Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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2. Marginalität und Heimatlosigkeit

Der gegenwärtige Diskurs über Fremdheit ist, nicht zuletzt vor dem Hintergrund massenhafter Migration, von ethnisch-kulturellen Parametern bestimmt. Wie ein kurzer Blick auf soziologische und anthropologische Perspektivierungen zeigt, lässt sich das Fremde weiter und das heißt auch in einer soziologischen Beschreibung als randständig, deplaciert und marginalisiert innerhalb einer Gesellschaft, einer Kultur, eines Systems und eines partikularen Feldes beschreiben. Beinahe alle kulturell bestimmten Fremdheiten (Religion, Sprache, Gewohnheiten und informelle Regeln) gehen Hand in Hand mit jener Marginalität, wie sie der Chicagoer Soziologe Robert E. Park beschrieben hat. Aber nicht jedwede Form von Deplaciertheit und Außenseitertum ist an diese Parameter geknüpft. In einer bestimmten Situation und in einem anderen Kontext kann jeder sich in einer randseitigen Lage befinden, eine Frau in einer Männerrunde, ein Autor in einem Gespräch mit Bankern usw. Fremdheit ist bekanntlich keine Eigenschaft, sondern ein relationales Phänomen. Im Extremfall bedeutet Marginalität das absolute Fehlen von Bindungen und Beziehungen in einem gegebenen kulturellen Kontext, zum Beispiel die Nicht-Zugehörigkeit zu beiden Kulturen, der alten und der neuen.

Randständigkeit kann sich auch durch politische Zäsuren, wie sie das Ende des Ersten Weltkriegs darstellt, einstellen. Die Marginalität des migrantischen Menschen ergibt sich aus der Tatsache, dass er sein Land und damit seine vertraute soziale Situation mitsamt den vertrauten Codes hinter sich lässt. Die Marginalisierung von Menschen im Zentrum Europas nach 1918 ergibt sich nicht aus einer äußeren Migration, sondern durch das plötzliche Verschwinden vertrauter sozialer und kultureller Welten, und dies in einem doppelten Sinn, durch die militärische Ordnung der Dinge, die im Krieg bestimmend wird und die zivile Welt in den Hintergrund drängt, aber auch durch das Ergebnis dieses Krieges, als dessen Folge nicht nur ganze Staaten, sondern auch die symbolische Vorkriegswelt verschwindet. Ohne sich vom Fleck zu bewegen, ist man, Mann, in eine Situation geraten, die der Marginalität des Migranten (oder der Migrantin) sehr ähnlich ist. Der gemeinsame Nenner zwischen Migranten und Heimkehrer (oder eigentlich Nicht-Heimkehrer) lautet dabei: mangelnde Integration.

Parks ‚marginal man‘ findet sich in der Position des Randständigen wieder, der auf Grund seiner schwachen sozialen Integration durch eine so produktive wie prekäre Grenzlage charakterisiert ist. Im Gegensatz zu „innerer Distanz“ ist schwache soziale und kulturelle Einbindung aber eher ein defizitärer Befund, eine Herausforderung für Sozial- und Gesellschaftspolitik.1 Park hat den marginalen Fremden in seiner Schrift aus dem Jahre 1928 als einen kulturell gemischten Menschen, in der heutigen Terminologie, als einen ‚Hybriden‘, beschrieben:

[…] ein Mensch, der im kulturellen Leben und in den Traditionen zweier Kulturen lebt und sie auf intime Weise teilt; der, auch wenn es ihm niemand untersagen könnte, nie bereit wäre, mit seiner Vergangenheit und mit seinen Traditionen zu brechen, und der, aus einem rassischen Vorurteil heraus, in der Gesellschaft, in der er jetzt seinen Platz sucht, nie vollständig akzeptiert wurde. Er ist ein Mensch auf der Grenze zweier Kulturen und zweier Gesellschaften, die sich nie vollständig fusionieren und miteinander funktionieren.2

3. Roth und Horváth als Sonderbeobachter

In das Werk der beiden Autoren, von denen im Folgenden die Rede sein soll, Ödön von Horváth und Joseph Roth, ist die von Park umrissene Marginalität eingeschrieben. Dass dies bei den beiden heimatlosen altösterreichischen Schriftstellern der Fall ist, dazu bedarf es eigentlich nicht des Rückgriffs auf deren Lebensdaten. Aber in diesem Falle sind sie doch erhellend. Beide Autoren entstammen dem österreichischen Kontext der Habsburger Monarchie, beide befinden sich in einem gewissen Sinne in einer marginalen Situation, eben weil sie, der eine mit einem ungarisch-mitteleuropäischen Hintergrund, der andere auf Grund seiner galizisch-jüdischen Ausgangssituation, nicht eindeutig einem bestimmten, womöglich zentralen Code zuzuordnen sind. Überhaupt lassen polykulturelle Gebilde wie die Habsburger Monarchie des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein Nebeneinander und eine Überlappung verschiedener Codes zu, die, ungeachtet eines forcierten Nationalismus, lange Zeit kohabitationsfähig sind.

Beide Autoren finden sich nach dem Ende des Weltkriegs in der Situation des ‚marginal man‘ wieder. Ihre vertraute Welt, Österreich-Ungarn, existiert nur mehr als Erinnerungsraum, während das gleichfalls marginalisierte, politisch höchst instabile Österreich, auf den Status eines pauperisierten kleinen Landes herabgedrückt, ihnen gleichfalls fremd geworden ist. Man kann in bestimmten historischen Situationen ohne eigenes Zutun fremd werden, ohne dass man sich zunächst innerlich verändert hat. Zu Ende von Roths Roman, der den bezeichnenden Titel Die Flucht ohne Ende trägt, heißt es:

[…] da stand mein Freund Tunda, 32 Jahre alt, gesund und frisch, ein junger, starker Mann von allerhand Talenten, auf dem Platz vor der Madeleine, inmitten der Hauptstadt der Welt und wußte nicht, was er machen sollte. Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt.1

Diese Befindlichkeit charakterisiert viele Figuren in den literarischen Welten von Horváth und Roth. Die neue Umgebung, das geschlagene und von Krisen geschüttelte Deutschland, ist, ungeachtet der sprachlichen Nähe, wiederum ein fremdes symbolisches Territorium, das sich markant von dem alten, aber auch von dem fragilen neuen Österreich nach 1918 unterscheidet. In gewisser Weise ließe sich also sagen, dass Autoren wir Roth und Horváth eine dreifache Erfahrung von Marginalität in sich tragen: durch ihre ‚hybride‘ Herkunft, durch den Verlust ihrer Heimat und durch ihre Migration nach Deutschland und später nach Frankreich, in ein Land, in dem das Leben der beiden übrigens miteinander befreundeten Autoren endet.

Mit Blick auf das Rahmenthema des Bandes sind sie, auch wenn die Unterscheidung von deutsch und (alt-)österreichisch noch nicht exklusiv ist, sondern vielfach komplementär bleibt, systemtheoretisch gesprochen, literarische Sonderbeobachter eines bekannten und zugleich doch fremden, anderen Land, der Weimarer Republik, die auch durch einen Bruch gekennzeichnet ist: den verlorenen Krieg, Einbuße an Macht und ein neues instabiles, aber kulturell ungeheuer produktives liberales Regime. Roth und Horváth sind auch insofern prädestiniert für diese literarische ‚Aufgabe‘, insofern ihnen ja selbst die Erfahrung von Randständigkeit nicht fremd ist.

Wofür sich Roth und Horváth als sensible Sonderbeobachter der Welt nach 1918 interessieren, das ist eine ganz bestimmte Form von Marginalisierung, eben jene der vielen heimkehrenden männlichen Soldaten, von Menschen, die beinahe alles verloren haben: ihre angesehene soziale Stellung, ihre physische oder auch psychische Gesundheit, ihren Status als Mann, ihr Selbstwertgefühl, ihre sozialen Beziehungen, ihre Werte und Überzeugungen. Ähnlich wie es Alfred Schütz in seinem berühmten Aufsatz über den Fremden nahelegt, ist der Code ihrer alten Heimat, das Dasein als Soldat in einem mächtigen imperialen Gebilde, völlig wertlos geworden.2 Aus diesem brisanten Gemisch entstehen, um einen heutigen Terminus zu verwenden, Parallelwelten, die die Demokratie in Deutschland und parallel dazu in Österreich am Ende zu Fall bringen werden. Übrigens ist Hitler, der in Joseph Roth epischem Erstling Das Spinnennetz namentlich vorkommt, der österreichische Gefreite in fremden Diensten, zunächst durchaus ein ‚marginal man‘ im Sinne von Park. Die Bewegung, die er in Gang setzt, bezieht ihre Energie nicht zuletzt daraus, dass sie den Marginalisierten einen Weg aus ihrer prekären Situation weisen will. Der Kampf gegen das verhasste System von Weimar ist der Zerrspiegel der eigenen prekären bzw. prekär empfundenen Lage.

Marginalisierte Menschen aller Art bevölkern die beiden Œuvres der beiden Autoren altösterreichischer Provenienz. Im Falle Horváths denke ich, um nur die bekanntesten Werke zu erwähnen, an Kasimir und Karoline oder an Der ewige Spießer, in der die Marginalisierung des Mannes mit Arbeitslosigkeit mit Weltfremdheit und männlicher Marginalisierung einhergeht, zu denken ist auch an die gescheiterten, zumeist männlichen Existenzen in Geschichten aus dem Wiener Wald, vor allem aber an die beiden Versionen seines Sladeks, die im kommenden Abschnitt behandelt werden. Bei Joseph Roth, dem Erfinder des Kurzromans, wären Die Flucht ohne Ende, der Heimkehrer-Roman Hotel Savoy oder Die Rebellion, der Geschichte eines äußerlich wie innerlich amputierten Mannes, zu erwähnen – übrigens ist auch die Geschichte der ostjüdischen Familie Singer (Hiob) durch Marginalisierung und Migration bestimmt. Der Text, der indes den Zusammenhang zwischen Marginalisierung und Rechtsradikalismus literarisch demonstriert, ist der Roman Das Spinnennetz – es ist der zweite Text, der einer exemplarischen Analyse unterworfen wird.

4. Close Reading I: Horváths Sladek oder Die schwarze Armee

Sladek oder Die schwarze Armee sowie Sladek, der schwarze Reichswehrmann, ein stark verkürztes Kondensat, das nicht an die Erstfassung heranreicht, sind, wenn man die Vorarbeiten und Recherchen mit einbezieht, in den Jahren zwischen 1927 und 1929 entstanden, zu einer Zeit also, in der es schien, als ob die Weimarer Republik den schlimmsten Ansturm ihrer Gegner überstanden habe, weshalb sich ja einige der Proponenten des rechten Milieus, nachdem der Aufmarsch gegen die Republik misslungen ist, am Ende des Stücks ins Ausland absetzen.

 

Horváths Stück setzt mit einer „rechtsradikalen Versammlung“ ein, was auch durch die Bezeichnung „Hakenkreuzler“1 und später durch die Erwähnung der „Sturmabteilung Hitler“2 expliziert wird. Diese jagen einen linken Redakteur namens Franz, der sich in die Versammlung eingeschlichen hat. Die Funktion der Szene besteht darin, das symbolische Mobiliar der marginalisierten Aufständischen vorzuführen, ihre Symbole, Diskurse und Narrative. Eines davon ist die Erzählung vom verratenen Sieg („Wir hätten den Krieg verloren? Solche Subjekte haben uns Sieger erdolcht […]“), ein anderes ist eine rassistische („Am Rhein schänden syphilitische Neger deutsche Frauen“).3 Auch darf der Aufruf der beschädigten Ehre nicht fehlen. All diese rechtsradikalen Versatzstücke lassen sich unter dem Schirm eines nationalistischen Opfer-Narrativs stellen. Dessen Besonderheit besteht nicht zuletzt darin, dass hier das Schicksal des Landes, Deutschlands, mit der eigenen Deplacierung eng geführt wird. Erst dadurch entsteht jener affektive Überschuss an Wut und Hass, der sich gegen das „System“ und seine vermeintlichen oder auch wirklichen Vertreter wie Franz richtet, der davon ausgeht, dass die Demokratie in Deutschland noch nicht vollständig etabliert ist und in der Verurteilung der Versailler Verträge mit den Rechtsradikalen übereinstimmt.4

Vorgeführt werden im Stück mordlustige Sprache und Hass-Gesänge („Schlagt zum Krüppel den Doktor Wirth“, „Knattern die Gewehre, tack, tack, tack, / Aufs schwarze und das rote Pack“). Erschreckend prophetisch ist auch die triumphale Aussage des „zweiten Hakenkreuzlers“: „Wenn‘s losgeht, dann kommt ein Gesetz, daß sich jeder Jud einen Rucksack kaufen muß. Was er hineinbringt, das darf er mitnehmen nach Jerusalem. Was er nicht hineinbringt, gehört uns.“5

Für dieses symbolische Mobiliar, seine Codes und seine Erzählungen, muss selbstredend ein Aktionsraum geschaffen werden. Dieser wird bereits im Titel aufgerufen: Es ist jener der illegalen Reichswehrverbände. Bekanntlich wurden durch die Verträge von Versailles und (im Falle von Österreich) Saint Germain die Truppenbestände der geschlagenen Mittelmächte radikal reduziert, was in beiden Fällen zur Bildung von paramilitärischen Verbänden führte, denen sich – Zustand eines latenten Bürgerkrieges – wiederum linke bewaffnete Einheiten entgegenstellten. Das Verhältnis zwischen den rechten Parteien (Völkische, Deutschnationale) und diesen illegalen, schwarzen Reichswehrverbänden, war – das klingt bei Horváth an – ungeachtet weitgehender ideologischer Übereinstimmung von Rivalität und unterschiedlichen Interessen bestimmt, die, wie die Entmachtung der SA im Gefolge der Röhm-Krise anno 1934 zeigt, im Falle des Nationalsozialismus auch nach der Machtergreifung Hitlers fortwirken sollte.

Die politisch, sozial, sexuell und politisch Marginalisierten, die sich in der neuen Welt der liberalen Demokratie nicht zurechtfinden können und wollen, schaffen sich eine Parallelwelt, in der die Codes der alten vor dem Ersten Weltkrieg fortwirken und doch von neuen überlagert sind, die sich auf den Bruch von 1918, die Ursache der Marginalisierung, richten. Die reguläre neue Welt ist ihnen fremd, so wie sie fremd und deplaciert in ihr sind. Einer dieser Hakenkreuzler namens Knorke spitzt diesen Sachverhalt zu, wenn er dem Fräulein an dem Schank im „Weinhaus Zur alten Liebe“ sagt, dass sie noch in der alten Uniform stecken – ich zitiere hier den gesamten Dialog:

DAS FRÄULEIN: Die Herren sind Soldaten.

SALM: Wir sehen nur so aus.

DAS FRÄULEIN: Ich liebe die Uniform. Ich bin eine Deutsche aus Metz. Wir hatten viel mit den Herren Soldaten zu tun. Wenns wieder Krieg gäb, das wär fein.

HORST: Sie werdens noch erleben, Mädchen.

DAS FRÄULEIN: Ich wär auch glücklich mit einem Manöver. Die Herren sind doch Soldaten!

RÜBEZAHL: Wir sind keine Soldaten, dumme Kuh.

KNORKE: Wir haben uns noch nicht umgezogen seit dem Krieg.

DAS FRÄULEIN lacht: Oh pfui, wie pikant6

Das Lachen des Fräuleins ist ein geschickter Trick des Textes, verweist es doch auf die hygienische Unanständigkeit, sein Gewand nicht wechseln zu wollen. Die Aussage Knorkes bringt indes den Sachverhalt der Fremdheit der Weltkriegssoldaten genau auf den Punkt: Sie stecken real wie metaphorisch in der alten Uniform. Der Krieg hat sie, so ein anderer Hakenreuzler, zu dem ‚Mann‘ gemacht, der er nun ist. Sie leben im Code einer alten Welt und sie befinden sich noch immer in einem soldatischen Zustand der Mobilmachung, der nun nicht mehr allein dem äußeren, sondern vornehmlich dem inneren Gegner, der modernen liberalen Welt, gilt.

Zu diesem symbolischen Gewand gehört eine sich protzig gebende Präsentation programmatischer Grausamkeit, die beim Mordplan gegen eine Frau, von der die Bande fürchtet, sie werde die Geheimnisse der schwarzen Reichswehr an den Feind verraten, offen zutage tritt. Der Hakenkreuzler Horst demonstriert seine unbeirrbare Bereitschaft zur Gewalt, die er an dem „Schandweib“ Anna („gehört totgeprügelt“) exekutieren will, am Beispiel seines Umgangs mit seinem Hund:

SALM: Könntest du sie totprügeln?

HORST: Im Interesse des Vaterlandes, jederzeit. Wir hatten zu Hause einen reinrassigen Dobermann. Dem habe ich einmal die Beine zusammengebunden und losgeprügelt bis ich nicht mehr konnte. Das Vieh gab keinen Ton von sich. Es gibt so stolze Köter. Es hat mich nur angeschaut.7

Innerhalb dieser Gruppe gibt es einen Außenseiter. Der vierte Hakenkreuzler ist psychologisch nämlich anders als seine Kameraden gestrickt. Pointiert und gruppendynamisch gesprochen ist seine Randständigkeit eine doppelte, er möchte, ehemaliger Spartakist, Teil der revoltierenden marginalisierten Männer werden und ist doch innerhalb dieser Gruppe abermals marginalisiert, etwa durch seine Beziehung mit Anna, dem „Schandweib“. Sein slawischer Name, Sladek (zu Deutsch etwa ‚der Süße‘), signalisiert, dass er auch ethnisch ein Fremder ist, der sich und den anderen beweisen will, dass er dazugehört. Horváth hat ihn in einer Selbstinterpretation des Stücks zutreffend als „eine Gestalt […] zwischen Wozzek und Schwejk“8 bezeichnet. Er sei, fährt der Autor fort, ein „pessimistischer Sucher“, der die „Gerechtigkeit“ liebt, ein Mensch, der den Boden unter den Füßen verloren hat, ein Mensch, der zum Mitläufer und Mörder wird, obschon er den Mord an Anna nicht selbst begeht. Er ist welt- und selbstfremd und kommt damit einem Zustand von Marginalität nahe, in der sich das einsame Individuum in seine eigene Welt einigelt und die Fähigkeit zu Beziehung und Kommunikation radikal einbüßt.

Zum kompositorischen Geschick des Stücks gehört, dass es uns von Anfang an zwei lonesome travellers, zwei einsame Wanderer in der Welt präsentiert, den Utopisten Franz, eine melancholische Fokalisator-Figur, der von einer sozialistischen Demokratie träumt, und eben jenen selbstverlorenen Sladek, dessen Befindlichkeit und Unbewusstes das Stück fast im Sinne Freuds auslotet. Es ist kein Zufall, dass er, im Unterschied zu allen anderen Hakenkreuzlern, auf den politischen Gegner, den linken Journalisten Franz, nicht hasserfüllt und aggressiv reagiert, sondern empathisch, worauf Franz wiederum hilflos-ablehnend reagiert, weil er keine Gemeinsamkeit mit einem Nationalsozialisten eingehen möchte:

VIERTER HAKENKREUZLER: Ich heiße Sladek. – Man muß nur selbständig denken. Ich denk viel. Ich denk den ganzen Tag. Gestern hab ich gedacht, wenn ich studiert hätt, dann könnt ich was werden. Ich hab nämlich Talent zur Politik. Ich bin ein sogenannter zurückgezogener Mensch. Ich red nur mit Leuten, die selbständig denken können. Ich freu mich, daß ich mit dir reden kann, – du bist auch allein, das hab ich bei der Diskussion gemerkt. Wir sind verwandt. Ich hab mir das alles genau überlegt, das mit dem Staat, Krieg, Friede, diese ganze Ungerechtigkeit.9

Sein Stehsatz, mit dem er sein vermeintlich selbständiges Denken über Staat, Krieg und Welt untermauert, lautet: „In der Natur wird gemordet, das ändert sich nicht.“10 Dass er selbständig denkt, ist selbstredend eine Halbwahrheit. Anders als die Ethik der Grausamkeit seiner Kumpane und Waffenbrüder ist die seine mit melancholischen apodiktischen Sätzen, einem kruden Gemisch von biologischen und anthropologischen Sentenzen, verbunden, die Liebe, Frieden, Humanismus, Versöhnung und Frieden als großen Betrug erscheinen lassen, die eine Überwindung der angeblichen Ehr- und Wehrlosigkeit verkünden und den Krieg als biopolitische Maßnahme zur Bevölkerungsbeschränkung interpretieren.11 Ganz typisch für diese Variante einer grausamen Ethik ist die (Selbst-)Behauptung seiner intellektuellen Tapferkeit, sich im Gegensatz zu allen anderen zu der pessimistischen Ansicht von Welt und Mensch zu bekennen: „Ich hab keine Angst vor der Wahrheit, ich bin nämlich nicht feig.“12 Seiner grausamen Ethik, die dazu führt, dass er der Liquidation seiner Lebensgefährtin Anna im Namen des Vaterlandes zustimmt, kommt freilich immer wieder seine Sensibilität ins Quere, weshalb er auch im letzten Moment vergeblich versucht, Annas Leben zu retten, weil sie unschuldig sei, was für die programmatischen Totprügler natürlich nur ein lächerliches Argument ist.

Sladek ist die Hauptfigur im Stück, weil seine psychische Befindlichkeit am genauesten ausgelotet wird. Dieser quasi-psychoanalytische Blick bringt die merkwürdige und verquere Sexualität dieser Männer ins Spiel. Sie korrespondiert mit einer weiblichen Sehnsucht nach männlicher Stärke. Diese zeigt sich in einem unhinterfragten Begehren nach gewaltsamen und strammen Männern, in prekären Formen asymmetrischer und hierarchischer Ausformungen von mehr oder minder heimlich ausgeübter Homosexualität und Homoerotik (wie im Fall des autoritären, patriarchalen Verhältnisses von Salm und Horst) bis zu jener üblichen Herabsetzung der Frau, die mit der Härte des Mannes nicht mithalten kann und der rundum das sexuelle Begehren („Die muß mal sehr geil gewesen sein“, meint Knorke über Anna) zugeschrieben wird, das Angst, blinde Triebhandlung und Verachtung auslöst und dem eine Selbstverachtung zugrunde liegt: dass nämlich auch der härteste und gewaltsamste Mann der Sexualität, als deren Projektion die Frau ist, bedarf. Der bisexuelle Salm bringt diese Sicht auf den Punkt, wenn er prahlend und abwertend meint:

Was ich dort bei den Rumäninnen Kraft ließ – ja, das Weib haßt den Mann, auch in der Tierwelt gibt es dafür Beispiele. Ich habe erst in der Gefangenschaft mein besseres Ich entdeckt, ich danke es dem Krieg, er wies mich den rechten Weg. Horst. Du folgtest meinem Rufe.13

Salm entwirft ein für heute völlig prekäres und unakzeptables Bild hetero- wie homosexuellen Begehrens. Es entspringt einer Interpretation, die dieses als eine Befreiung aus und von der Übermacht weiblicher Sexualität, als eine Emanzipation von sexueller Ausbeutung interpretiert. Die Gleichgeschlechtlichkeit wird in dieser Männerphantasie, um die bahnbrechende Studie von Klaus Theweleit zu erwähnen, das Bild einer männlichen Parallelwelt eingefügt, in der Frauen ausgeschlossen sind.14

Hinter dieser polemischen Ansicht der Sexualität als einer männlichen Überforderung tritt eine tiefe Verunsicherung zutage, eine Krise von Männlichkeit, die durch das Selbstbild einer distanzierten, kalten Panzerung kompensiert werden soll und die doch zugleich die eigene Schüchternheit überspielt. Aus dieser Welt ist die Frau auf doppelte Weise ein- und ausgeschlossen, als Hausfrau wie als Prostituierte. Ersterer verdankt man eine Alltagssicherheit am Rande der soldatisch konstruierten Männerwelt, letzterer den Genuss einer so unvermeidlichen wie innerlich abgelehnten Sexualität, ohne der Frau affektiv und empathisch näher kommen zu müssen.

Der ‚Komplex‘ Sladek funktioniert auch hier etwas anders. Im Stück wird Sladek dreimal mit Frauen konfrontiert, mit der älteren Anna, einer selbständigen Frau und Soldatenwitwe, mit dem Fräulein an der Bar im Restaurant und mit Lotte in der elften und letzten Szene des Stückes.

Im Falle von Anna tritt Sladeks Unselbständigkeit auf mehreren Ebenen zutage. Der sozial und ökonomisch pauperisierte, arbeitslose, gestrandete Mann bedarf der Frau als Einkommensquelle, dadurch verstärkt sich indes seine Marginalisierung, ist er nun doch von der tief verachteten Frau abhängig. Daraus erklärt sich auch die tiefe Ambivalenz Sladeks gegenüber Anna, der er dankbar sein muss und die er dafür hasst, eben weil er sie braucht.

Ich kam zu dir zerlumpt. Bei mir in der Familie haben sie sich um ein Stück Brot gehaßt. Du warst für mich ein höheres Wesen, du hattest eine Zweizimmerwohnung und hast Kriegsanleihen gezeichnet. Du hast für Kaufmannsfrauen geschneidert, ich hab mich waschen können. Du hast mir einen Wintermantel gekauft. Danke.15

 

Und in der dritten Szene, wenn sich Sladek kurz vor der Ermordung von Anna, dem Fräulein im Restaurant erotisch annähern will, schildert er der fremden anderen Frau sein Verhältnis mit Anna:

Sie hat es gewußt, daß sie nur winseln muß und ich verlier die Kraft. Weil ich ein anständiger Mensch bin, zu guter Letzt. […] Ich hab noch nie richtig gearbeitet. Sie hat es nicht gern gesehen, daß ich was verdien. Sie hatte Angst, ich könnte ohne sie leben. Sie hat mich lieber ausgehalten, das ist das berühmte mütterliche Gefühl.16

Die harten Männer, die Soldaten der Armeen, die den Krieg verloren haben, stehen nach ihrer Rückkehr auf wackligen Beinen. Ihre berufliche Grundlage, ihre Ausbildung, ihre Lebenspläne haben sich in Luft aufgelöst. Der Krieg zeitigt völlig unbeabsichtigte und unabsehbare Folgen. Die Frauen, die zu Hause geblieben sind, haben sich eine ökonomische Basis geschaffen und sind, vielleicht zum ersten Mal, unabhängig vom andern Geschlecht. Während sie sich recht oder schlecht – es sind Krisenzeiten – in der Welt bewähren, stehen die Männer abseits und den Frauen, deren Schwäche sie doch so verachten, unterlegen, geschlechtlich marginalisiert. Diese Situation schildert Horváth in Geschichten aus dem Wiener Wald und Roth in Die Rebellion. Auch dort sind es geschäftstüchtige Frauen, die Männer, Kriegsheimkehrer und durch den Krieg bodenlos gewordene Existenzen unterhalten und ihr Superioritätsgefühl bis zu einem gewissen Grade auch auskosten. Dem melancholisch erfahrenen marginalisierten Zustand der Heimkehr-Männer steht eine weibliche Tüchtigkeit gegenüber, die sich mit der drohenden Marginalisierung nicht abfinden will.

Anna ist Sladek zudem an Lebenserfahrung, und dazu gehört wohl auch die Sexualität, überlegen, sie ist seine zweite Mama, lacanianisch gesprochen die phallische Frau, was sie auch in poetische Formeln gießt: „[…] Du kleiner Riese. Du bleibst, du bleibst. Du Jung, du – es ist kalt, die Erde ist kalt, aber die Sonne war schon warm. Das ist der zunehmende Mond.“17 Im Bild des kleinen, hilflosen Mannes nach 1918 ist dessen Situation auf den Punkt gebracht. Aufschlussreich ist die anschließende Kuss-Szene. Die Frau ist empört, weil der Mann ihr den Kuss einigermaßen gewaltsam verweigert, um sodann zu sagen: „Ich küß nicht gern so, so sinnlich.“18 Die emotionale Askese verträgt sich nicht mit einer Sinnlichkeit, in der sich der männliche Mann verlieren könnte, vor allem dann, wenn er beständig gegen die eigene Weichheit ankämpfen muss.

Das gilt auch für die Begegnung mit der stramm nationalistisch eingestellten Kellnerin im Restaurant. Diese Annäherung scheitert und damit auch der Versuch einer geglückten sexuellen Beziehung. Die Frau, die in diesen Kontexten auch als Betrügerin firmiert, bietet dem hilflosen und selbstverlorenen Sladek an, sich für einen stattlichen Betrag – es ist die Zeit der Inflation – auszuziehen:

SLADEK: Du hast so eine schöne Haut.

DAS FRÄULEIN: Ich bin auch ein Sonntagskind.

SLADEK: Ich nicht. – Du bist so weich.

DAS FRÄULEIN: Das hat jede Frau.

SLADEK: Nein, nicht jede.

DAS FRÄULEIN: Was der kleine Mann für große Augen hat. Schau mich an. Wohin schaust du denn?

SLADEK: Ich schau dich an.

DAS FRÄULEIN: Nein.

SLADEK: Doch.

DAS FRÄULEIN: Du schaust mich an und doch nicht an. Hinter mir ist nichts. Ich glaube, du findest den richtigen Kontakt zum Weibe nicht.19

Nachdem sie ihn geküsst und sich ausgezogen hat, meint die Frau selbstbewusst: „Du bist ein einsamer Mensch. Du mußt öfters kommen, sonst wirst du noch melancholisch. Das Weib ist die Krone der Schöpfung.“20 Anfänglich amüsiert sich die junge Frau ganz offenkundig lustig über den empfindsamen romantischen Mann ihr gegenüber, der enttäuschenderweise gar nichts Männlich-Zupackendes an sich hat, sondern sich in der Weichheit ihrer schönen Haut verliert. Am Ende macht sie indes eine überraschende und wohl auch zutreffende Entdeckung: Dieser Mensch, dieser Mann ist unfähig, eine konkrete Beziehung zu einer Frau einzugehen. Er schaut nicht sie an, sondern sieht etwas in ihr, das dahinter ist. Insofern geht diese sexuelle Annäherung ganz schief, Sladek kommt ihr nicht näher, sondern möchte sie vor allem aus der Ferne vollständig nackt betrachten können.

Soweit kommt es in der letzten Szene gar nicht, wenn Sladek, der nach dem gescheiterten Aufmarsch gegen die Republik nach „Nikaragua“ auswandern möchte (weil ihm, wie auch beim „Kap der guten Hoffnung“, der Name ausnehmend gut gefällt), nähert sich überaus schüchtern und ungeschickt einer jungen Frau, Lotte, und fragt sie, ob sie mit ihm Karussell fahren möchte und das Fremde mit seiner Einsamkeit begründet:

SLADEK: […] ich kenn nämlich keinen Menschen.

LOTTE: Sie sind hier fremd?

SLADEK: Sehr fremd.

LOTTE: Sind sie nicht Engländer?

SLADEK: Stimmt.21

Das ist einer dieser fetzenhaften und verwehten Dialoge in der Horváth-Welt, die die Weltverlorenheit der Menschen in den Pausen, das ein Schweigen der Worte ist, versinnbildlicht. Horváths Menschen bleiben dem Publikum rätselhaft fremd, so wie sich seine Figuren auf der Handlungsebene im Stück selbst und einander fremd bleiben. Es ist nicht ohne Ironie, dass Sladek die Frage der fremden jungen Frau, ob er ein Engländer sei, bejaht. Es ist pure Ironisierung des Umstandes seiner einsamen Existenz, die ihn in das politische Abenteuer und nun zum Auswandern veranlasst