Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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Neue Ansätze und theoretische Perspektiven von Judson, Cornwall, Zahra und anderen drehen historiographische Paradigmen um und bringen im Wesentlichen revisionistische Bemühungen in den Habsburgerstudien ein. Dieselben Ansätze begründen sich jedoch auf der Idee, dass Makro-Perspektiven wie sämtliche Verwaltungsreformen, Funktionen der bürokratischen Organisation oder die Entwicklung der Zivilgesellschaft mit anderen Mikro-Perspektiven verknüpft oder argumentiert werden. Dabei sollte man allerdings vorsichtig verfahren; im neuen Optimismus des habsburgischen Revisionismus darf der menschliche Faktor in der Geschichte, an den auch Marc Bloch stets erinnerte,31 nicht vergessen bleiben. Historiker dürfen nicht vergessen, dass die Geschichte auch für jemanden und über jemanden geschrieben wird – nicht fast ausschließlich über etwas. Das menschliche Element einiger zukünftiger Habsburgerstudien darf nicht auf Grund eines „franzisko-josephinischen normativen Optimismus“ aufgegeben werden. Außerdem sollten spezifische und partikuläre Charakteristiken der einzelnen Länder nicht geopfert werden, um weitreichende universelle Makro-Perspektiven um jeden Preis einzuwenden. Werke der kroatischen Historikerin Mirjana (Miriam) Gross (1922–2012) bieten noch heute einen zuverlässigen Wegweiser, wie spezifische Entwicklungen im Rahmen einer Makro-Perspektive der Habsburgermonarchie behandelt werden können.32 Um eine (noch) mehr nuancierte strukturelle Analyse der Habsburgermonarchie und ihrer Ambivalenzen zu erreichen, werden weitere kultur- und gesellschaftsgeschichtliche vergleichende Studien über die Peripherie des Reiches, über Galizien, Bukowina, Dalmatien, Istrien, Kroatien-Slawonien und auch Ungarn im Ganzen immer notwendiger. Gerade Ungarn als schwerwiegender Fragenkomplex wird noch immer in den meisten Synthesen reduziert oder nur auf politischer Ebene ergänzt, wobei kulturelle, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Aspekte zumeist selten vorkommen. Ein de-zentrierter, pluralisierter Blickwinkel auf die Habsburgermonarchie im langen 19. Jahrhundert sollte dabei zu neuen Synthesen individueller Erfahrungen diverser Gruppen führen, deren Existenzrahmen die Donaumonarchie darstellte. So werden weitere Studien des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie (sowie Semiperipherie) eingebracht, die auch zu einer erweiterten Verflechtungsgeschichte führen können.

Nun besteht die Aufgabe nicht darin, nur das Umbruchjahr 1918 bzw. die Habsburgermonarchie bis 1918, sondern auch eine Epoche der langen Dauer im Wesentlichen aus anderen Blickwinkeln zu betrachten; nicht als das letzte Licht im Tunnel der Habsburgerstudien, sondern mehr als bindendes Jahr der Transition, die sich auf diversen Ebenen, sei es in der Kulturgeschichte, Literaturgeschichte, Mentalitätengeschichte oder auch in den Strukturen wie nationale Diskurse, politische Ideengeschichten usw. manifestiert. Da die „New Habsburg History“ meistens auf sozialgeschichtlicher Basis operiert, könnte man auch weiterhin epochenübergreifende Aufsätze (sowie Synthesen) erwarten, die Strukturen und Prozesse vor 1918 und nach 1918 verbinden und gründlich überprüfen.33 Multidisziplinäre und Transdisziplinäre Untersuchungen der Habsburgermonarchie und deren „Nachleben“ in der Zwischenkriegszeit (auf politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ebenen) öffnen somit immer wieder neue Potentiale, die die Habsburgerstudien nicht nur durch revisionistische Bemühungen, sondern auch durch originelle Problemstellungen bereichern. Somit wird die Geschichte vom langen Fall zur Geschichte vom langen Wandel.

Die Geburt des Rechtspositivismus aus dem Zerfall der politischen Ordnung

Kelsen und die Reine Rechtslehre

Christine Magerski (Zagreb) – Johanna Chovanec (Wien)

1. Einleitung

Mit dem Ersten Weltkrieg vollzog sich die intellektuelle Grundlegung der Reinen Rechtslehre, und dies „in dramatischer Verdichtung und Verquickung von Biographie, Wissenschaft und Politik“.1 Als Architekt der österreichischen Bundesverfassung wird der Jurist Hans Kelsen (1881–1973) auf den Parlamentsseiten der Republik Österreich zu den wichtigsten Persönlichkeiten gezählt, welche nach dem Zusammenbruch der imperialen Ordnung an dem Aushandlungsverfahren zwischen Politik und Recht beteiligt waren. Kelsens Prominenz wurde insbesondere im öffentlichen Diskurs rund um das 100-jährige Jubiläum der österreichischen Bundesverfassung im Jahr 2020 sichtbar. 2018 präsentierte das Wiener Volkstheater die Uraufführung „Verteidigung der Demokratie“; eine historische Rückschau auf das verfassungsrechtliche Wirken Kelsens mit kritischen Verweisen auf anti-demokratische Tendenzen im zeitgenössischen Europa. Die Ausstellung „Hans Kelsen und die Eleganz der österreichischen Bundesverfassung“ im Jüdischen Museum Wien (2020–2021) würdigte nicht nur Kelsens Biographie, sondern ermöglichte auch eine detaillierte Beschäftigung mit dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) selbst. Thomas Olechowskis Biographie eines Rechtswissenschaftlers (2020)2 und Pia Plankensteiners graphic novel Gezeichnet, Hans Kelsen (2020)3 setzten neue Standards für die respektive wissenschaftliche und popkulturelle Beschäftigung mit Kelsen.

Kelsen hatte die habsburgische Tragödie, das heißt die Zuspitzung und den Untergang der österreichisch-ungarischen Großmacht(politik), nicht nur mit eigenen Augen gesehen, sondern deren Werden im Machtzentrum regelrecht studiert und nach denkbaren Alternativen gesucht. Die bis zum Ausbruch der so genannten Urkatastrophe unvorstellbaren Ereignisse der Realgeschichte öffneten ihm gezwungenermaßen die Augen für die Kontingenz politischer Ordnungen, welche wiederum den Versuch ermutigten, eine verbindliche Grundnorm als Fiktion zu setzen, um auf dieser die vorrangige Geltung der Rechtsordnung zu begründen. Jürgen Busch spricht bezüglich der Wirkung des Ersten Weltkriegs für Kelsen dann auch treffend von der „Achsenzeit einer Weltkarriere“ und resümiert, dass die Kriegsjahre 1914 bis 1918 für dessen Entwicklung von ganz entscheidender Bedeutung waren.4

Die Frage nach der Bedeutung des Ersten Weltkriegs und des Zusammenbruchs der Österreichisch-Ungarischen Monarchie für die Entwicklung Kelsens Reinen Rechtslehre steht im Fokus dieses Beitrags. Die Fragestellung selbst wird einerseits als Beitrag zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts und andererseits als eine mögliche Form der Kritik an der oftmals als unangreifbar und kristallklar betrachteten Reinen Rechtslehre verstanden. Bezugnehmend auf Christoph Menke begreifen wir Kritik dabei als das Verstehen eines Textes in seinem Werden. Wie Menke betont, muss die Kritik den Geburtsakt oder die innere Genesis ihres Gegenstandes nachvollziehen.5 Die Reine Rechtslehre und ihr politisches Potenzial, so gilt es zu zeigen, wurden vor der Folie des Ersten Weltkriegs geboren. Ihre Genese bleibt, auch wenn der Abstraktionsgrad der Theorie dies vergessen lässt, an die zuvor unvorstellbaren Ereignisse der Realgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts, den Zusammenbruch eines politischen Systems und die damit verbundene Einsicht in die Kontingenz von Ordnung gebunden. Ein solcher, formgenealogisch ausgerichteter Zugang bezieht die Entstehungshintergründe und den Kontext der von Kelsen gezielt als reine Form entworfenen Rechtstheorie notwendig mit ein.

Um die formgenealogische Kritik an der Rechtstheorie Kelsen zu entfalten, wird im Folgenden zunächst Kelsens Biographie enggeführt auf die beispiellose „wissenschaftliche Weltkarriere“, die der Rechtstheoretiker im 20. Jahrhundert durchlief.6 Der zweite Schritt konzentriert sich auf Kelsens Hauptwerk, die Reine Rechtslehre, als eine der wichtigsten rechtstheoretischen Schriften der Moderne. Ein besonderes Augenmerk wird in diesem Zusammenhang auf die Grundnorm als Höhepunkt Kelsens konsequent gedachten Rechtspositivismus gelegt. Der dritte und abschließende Schritt kontextualisiert den ideengeschichtlich radikalen Akt der Setzung der Grundnorm, indem er ein Schlaglicht auf Kelsens Aktivitäten während des Ersten Weltkriegs wirft und sein Rechtsdenken als Antwort oder auch mögliche Lösung einer politisch konkreten Problemlage, nämlich der österreichisch-ungarischen Armeefrage, aufweist.

2. Kelsens Aufstieg in die österreichische Wissenschafts- und Staatselite

Hans Kelsen war ein Kind der Donaumonarchie, das heißt eines historisch betrachtet lange währenden multinationalen und multikonfessionellen europäischen Großreichs. In ihm wiederum war er ein Teil der „Austrian State Elite“ und mithin einer Gruppe, für die Fredrik Lindström folgende Charakteristiken nennt: Ihre Teilnehmer durchliefen ein Studium der Rechte an österreichischen Universitäten, hatten gleichzeitig mehrere Betätigungsfelder, innerhalb derer sie zumeist insofern reformerisch tätig waren, als sie institutionelle Veränderungen als Staatsbeamte begleiteten oder als Experten für konstitutionelle Fragen wirkten, jedoch mehrheitlich keine politischen Karrieren anstrebten.1 In die so beschriebene österreichische Staatselite wurde Kelsen nicht hineingeboren, sondern musste sich in sie hineinarbeiten. Dem jüdischen Bürgertum zugehörig, wurde Kelsen im Jahr 1881 in Prag als Sohn eines Mannes geboren, der wiederum in Brody (Galizien) aufgewachsen war und in Wien starb. Seine Mutter, geborene Löwy, stammte aus Böhmen und starb 1950 in Bled, damals Jugoslawien.

Suchte man nach einer (post)imperialen Geschichte der Donaumonarchie in nuce, hier hätte man sie. Das dem habsburgischen Großreich inhärente Zentrum-Peripherie-Problem für sich lösend, zieht die Familie Kelsen 1884 nach Wien, wo der Sohn im Jahr 1900 die Matura am Akademischen Gymnasium Wien ablegt, um ein Jahr darauf ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Wien aufzunehmen.2 Der Beginn des Studiums im Zentrum des Reiches markiert den Anfang jener Weltkarriere, der ihre Achsenzeit noch bevorsteht. Gleichzeitig markiert die Zeit um 1900 einen staatsgeschichtlichen Einschnitt: „around the year 1900, this state was close to abdicating its role of leading and governing the society it was framing“.3 Genau diese Frage nach der möglichen ‚Rahmung‘ der Gesellschaft wird für Kelsen zur prägenden intellektuellen Herausforderung.

 

Um sie anzunehmen, musste sich Kelsen noch tiefer in das Zentrum hineinarbeiten. 1905 tritt er zum Katholizismus über. 1906 erfolgt die Promotion zum Dr. jur. an der Universität Wien, gefolgt von Studienaufenthalten in Heidelberg und Berlin. Im Frühjahr 1911 habilitiert sich der dreißigjährige Kelsen an der Universität Wien und beginnt dort noch im selben Jahr seine Lehrtätigkeit als Privatdozent für Staatsrecht und Rechtsphilosophie. Daneben lehrt er als Dozent für Verfassungs- und Verwaltungslehre an der Wiener Exportakademie des k.k. österreichischen Handelsmuseums. Als festen Baustein umfasst Kelsens Lehre eine Vorlesung, die sich ihrerseits als Seismograph des Wandels am Schnittpunkt von Politik-, Rechts- und Wissenschaftsgeschichte lesen lässt: Ab 1911 hält Kelsen in jedem Wintersemester die einstündige Vorlesung „Der österreichisch-ungarische Ausgleich“. Ab 1919/1920, also nach dem verlorenen Krieg und dem Untergang der Donaumonarchie, entwickelt Kelsen aus ihr sukzessive die Vorlesungen „Deutschösterreichisches Staatsrecht“, „Die Verfassung des Deutschen Reiches“ sowie, schließlich, „Allgemeine Staatsrechtlehre und österreichisches Staatsrecht“.4

Spätestens mit der Habilitation (1911) hatte sich Kelsen dabei nicht nur als Rechtsspezialist ausgewiesen, sondern innerhalb der sozialen Hierarchie des Großreiches auch endgültig den Aufstieg in die obere Mittelklasse vollzogen. Die Mittelklasse selbst war geradezu an das Rechtsstudium gebunden: „The Austrian middle class in the last decades of the empire was to a high degree a law educated class.“5 Als solche war sie von einer Kultur geprägt, welche wiederum, zumindest im Falle Kelsens, bis auf jene staatsbezogene, formalistische Rechtswissenschaft durchschlug, der Kelsen seine Mittelklasse-Existenz verdankte: „the basic abstract, a-national, and strongly state-centred culture“.6 Darauf wird zurückzukommen sein. Hinsichtlich der Biographie Kelsens bleibt zu ergänzen, dass das Leben der Familie Kelsen während des Krieges weitgehend ungestört verlief. Auch unterbrach der Krieg nicht die Wissenschaftskarriere Kelsens, im Gegenteil.7 Kelsens vielfältige Tätigkeiten im Kriegsministerium während des Ersten Weltkriegs und seine Positionierung im Hinblick auf die österreichisch-ungarische Armeefrage zeigen, wie nah an den Regierungskreisen Kelsen gearbeitet hat und wie sehr sein rechtswissenschaftliches Wirken in Wechselwirkung mit den politischen Gegebenheiten stand. Zudem hielt Kelsen während des Krieges, und zwar durchgängig von Ende 1913 bis 1918, in seiner Wohnung Privatseminare ab, aus denen sich ein engerer Kreis bildete, der nach dem Krieg die Form einer Schule annahm. In einer Art Sonntags-Kreis kam es einmal im Monat zu einer intellektuellen Zusammenkunft, deren bloße Existenz bezeugt, dass sich selbst noch die Urkatastrophe beobachten und reflexiv einholen ließ.

Unmittelbar nach dem Ende des Krieges, im März 1919, wird Kelsen zum Mitglied des deutschösterreichischen Verfassungsgerichtshofes ernannt und, im Sommer desselben Jahres, zum ordentlichen Universitätsprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien. Die Professur besetzt Kelsen bis 1930.8 Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und des Antisemitismus an den Hochschulen verlassen Hans und Margarete Kelsen in Jahr 1940 Europa und gehen nach New York, wo Kelsen seine „wissenschaftliche Weltkarriere“ fortsetzt.9

3. Kelsens Reine Rechtslehre

Kelsens wissenschaftliches Hauptanliegen war es, die Rechtswissenschaft als eigenständige Wissenschaft zu etablieren und sie dabei von ideologischen Verstrickungen mit der Politik loszulösen: „Nicht um die historische, politische, ökonomische, soziale, moralische, psychische Qualität von Recht geht es, sondern um Recht als Recht. D.h. die spezifisch juristische, eben eigengesetzliche Dimension des Rechts.“1 Als sein oftmals modifiziertes Hauptwerk gilt die Reine Rechtslehre, deren Grundzüge er bereits in seiner Habilitationsschrift Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911)2 entworfen und dann 1934 paradigmatisch in der Reinen Rechtslehre präsentiert hat. Wie Zeleny hervorhebt, hat Kelsen selbst seine Reine Rechtslehre stets als work in progress verstanden, als ein auf „Fortentwicklung gerichtetes Unternehmen unter Beteiligung einer Mehrzahl gleichgesinnter Gelehrter“.3 Diese Weiterentwicklung wurde zum einen von seinen Schülerinnen und Schülern und zum anderem von ihm selbst vorangetrieben. Kelsen ist den Grundpfeilern seiner Lehre zwar grundsätzlich treu geblieben, hat sie aber immer wieder umfassend überarbeitet und als modifizierten Gesamtüberblick publiziert: in der Allgemeinen Staatslehre (1925),4 der bereits erwähnten ersten Ausgabe der Reinen Rechtslehre (1934),5 der General Theory of Law and State (verfasst auf Englisch, 1945),6 der zweiten, deutlich umfassenderen Ausgabe der Reinen Rechtlehre (1960)7 und der posthum veröffentlichten Allgemeinen Theorie der Normen (1979)8.

Kelsens revolutionäre Ansätze haben in den Jahren nach seiner Habilitation zur Herausbildung der bereits angesprochenen so genannten Wiener rechtstheoretischen Schule geführt, eines losen Kreises gleichgesinnter Gelehrter.9 Mit Kelsens Weggang aus Wien nach Köln und spätestens mit seiner Emigration in die USA vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Machtergreifung zerfällt der Wiener Kreis jedoch zunehmend.10 Kelsens Bemühungen um eine Verwissenschaftlichung und Entideologisierung der Rechtswissenschaft haben jedoch bei weitem nicht nur Zustimmung, sondern auch breite Ablehnung erfahren. So wurde Kelsens Doktrin oft als Provokation bzw. als Angriff auf die etablierte Jurisprudenz wahrgenommen.11 Kelsens Bestreben, eine reine und damit erst wissenschaftliche Rechtslehre zu entwickeln, wurde von vielen als Herabsetzung der bisherigen Jurisprudenz als unwissenschaftlich und unrein wahrgenommen.12 Mehrfach kritisiert Kelsen, dass die traditionelle Rechtstheorie vor allem seit dem Ersten Weltkrieg wieder stark von der konservativen Naturrechtslehre beeinflusst ist.13

Wie bereits angedeutet, ist es kaum möglich, von der Reinen Rechtslehre als geschlossenem theoretischen Ansatz zu sprechen.14 Grundsätzlich bezieht sich die Reine Rechtslehre, wie Jestaedt im Vorwort zur Studienausgabe der ersten Auflage der Reinen Rechtslehre hervorhebt, auf drei Punkte: Erstens, den in zwei unterschiedlichen Auflagen (1934, 1960) erschienenen Text Kelsens, dessen Version von 1934 als paradigmatisches rechtstheoretisches Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist. Zweitens, als ideologiekritische, rechtspositivistische Theorie, die eng mit dem Namen Kelsen verknüpft ist. Drittens, als Gruppierung von RechtswissenschaftlerInnen, die, wie oben ausgeführt, die Wiener Schule der Rechtstheorie geformt haben und eng mit der Wiener Moderne verbunden sind.15 Der vorliegende Beitrag fokussiert vor allem auf die Reine Rechtslehre16 Kelsens, wie sie in theoretisch verdichteter Form erstmals 1934 veröffentlicht worden ist und bezieht sich auch auf die zweite Auflage von 1960.17

Wenn im Art. 18 der österreichischen Bundesverfassung paradigmatisch festgelegt wird, dass die gesamte staatliche Vollziehung, also Verwaltung und Gerichtsbarkeit, nur aufgrund der Gesetze zur erfolgen hat, so wird die Frage nach der Geltung des Rechts angesprochen. Weshalb Recht gilt, wird von VertreterInnen verschiedener rechtstheoretischer Schulen abweichend beantwortet: Kelsen ist einer der wichtigsten Vertreter des Rechtspositivismus, seine Reine Rechtslehre eine spezifische Ausformung desselben.18 Wenngleich Kelsens Schaffen über den Lauf der Jahrzehnte viele Veränderungen erfahren hat, bleiben, wie Meiners hervorhebt, zwei Grundannahmen in Kelsens Schaffen konstant: Die Positivität und die Normativität des Rechts als Grundlagen seines Rechtsverständnisses.19 Positives Recht bezeichnet das vom Menschen gesetzte Recht, welches, im Gegensatz zu anderen Normen wie religiösen Vorstellungen, Teil einer normativen Sollensordnung ist.20 Rechtspositivistische Ansätze vertreten die Ansicht, dass nur die von Menschen gesetzten Normen als Recht gelten und sich ausschließlich von den in der Rechtsordnung bestimmten Rechtserzeugungsregeln ableiten lassen. Transzendentale Vorstellungen von Gerechtigkeit, Vernunft oder Moral spielen keine oder nur eine geringe Rolle. Der Naturrechtslehre hingegen liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich das vom Menschen gesetzte Recht aus einer universal gültigen, höheren Ordnung ableiten lässt. Die Geltung des Rechts wird somit beispielsweise in einer gottesgegebenen Ordnung, wie dem Gottesgnadentum, begründet.

Kelsen wendet sich dezidiert gegen naturrechtliche Vorstellungen, wenn er betont, dass das positive Recht von ideologischen Tendenzen mit machtpolitischen Absichten abhängig gemacht wird, wenn es als „Ausfluß einer natürlichen, göttlichen oder vernünftigen, das heißt aber absolut richtigen, gerechten Ordnung“21 betrachtet wird. Die reine Rechtslehre, als Rechtswissenschaft im eigentlichen Sinne, verfolgt das Ziel, „das Recht dar(zu)stellen, so wie es ist, ohne es als gerecht zu legitimieren oder als ungerecht zu disqualifizieren“.22 In diesem Sinne sei seine Rechtslehre anti-ideologisch, weil sie „die Darstellung des positiven Rechts von jeder Art naturrechtlicher Gerechtigkeitsideologie zu isolieren sucht“.23 In dieser Befreiung der Rechtswissenschaft „von allen ihr fremden Elementen“ und dem Fokus auf „eine nur auf das Recht gerichtete Erkenntnis“24 liegt die Reinheit der Rechtslehre. Kelsen löst den Begriff der Rechtsnorm von jenem der Moralnorm ab25 und betont die Eigengesetzlichkeit des Rechts: Gerechtigkeit, auf die sich Vorstellungen von Moral beziehen, wird von Kelsen verstanden als gesellschaftliches Glück und kann nicht Untersuchungsgegenstand der reinen, auf die Untersuchung des Rechts gerichtete Rechtslehre sein.26

Die Reine Rechtslehre als spezifische Rechtswissenschaft muss als Normwissenschaft verstanden und von den Kausalwissenschaften abgegrenzt werden, die „auf die kausal-gesetzliche Erklärung natürlicher Vorgänge abzielen.27 Der Begriff der Norm bezieht sich stets auf ein Sollen: darauf, dass etwas sein oder geschehen soll, bzw. dass sich Menschen auf bestimmte Weise verhalten sollen.28 Daraus ergibt sich auch die Unterscheidung zwischen Natur- und Rechtsgesetzen: Während erstere verdeutlichen „Wenn A ist, so muß B sein“, so zeigen letztere „Wenn A ist, so soll B sein, ohne daß damit irgend etwas über den moralischen oder politischen Wert dieses Zusammenhangs ausgesagt ist.“29

Dieser Dualismus von Sein und Sollen steht im Zentrum von Kelsens Geltungskonzeption. Kelsen setzt diese dichotome Unterscheidung voraus und erklärt sie nicht näher, da sie dem Bewusstsein unmittelbar gegeben sei.30 Wenn transzendentale Vorstellungen von einer gerechten, vernünftigen, oder gottgegebenen Ordnung als Geltungsbegründungen abgelehnt werden, stellt sich die Frage, was die Einheit von Normen und letztendlich die Geltung einer gesamten Rechtsordnung begründet. Für Kelsen kann die Geltung einer Norm nur von einem Sollen und nicht von einem Sein abgeleitet werden: „[…] daraus, daß etwas ist, kann nicht folgen, daß etwas sein soll; sowie daraus, daß etwas sein soll, nicht folgen kann, daß etwas ist. Der Geltungsgrad einer Norm, kann nur die Geltung einer anderen Norm sein.“31

Aus diesem Grundsatz ergibt sich, und das ist bis heute ein Grundbaustein der juristischen Ausbildung in Österreich, der so genannte Stufenbau der Rechtsordnung, der besagt, dass die Erzeugung und Geltung jeder Norm auf eine andere, übergeordnete Norm zurückgehen. Die Vielheit von Normen kann dann als zusammenhängende Einheit verstanden werden, wenn sie letztendlich auf eine gemeinsame Quelle rückführbar ist.32 Dieser Regress von der Norm zur übergeordneten Norm führt bei Kelsen zur Annahme einer Grundnorm, aus der sich die Verfassung und damit alle anderen Normen ableiten lassen. Die Grundnorm ist wohl eine der umstrittensten, teils enthusiastisch befürworteten, teils strikt abgelehnten Thesen Kelsens und wurde in der Sekundärliteratur als „the most notorious of the puzzles in Kelsen’s legal philosophy“33 beschrieben. Von Kelsens vielen Doktrinen ist es die Grundnorm „that has attracted most attention and captured the imagination“.34

 

Kelsen selbst beschreibt die Grundnorm in seiner Rechtslehre von 1934 als „hypothetische Grundlage“, „Bedingung aller Rechtsetzung, alles positiven Rechtsverfahrens“,35 „hypothetische Grundregel“ und „oberster Geltungsgrund“.36 Im Gegensatz zu den positiven Rechtsnormen wird sie nicht vom Menschen gesetzt, sondern vorausgesetzt.37 Damit erhält die Grundnorm die erkenntnistheoretische Funktion der Geltungsstiftung. Kelsen selbst erläutert den Inhalt der Grundnorm anhand des Beispiels, dass ein bisher monarchischer Staat durch eine Revolution gewaltsam gestürzt und schließlich durch die republikanische Staatsform ersetzt wird. Wenn nun das Verhalten der Menschen nicht mehr der alten, sondern der neuen Ordnung entspricht, der Umsturz also gelungen ist, wird eine neue Grundnorm vorausgesetzt, nämlich „nicht mehr jene, die den Monarchen, sondern eine, die die revolutionäre Regierung als rechtsetzende Autorität delegiert“.38

Es besteht demnach ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zwischen der das Verhalten der Menschen regelnden Rechtsordnung und dem tatsächlichen Verhalten der Menschen. Kelsen spricht in diesem Zusammenhang bildlich von der „Spannung zwischen dem Sollen und dem Sein“.39 Hier wird implizit die Frage nach der Wirksamkeit von Normen aufgeworfen, bzw. nach dem Verhältnis von Geltung und Wirksamkeit.40 Jabloner betont in diesem Zusammenhang, „dass der Rekurs auf die Wirksamkeit nicht als Geltungsgrund, sondern als Geltungsbedingung anzusehen ist, als Voraussetzung dafür, die Grundnorm eben nur bestimmten Sollensordnungen voranzustellen“, nämlich jenen, die von den Menschen befolgt werden41. Zentral ist, dass aus der Grundnorm nur die Geltung und nicht der Inhalt einer Rechtsnorm abgeleitet werden kann.