Failing Schools

Text
Aus der Reihe: Wissenschaft konkret
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die Wirksamkeit des Hilferufs der Rütli-Schule zeigt indirekt auch, dass hier ein Fall administrativer Vernachlässigung und öffentlicher Indifferenz vorlag: Nicht die Schule hat in diesem Fall versagt, vielmehr müssen sich politische Akteure ankreiden lassen, dass sie ihren Aufgaben nicht gerecht geworden sind. In diesem Sinne beginnt die Geschichte von »Failing Schools« damit, dass ihnen soziale Probleme aufgebürdet werden und sie bei deren Bewältigung sich selbst überlassen bleiben. Vor diesem Hintergrund stellt sich immer die Frage, was auf der Ebene der Bildungspolitik getan werden kann, um die Wahrscheinlichkeit deutlich zu verringern, dass Schulen in eine Notlage geraten.

Indes ist nicht damit zu rechnen, dass die Antworten auf diese Frage einhellig ausfallen. Schon bei den wissenschaftlichen Expertisen gehen die Ansichten weit auseinander: Während die einen in der Steuerung über Bildungsstandards und Leistungstests die »letzte Chance für gute Schulen« (so der Titel von Wössmann, 2007) sehen wollen, gilt anderen diese Form der Steuerung als korrumpierende Praxis, die letztlich katastrophale Konsequenzen zeitigen müsse: Die Rede von »Collateral Damage« (Nichols & Berliner, 2007) lässt gar an zivile Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen denken, die von zynischen Militärstrategen achselzuckend in Kauf genommen werden. Solche rhetorischen Zuspitzungen führen relativ schnell zu einer Konstellation, in der nicht mehr Argumente ausgetauscht, sondern nur noch Belege für eine dogmatisch festgelegte Position gesammelt werden. Der vorliegende Band zielt darauf ab, solche Zuspitzungen zu vermeiden und verschiedene Gesichtspunkte zum Stichwort »Failing Schools« in einer vergleichenden und abwägenden Perspektive zur Sprache zu bringen. Die Grundthese lautet, dass es keine Patentrezepte und Wundermittel für die Gestaltung von Bildungssystemen gibt – und dass die Eigendynamik dieser Systeme nicht unterschätzt werden sollte.

Der Beitrag von Carsten Quesel und Vera Husfeldt setzt beim Thema der marktorientierten Steuerung des Bildungswesens an. Autorin und Autor rekonstruieren bildungspolitische Diskussionen und Reformprozesse in England und den USA im Hinblick darauf, an welchen Kriterien das »Versagen« von Schulen festgemacht wird und wie die Effekte marktorientierter Steuerungsversuche zu bilanzieren sind.

Frans J. G. Janssens behandelt das Beispiel sehr schwacher Primarschulen in den Niederlanden, wobei er das Hauptaugenmerk auf die Arbeitsweise des Schulinspektorats legt und Effekte von Interventionen im Anschluss an kritische Diagnosen zur Schulqualität herausarbeitet. Dabei kann er sich zum einen auf eine starke niederländische Forschungstradition zur Schulqualität und zum anderen auf seine eigene Berufserfahrung im Inspektorat stützen.

Joachim Herrmann beschäftigt sich mit einer Unterstützungsmaßnahme für »Schulen in schwieriger Lage« im Stadtstaat Hamburg, die im Zeitraum von 2007 bis 2010 durchgeführt wurde. Er skizziert die Grundzüge des Programms und behandelt dann eingehend die Kernprobleme der Schulen, die in dieses Programm involviert waren. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen plädiert er dafür, der Schulkultur im Rahmen der Diskussion über die Problematik des Organisationsversagens mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Elisabeth Schwank und Norbert Sommer legen eine Metaanalyse zur niedersächsischen Schulinspektion vor, bei der im Hinblick auf die Merkmale »schwacher« Schulen die Daten der Erstinspektionen mit denen der Nachinspektionen in Verbindung gebracht werden. Die Analyse führt die Autorin und den Autor zu einer positiven Einschätzung im Hinblick auf den Turnaround: In vielen Schulen sei es gelungen, in einem Zeitraum von rund achtzehn Monaten gravierende Mängel zu beheben.

Norbert Landwehr und Peter Steiner beschreiben in ihren Beiträgen, wie das Problem der »Failing Schools« in der Tätigkeit der externen Schulevaluation im Kanton Aargau aufgegriffen und bearbeitet wird. Sie stützen sich dabei auf ein Konzept, das gravierende Funktionsstörungen von Schulen durch das Symbol einer roten Ampel ausweist. Während im Artikel von Norbert Landwehr das Modell der Ampelevaluation dargestellt wird, legt Peter Steiner erste explorative Befunde zum gelungenen Turnaround vor, wobei er sich zum einen auf Evaluationsberichte und zum anderen auf Interviews stützt.

Im abschließenden Beitrag nimmt Toni Strittmatter aus der Perspektive des Organisationsberaters zur Problematik von extern oder intern verursachten Krisenlagen an Schulen Stellung. Er schildert Eskalationsmuster und liefert Hinweise und Ansatzpunkte, die es ermöglichen, das Muster zu durchbrechen. Aus seiner Perspektive lautet eine elementare Anforderung an Beratung und Intervention, dass mit Umwegen und Rückfällen immer zu rechnen ist. Bei der Gestaltung schulischer Wirklichkeit geht es in diesem Sinne niemals um Perfektion, sondern um die Lebensfähigkeit des Unvollkommenen.

Der vorliegende Band ist aus einer gleichnamigen Tagung hervorgegangen, die im September 2011 in Basel gemeinsam vom Forum Bildung und der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz ausgerichtet wurde. Dabei konnten wir an eine Vorgängertagung zur Frage der Wirksamkeit externer Schulevaluation anknüpfen (Quesel et al., 2011).

Beim Forum Bildung danken wir namentlich Diana Neuber für die hervorragende organisatorische Unterstützung; aus unserem eigenen Sekretariat möchten wir Silvia Moor hervorheben, die sich mit großer Sorgfalt um viele Detailfragen gekümmert hat. Bei der redaktionellen Bearbeitung der Manuskripte haben Sara Mahler und Natascha Hohl gründliche Arbeit geleistet. Für das Lektorat danken wir Susanne Gentsch vom hep-Verlag und Christoph Gassmann.

Aarau, im November 2012

Carsten Quesel, Vera Husfeldt, Norbert Landwehr und Peter Steiner

Literatur

Altrichter, H. & R. Moosbrugger (2011). Schulen in Schwierigkeiten. Was sagt die Schulforschung über Anzeichen, Ursachen und Lösungen? Lernende Schule, 14 (56), 8–11.

Barber, M. (1995). Shedding Light on the Dark Side of the Moon. Times Education Supplement, 12. Mai 1995. Online: www.tes.co.uk/article.aspx?storycode=11139 [22.11.2012].

Coleman, J. et al. (1966). Equality of Educational Opportunity. Washington: US Government Printing Office.

Cuban, L. (2012). Reframing Shame: How and When Blame for Student Achievement Shifted. Online: http://larrycuban.wordpress.com/2012/10/20/reframing-shame-how-andwhen-blame-for-student-low-achievement-shifted/ [16.11.2012].

Fend, H. (1986). »Gute Schulen – schlechte Schulen«. Die einzelne Schule als pädagogische Handlungseinheit. Die deutsche Schule, 78(3), 275–293.

Fend, H. (2006). Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Fink, D. (1999). Deadwood didn’t Kill Itself: A Pathology of Failing Schools. Educational Management Administration & Leadership, 27(2), 131–141.

Grift, W. van de & A.A.M. Houtveen (2007). Weaknesses in Underperforming Schools. Journal of Education for Students Placed At Risk, 12(4) 383–403.

Hattie, J. (2003). Teachers Make a Difference: What is the Research Evidence? Australian Council for Educational Research Annual Conference on: Building Teacher Quality, University of Auckland. Online: www.education.auckland.ac.nz/webdav/site/education/shared/hattie/ docs/teachers-make-a-difference-ACER-%282003%29.pdf [16.11.2012].

Herman, R., P. Dawson, T. Dee, J. Greene, R. Maynard, S. Redding & M. Darwin (2008). Turning around Chronically Low-Performing Schools: A Practice Guide. Washington, DC: National Center for Education Evaluation and Regional Assistance, Institute of Education Sciences, U.S. Department of Education.

Holtappels, H. G. (2008). Failing Schools – Systematisierung von Schultypologien und empirischer Forschungsstand. Journal für Schulentwicklung, 12(1), 10–19.

Hopkins, D. (2007). Every School a Great School. Maidenhead, Berkshire: Open University Press/McGraw Hill.

Howson, J. & A. Sprigade (2011). 26th Annual Survey of Senior Staff Appointments in Schools across England and Wales. London: Education Data Surveys at TSL Education Limited.

Huber, S. G. (2012). Failing Schools – besonders belastete Schulen. SchulVerwaltung spezial, 14 (2), 1.

Leithwood, K., A. Harris & T. Strauss (2010). Leading School Turnaround. How Successful Leaders Transform Low-Performing Schools. San Francisco, CA: Jossey-Bass.

Levin, B. (2007). Schools in Challenging Circumstances: A Reflection on what we Know and what we Need to Know. School Effectiveness and School Improvement: An International Journal of Research, Policy and Practice, 17(4), 399–407.

McDermott, K. & A. McDermott (2009): What Causes Variation in States’ Accountability Policies? Peabody Journal of Education, 78(4), 153–176.

Mintrop, H. (2003). The limits of Sanctions in Low-Performing Schools: A study of Maryland and Kentucky Schools on Probation. Education Policy Analysis Archives, 11(3). Online: http://epaa.asu.edu/epaa/v11n3.html [22.11.2012].

 

Mortimore, P., P. Sammons, L. Stoll, D. Lewis, & R. Ecob (1988). School Matters. Berkeley, CA: University of California Press.

Muijs, D. (2007). Improving Failing Schools: Towards a Research Based Model. Online: www.fm-kp.si/zalozba/ISBN/978-961-6573-65-8/077-090.pdf [16.11.2012].

Murphy, J. & C. V. Meyers (2007). Turning Around Failing Schools. Leadership Lessons From the Organizational Sciences. Thousand Oaks, CA: Corwin Press.

Nichols, S. L. & D. C. Berliner (2007). Collateral Damage. How High-Stakes Testing Corrupts America’s Schools. Cambridge, MA: Harvard Education Press.

Nicolaidou, M. & M. Ainscow (2005). Understanding Failing Schools: Perspectives from the Inside. School Effectiveness and School Improvement: An International Journal of Research, Policy and Practice, 16(3), 229–248.

OECD (2012). Equity and Quality in Education. Supporting Disadvantaged Students and Schools. Paris: OECD.

Quesel, C., V. Husfeldt, N. Landwehr & P. Steiner (Hrsg.) (2011). Wirkungen und Wirksamkeit der externen Schulevaluation. Bern: hep.

Reynolds, D. (1991). Changing Ineffective Schools. In: M. Ainscow (Hrsg.). Effective Schools for All (S. 92–105). London: Fulton.

Reynolds, D., A. Harris, P. Clarke, B. Harris & S. James(2006). Challenging the Challenged: Developing an Improvement Programme for Schools Facing Exceptionally Challenging Circumstances. School Effectiveness and School Improvement, 17(4), 425–439.

Rutter, M., B. Maughan, P. Mortimore & J. Ouston (1979). Fifteen Thousand Hours. Secondary Schools and their Effects on Children. London: Open Books.

Scheerens, J. (2006). Starke und schwache Schulen – Ergebnisse aus der Schulforschung. Pädagogische Führung 17(2), 72–75.

Smith, N. (2012). The Louisiana Recovery School District: Lessons for the Buckeye State. Dayton, OH: Thomas B. Fordham Institute.

Stephens, D. B. (2010). Improving Struggling Schools. A Developmental Approach to Intervention. Cambridge, MA: Harvard Education Press.

Stoll, L. & K. Myers (Hrsg.) (1998). No Quick Fixes: Perspectives on Schools in Difficulty. London: Falmer Press.

Turner, L. (1998). Turning around a Struggling School: A Case Study. In: L. Stoll & K. Myers (Hrsg.). No quick fixes: Perspectives on schools in difficulty (S. 96–106). London: Falmer Press.

Wössmann, L. (2007). Letzte Chance für gute Schulen. Die 12 großen Irrtümer und was wir wirklich ändern müssen. München: Zabert Sandmann.

Carsten Quesel und Vera Husfeldt

»Failing Schools« im Kontext marktorientierter Bildungspolitik

Eine Analyse zur Reformdynamik in England und den USA

Mehr als tausend Primarschulen seien in England von der Schließung bedroht, so steht in einer Nachricht der Daily Mail vom 9. Dezember 2011 zu lesen.5 Für diese Fälle ergäben sich zwei Möglichkeiten: Sie könnten in eine neue Schulform verwandelt oder aber mit erfolgreichen Schulen verschmolzen werden. In einem Artikel des Wall Street Journal vom 24. September 2011 heißt es, die Stadt New York habe mehr als hundert Schulen benachrichtigt, dass sie geschlossen werden könnten, wenn sie bei der jährlichen Bilanz der Schülerleistungen schlecht abschneiden sollten.6 Dass es sich nicht um leere Drohungen handelt, geht aus den weiteren Ausführungen hervor: Seit 2002 habe die Stadtverwaltung 117 Schulen wegen schlechter Resultate der Schülerinnen und Schüler bei vergleichenden Leistungstests geschlossen. Versuche von Eltern und Lehrerverbänden, diese Schließungen gerichtlich anzufechten, seien weitgehend erfolglos geblieben.

Der vorliegende Artikel zielt darauf ab, den Hintergrund dieser Zeitungsmeldungen auszuleuchten. Zunächst einmal ist uns die Frage wichtig, anhand welcher Kriterien im englischen und amerikanischen Bildungssystem die Diagnose gestellt wird, dass eine Schule bei der Bewältigung ihrer Aufgaben versagt hat. Darüber hinaus interessiert uns der Deutungsrahmen, der der Definition dieser Kriterien zugrunde liegt. In dieser Hinsicht stellen wir das Paradigma der marktorientierten Steuerung des Bildungssystems ins Zentrum unseres Beitrags. Unser Augenmerk konzentriert sich auf das englische und das amerikanische Bildungssystem, weil den Regierungen Großbritanniens und der USA im Vergleich westlicher Länder ein Protagonistenstatus bei der Umsetzung marktorientierter Bildungsreformen zukommt. (Die Rede vom »englischen« Bildungssystem ist dabei kein Lapsus: Für das schottische Bildungssystem war die britische Regierung nie zuständig, im Fall von Wales hat sie diese Zuständigkeit verloren, und Nordirland ist ebenfalls ein Spezialfall.)

Der Artikel folgt teilweise systematischen und teilweise chronologischen Gesichtspunkten. Im ersten Abschnitt rekonstruieren wir das Paradigma marktorientierter Steuerung. Im zweiten Abschnitt behandeln wir die Kritik an der wohlfahrtsstaatlichen Bildungspolitik, die einen wichtigen Auslöser für die Identifikation von »Failing Schools« bildet. Der dritte Abschnitt ist der Frage gewidmet, mit welchen Konzepten und Instrumenten erfolgreiche von mangelhaften Schulen unterschieden werden: Hier spielen Bildungsstandards und Leistungstests eine wichtige Rolle. Der vierte Abschnitt wendet sich der Frage zu, wie mit den »Failing Schools« zu verfahren ist: Welche Art von Support, welche Sanktionen sind aus dem Blickwinkel marktorientierter Steuerung geeignet, um der Problematik versagender Institutionen erfolgreich zu begegnen? Dieser Aspekt wird im fünften Abschnitt anhand von zwei neu eingeführten Schultypen vertieft: Im englischen Fall handelt es sich um die Academy Schools, im amerikanischen Fall um die Charter Schools. Im sechsten Abschnitt tragen wir Argumente zur Kritik am Paradigma marktorientierter Bildungspolitik zusammen, bevor wir dann im Rahmen des Fazits die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Fälle diskutieren und einige Überlegungen dazu anstellen, welche Lehren aus dieser Rekonstruktion zu ziehen sind.

Das Paradigma marktorientierter Steuerung

Als wissenschaftlichen Ansatz legen wir unserer Untersuchung den akteurszentrierten Institutionalismus zugrunde (Mayntz, 1997, 2009; Scharpf, 2000). Bildungspolitik ist in dieser Perspektive als ein Feld zu begreifen, in dem Akteure mit unterschiedlichen Präferenzen aufeinandertreffen, die sie teils kompetitiv, teils kooperativ durchzusetzen versuchen. Die Frage, wie das Bildungssystem zu gestalten sei, wird von daher immer ein Gegenstand von Kontroversen sein, die eine mehr oder minder große Dynamik auslösen. Die Präferenzen werden durch soziale Rahmenbedingungen bestimmt, die sich im Zuge der politischen Auseinandersetzung wandeln. Institutionen sind in diesem Sinne handlungsleitende kulturelle Muster, die durch die Interaktionsdynamik teils absichtsvoll, teils unbeabsichtigt verändert werden. Für den Verlauf der politischen Interaktion ist die Mobilisierung symbolischer Ressourcen von großem Gewicht: Die Schlüsselfrage lautet daher, wem es gelingt, durch die Besetzung von Begriffen und den Gebrauch von Symbolen die politische Agenda zu definieren.

Bei der Umsetzung von politischen Agenden bestehen in demokratischen Systemen neben der durch Wahlen oder Abstimmungen legitimierten hierarchischen Steuerung zwei weitere wichtige Optionen: Zum einen ergeben sich Zonen, in denen kompromiss- oder konsensorientiert nach Verhandlungslösungen gesucht werden kann. Zum anderen besteht die Möglichkeit, im öffentlichen Sektor Wettbewerbsmechanismen in Gang zu setzen, sodass unter Gesichtspunkten der Opportunität zwischen Lösungsvarianten gewählt werden kann. Sowohl bei Verhandlungslösungen als auch bei Wettbewerbsmechanismen verhält es sich in der Regel so, dass diese Optionen im »Schatten der Hierarchie« (Héritier & Lehmkuhl, 2011; Scharpf, 2000, S. 326f.) stehen. So ist zum einen bei Versuchen der intersubjektiven Konsensbildung nicht generell davon auszugehen, dass sich alle Akteure auf derselben Augenhöhe begegnen. Zum anderen ist die marktorientierte Steuerung des öffentlichen Sektors zwar einem ökonomischen Wettbewerbsmodell verpflichtet, am Ende sind es aber politische Institutionen, die ein solches Programm implementieren und in Gang halten (Freeman & Minow, 2009; Héritier & Rhodes, 2011; Hood, 1998; Walsh, 1995). In diesem Sinne zeichnet sich der Neoliberalismus dadurch aus, dass demokratisch legitimierte Macht darauf verwendet wird, Volkssouveränität so weit wie möglich in Konsumentensouveränität zu verwandeln.

Hinsichtlich der bildungspolitischen Agenda geht es im Folgenden um neoliberale Reformen, die darauf abzielen, Schulen ganz oder teilweise in Dienstleistungsunternehmen auf einem mehr oder weniger freien Markt zu verwandeln. Zu den beabsichtigten Konsequenzen dieser Reformen gehört es, dass die Schulen in eine Wettbewerbssituation gebracht werden, sodass alle Einrichtungen darum kämpfen müssen, ihr Bildungsangebot permanent mit Blick auf den Output der Lernleistungen zu verbessern (Hanushek, 2003, S. 92–95).

Geht man von neoliberalen Postulaten aus, dann besteht eine vorrangige bildungspolitische Aufgabe darin, im Bildungssystem Markttransparenz herzustellen, damit Eltern die Chance haben, nach Gesichtspunkten der Nutzenmaximierung zwischen verschiedenen Bildungsangeboten zu wählen. Zur Markttransparenz gehört, dass die Leistungsfähigkeit der Angebote anhand von Indikatoren verglichen werden kann. Diese dienen nicht nur als Quelle evidenzgestützter bildungsbiografischer Entscheidungen der Eltern, sondern zugleich auch als Anreizsystem für die Schulen, die ihre relative Marktposition anhand von Leistungsdaten abschätzen und entsprechende Konsequenzen ziehen sollen. Darüber hinaus dienen die Indikatoren auch für das politische Controlling und Monitoring: Öffentliche Schulen werden anhand der Indikatoren zur Rechenschaft gezogen und müssen sich beim wiederholten Verfehlen von Leistungszielen auf Sanktionen gefasst machen.

Der Logik marktorientierter Steuerung entspricht es, so weit wie möglich auf Deregulierung und Privatisierung zu setzen (Becker, 1958; Friedman, 2002). Dabei sind aber auch aus der Optik des Neoliberalismus Einschränkungen erlaubt und mitunter sogar geboten: Bildung kann auch aus dieser Perspektive als ein Gemeingut aufgefasst werden, das allein durch privatwirtschaftliche Initiative nicht im hinreichenden Ausmaß produziert werden kann. Von daher gibt es gute Gründe, an öffentlichen Schulen festzuhalten. Es gibt aber auch Gründe, dieses Bildungssystem so weit wie möglich in der Form eines »Quasi-Marktes« zu organisieren, der durch Konkurrenzmechanismen in Bewegung gehalten wird. In diesem Sinne plädiert Milton Friedman für einen Minimalstaat, der neben der Definition von Eigentumsrechten, dem Schutz vor Übergriffen und der Verhinderung von Monopolen auch Aufgaben bei der Fürsorge für Kinder übernimmt, ohne dabei aber die private Verantwortung der Eltern außer Kraft zu setzen (Friedman, 2002, S. 93). Weil für Friedman der Wettbewerb die beste Form der Allokation von Ressourcen ist, erscheinen ihm Bildungsgutscheine als geeigneter Modus der Optimierung von Bildungsangeboten: Die Investition öffentlicher Mittel könne über solche school vouchers weitgehend dezentralisiert und in die Hände der Stakeholder gelegt werden.

Wie alle anderen öffentlichen Einrichtungen sollen Schulen so weit wie möglich unternehmerisch geführt werden (Chubb & Moe, 1990, 1992; Osborne & Gaebler, 1992). Schulautonomie ist in diesem Sinne so zu verstehen, dass auf der Leitungsebene Entscheidungen über den Einsatz von Ressourcen so getroffen werden müssen, dass dabei ein möglichst großer messbarer Bildungseffekt erzielt wird. Der Staat hat sich darauf zu beschränken, mit minimalem Aufwand ein valides System der Erfolgskontrolle zu installieren. Schülerleistungen sollen anhand von Standards als Output gemessen werden, die Schulen ansonsten aber weitgehend freie Hand haben, wenn es etwa um die Gestaltung von Lehrplänen oder die Rekrutierung von Personal geht. Die Erfolgskontrolle ist angesichts ungleicher sozialer Rahmenbedingungen nicht auf absolute Leistungswerte zu fokussieren, sondern auf den relativen Zuwachs der Leistungswerte der Schülerinnen und Schüler, wobei die Erwartungswerte anhand sozialer Belastungsfaktoren differenziert werden können.

 

In der neoliberalen Perspektive ist das Scheitern von Schulen ein Normalfall sozialer Evolution: Dem Gemeinwohl ist demnach am besten gedient, wenn mangelhafte Lösungen im Zuge von Selektionsprozessen eliminiert werden. Schumpeter hat für diesen Selektionsprozess den Begriff der »schöpferischen Zerstörung« geprägt: Im Unterschied zur Unterbietungskonkurrenz bei den Preisen von vergleichbaren Produkten und Dienstleistungen zeichne sich der Prozess der schöpferischen Zerstörung dadurch aus, dass durch neue Erfindungen überlegene Angebote auf den Markt gebracht werden, die herkömmliche Techniken, Praktiken und Organisationsformen obsolet machen (Schumpeter, 1980, S. 140). Können Anbieter mit diesem Innovationszwang nicht mithalten, werden sie unweigerlich vom Markt gedrängt und machen Platz für bessere Lösungen. Auf das Bildungssystem übertragen, verlangt das Konzept der schöpferischen Zerstörung danach, dass Selektion nicht nur innerhalb von Schulen, sondern auch zwischen Schulen stattfinden muss. Ein nützlicher Nebeneffekt bestehe darin, dass ein drohender Konkurs ungeahnte Kräfte mobilisieren könne, die zu einem Turnaround führten.

Die skizzierten Grundzüge der neoliberalen Agenda sollen im nächsten Abschnitt im Hinblick auf das bildungspolitische Agenda-Setting in England und den USA konkretisiert werden. Das Unterfangen, eine neue Agenda zu definieren und zu implementieren, setzt bei der Kritik wohlfahrtsstaatlicher Bildungspolitik an.