten sollten auch andere mediale Realisierungsformen beachtet werden. Lohnend kann beispielsweise die Analyse von (audio-)visuellen Dokumenten wie Bildern, Fotografien, Cartoons, (Spiel-)Filmen, CDs oder Overheadfolien sein, wobei diese visuellen bzw. audiovisuellen Dokumente sowohl die Perspektive der Lehr- und UnterrichtsmaterialienLehr- und Unterrichtsmaterialien als auch die der LernerprodukteLernerprodukte verkörpern können. Für fachhistorische Untersuchungen sind etwa Lehrbuchillustrationen, frühe Formen von Unterrichtsmedien oder verwendete Realien des Ziellandes aufschlussreich. Zunehmend werden digitale Sammlungen schwer zugänglicher Dokumente erstellt (dazu Mattes 2020). Mit fortschreitender Digitalisierung wächst der Anteil digitaler Dokumente, zu denen etwa Blogs, Webseiten, Chat-Daten, E-Mails, Lern- und Übungsmaterialien, Spiele, Clips in Videoportalen, Youtube-Videos etc. zu zählen sind. Allerdings besteht hierbei eventuell das Problem der nicht-permanenten Verfügbarkeit. Für einige methodische Ansätze sind bestimmte reale Gegenstände konstitutiv, etwa die cuisenaire rods und fidel charts für den Silent Way. Selbstverständlich können Realien und ObjekteRealien und Objekte wie Gebäude, Klassenzimmerausstattungen, Medienräume, technische Hilfsmittel (Hardware), Wandtafeln usw. in eine Untersuchung einbezogen werden; diese Arten von Dokumenten werden auch RelikteRelikte genannt (Johnson/Christensen 2012: 416).

 

Natürlich ist es durchaus möglich, verschiedene Dokumententypen für eine einzelne Studie zu sammeln und auszuwerten. Dabei werden zuweilen halboffizielle oder private Dokumente, die im Unterrichtsbetrieb ohnehin anfallen (etwa Lernertexte), kombiniert mit gezielt erhobenen Daten für den Forschungszweck. So werden beispielsweise in der Referenzarbeit von Schmidt (2007, s. Kap. 7) Anfangs- und Abschlussfragebögen, Video- und Audioaufnahmen aus dem Unterricht, Feldnotizen, Lernertexte, Interviews und Lerntagebücher verwendet (Schmidt 2007: 186–203). Ähnlich sieht es bei Bellingrodt (2011) aus, die Fragebögen, Interviews und verschiedene Dokumente aus den Portfolios der Lernenden einbezieht. Wenn unterschiedliche Dokumentarten für eine gemeinsame Fragestellung herangezogen werden, muss im Rahmen der Triangulation eine Verknüpfung der verschiedenen Perspektiven erfolgen (siehe dazu Kap. 4.4).