Die Russische Revolution 1917

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Alternative Entwürfe zu einer Umwälzung der russischen Gesellschaft
Anina Schafroth

„Das Ideal eines Staates ist […] eine Union, deren Vertrag einzig für jene Personen verpflichtend ist, welche die Mittel und Möglichkeiten haben, über den Vertrag zu diskutieren, ihn freiwillig zu akzeptieren und auch später darauf zu verzichten.“ So beschrieb Petr L. Lavrov in den Ende der 1860er-Jahre erschienenen „Historischen Briefen“ seine Staatsvorstellung.1 1823 im Gouvernement Pskov als Sohn eines adligen Gutsbesitzers geboren, trat er mit 14 Jahren in die St. Petersburger Artillerieschule ein. Nach dem Schulabschluss im Jahre 1842 unterrichtete Lavrov an der Petersburger Militärakademie Mathematik und begann Mitte der 1850er-Jahre seine literarisch-wissenschaftliche Tätigkeit. Ab 1862 beteiligte er sich an der geheimen revolutionären Organisation „Zemlja i Volja“ („Land und Freiheit“) und wurde 1867 aufgrund seiner „umstürzlerischen Ideen“ in die Provinz verbannt. Als er zu Beginn des Jahres 1870 nach Paris geflohen war, kam er dort mit Vertretern der französischen Arbeiterbewegung in Kontakt. Im Herbst trat Lavrov der Ersten Internationale bei und beteiligte sich am Aufstand der Pariser Commune. Nach dessen Niederschlagung im Mai 1871 zog er nach London, wo er Karl Marx und Friedrich Engels kennenlernte und von 1873 bis 1876 die revolutionäre Zeitschrift „Vperëd!“ („Vorwärts“) herausgab. 1877 kehrte er nach Paris zurück. Dort war er von 1883 bis 1886 mit Lev A. Tichomirov Redakteur der im Ausland erscheinenden Zeitschrift der revolutionären Organisation „Narodnaja Volja“ („Volkswille“ oder „Volksfreiheit“).

Bis zu seinem Tode im Jahre 1900 unterhielt er enge Kontakte mit im Exil lebenden russischen Revolutionären und organisierte Versammlungen, um sozialistische Theorien und deren praktische Umsetzung in Russland zu erörtern. Zudem publizierte Lavrov [<<41] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe Artikel, in denen er seine Überlegungen darlegte, wie man die russische Gesellschaft verändern könne. Für ihn bestand der Fortschritt in der körperlichen, geistigen und moralischen Entwicklung des Individuums sowie in der Verwirklichung von Wahrheit und Gerechtigkeit in den sozialen Beziehungen. Veränderungen der russischen Gesellschaft dürften nicht durch eine gebildete Minderheit der Mehrheit diktiert werden, sondern sollten „von unten“, vom Individuum, kommen. Durch geduldige Aufklärungs- und Bildungsarbeit würden sich die Bauern ihrer sozialen Bedürfnisse sowie Rechte bewusst werden und könnten sich von der Ausbeutung befreien. Auf diese Weise könne sich auch die eingangs beschriebene Idealvorstellung des Staates verwirklichen. Eine zentrale Rolle maß Lavrov dabei auch der obščina, der bäuerlichen Dorfgemeinde, bei, die Russland unter Umgehung von Kapitalismus und Proletarisierung einen eigenen Weg zum Sozialismus ebnen werde.2

Lavrov gehörte zu jenen Menschen, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in immer größerer Anzahl auf die Seite der radikalen Opposition gegen das zarische Regime schlugen. Ihre Vertreter wollten nicht mehr nur kritisieren, sondern handeln. Sie erörterten Entwürfe für die Gesellschaft der Zukunft und benannten die Bereiche, die verändert werden mussten: das politische System, die Lage der Bauern, dann auch die der Arbeiter und der Nationalitäten. Nicht zuletzt ging es um den Weg, wie die Umwälzung der Gesellschaft erreicht werden konnte. Lavrovs Theorie fand zunächst bei der russischen intelligencija großen Anklang: „[Z]ahlreiche junge Personen, die teilweise ihr Studium abbrachen, unternahmen, in bäuerliche Gewänder gekleidet und mit falschen Papieren ausgestattet, einen ‚Gang ins Volk‘, um mittels schriftlichen Pamphleten und mündlicher Propaganda revolutionäre Ideen zu verbreiten […], um mit dem Volk zu leben, um als Tagelöhner auf dem Felde zu arbeiten und mit den Bauern, ihren Arbeitskollegen, zu übernachten.“3 So umschrieb der damalige Justizminister Fürst Konstantin I. Palen (Pahlen) in einem Memorandum den „verrückten Sommer“ des Jahres 1874, in dem nicht nur Gymnasiasten und Studenten, sondern auch liberale Bürger und Adlige sowie Friedensrichter aus der Zeit der „Bauernbefreiung“ einen „Gang ins Volk“ unternahmen. Trotz großen Eifers und Enthusiasmus stießen diese Narodniki, die „Volksverbundenen“, bei den meisten Bauern auf Gleichgültigkeit, Unverständnis, Argwohn und zum Teil sogar auf offenen Hass und Widerstand. Dies war nicht [<<42] zuletzt auf die sich in der Bevölkerung haltende Legende des „guten und gerechten Zaren“ zurückzuführen, dem keine Verantwortung für ihre missliche Lage zugeschrieben wurde. Statt sich zu einem Aufstand zu erheben, meldeten sie die Revolutionäre der Polizei. Zahlreiche Narodniki wurden verhaftet und zu Freiheitsstrafen verurteilt.

Nachdem der erhoffte Erfolg ausgeblieben war, gründeten die Narodniki, um sich eine straffere und bessere Organisation zu verleihen, im Herbst 1876 einen neuen Verband, der wiederum den Namen „Zemlja i Volja“ erhielt. Alsbald kam es jedoch zu Meinungsverschiedenheiten über die weitere Vorgehensweise, die im Sommer 1879 zur Spaltung führten. Die Vertreter des „friedlichen Dorfsozialismus“ gründeten die Gruppe „Černyj Peredel“ („Schwarze Umteilung“). Diese strebte eine Landverteilung durch freie Selbstbestimmung der Bauern an. Andere sahen in ihrer Enttäuschung über den missglückten „Gang ins Volk“ im „politischen Terror“ die einzige Möglichkeit zur gesellschaftlichen Veränderung. Sie folgten damit Ideen, wie sie Petr N. Tkačev und Sergej G. Nečaev im Anschluss an den Anarchisten Michail A. Bakunin propagiert hatten. Ihre Gruppe nannten sie „Narodnaja Volja“. In der Annahme, ein Attentat auf den Zaren werde seinen Mythos zerstören und die Revolution in Gang setzen, planten sie die Ermordung von Zar Alexander II. Am 1. März 1881 kam er durch einen Bombenanschlag ums Leben. Die Revolution blieb aber aus. Stattdessen folgten unter dem neuen Zaren Alexander III. scharfe Unterdrückungsmaßnahmen, die die von seinem Vorgänger praktizierte Politik der Liberalisierung beendeten.

Viele Revolutionäre sahen sich dadurch in ihrer Ansicht bestätigt, dass der politische Terrorismus nicht das geeignete Mittel zur Veränderung der Gesellschaft sein könne. 1883 gründeten deshalb Mitglieder des „Černyj Peredel“ im Schweizer Exil die erste auf marxistischen Prinzipien beruhende Organisation Russlands „Osvoboždenie truda“ („Befreiung der Arbeit“). Deren theoretische Grundlagen stammten vor allem von Georgij V. Plechanov, der aus einer kleinadligen Familie kam und sich als Student am Petersburger Bergbau-Institut den Narodniki angeschlossen hatte. Während seiner Jahre in der Emigration setzte er sich intensiv mit den Werken von Marx und Engels auseinander. Daraufhin wandte er sich vom Agrarsozialismus der Narodniki ab. In seiner 1884 verfassten Schrift „Unsere Meinungsverschiedenheiten“ vertrat Plechanov die Auffassung, dass gegenwärtig eine revolutionäre Bewegung einzig von der Arbeiterklasse ausgehen könne, da der Kapitalismus auch in Russland Eingang gefunden habe und nicht mehr aufzuhalten sei. Nunmehr galten nicht mehr die Bauernschaft und die obščina als treibende Kräfte für gesellschaftliche Veränderungen und die Revolution, sondern die Industriearbeiter.

Im politischen Untergrund Russlands stieß Plechanovs Schrift auf großes Interesse. Sie gab den Anstoß zur Bildung neuer illegaler Organisationen. 1895 schlossen sich [<<43] mehrere kleinere Gruppen, die sich an marxistischen Theorien orientierten und den Akzent auf die Arbeiterschaft setzten, zum „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“ zusammen. Führende Vertreter waren Julij O. Cederbaum, der sich Martov nannte, sowie Vladimir I. Ul’janov, der den Namen Lenin annahm.

Für die Entwicklung der Sozialdemokratie war die 1897 in Wilna erfolgte Gründung des „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes in Litauen, Polen und Russland“ – kurz des „Bundes“ – von großer Bedeutung. Er setzte sich nicht nur für neue Methoden der Aufklärung unter den Arbeitern ein, sondern brachte mit seiner Forderung nach kultureller, nichtterritorialer Autonomie der jüdischen Bevölkerung das Problem der nationalen Frage und daraus folgend der autonomen Organisation innerhalb einer Partei in die Diskussion ein. Seine Gründung war eine Reaktion auf die zunehmende Proletarisierung der jüdischen Bevölkerung im „Ansiedlungsrayon“ des Russischen Reichs. Nach mehreren Streiks und Vorformen gewerkschaftlicher Organisationen setzte sich die Meinung durch, dass eine eigenständige jüdische Arbeiterpartei notwendig sei, die als autonome Sektion einer allgemeinen sozialdemokratischen Partei beitreten solle. Von Anfang an trat der Bund nicht nur für Verbesserungen zugunsten des jüdischen Proletariats ein, sondern auch für die Gleichstellung der gesamten jüdischen Bevölkerung mit den übrigen Einwohnern. Trotz seiner Illegalität wurde er rasch zu einer Massenpartei.

Abb 15 Nach der Revolution von 1905 wollte der Bund sich selbstsicherer zeigen und aus der Anonymität heraustreten, beim ostjüdischen Proletariat im Zarenreich verstärkt Propaganda machen und mehr Aufklärungsarbeit leisten. Die hier abgebildeten Ausschnitte der Zeitungen „Der Wecker“ („Der Veker“, Wilna), „Die Hoffnung“ („Di hofnung“, Wilna) und „Zait“ („Zajt“, „Tsayt“, St. Petersburg) zwischen 1905 und 1907 zeugen davon. Die Artikel sind mit dem hebräischen Alphabet in Jiddisch verfasst, die Titel sind zusätzlich in kyrillischer und lateinischer Schrift geschrieben. Dies macht die internationalistische Ausrichtung des Bundes deutlich. [Bildnachweis]

 

Kaum war der Bund gegründet, sahen sich dessen Mitglieder einer Verfolgungswelle in Russland ausgesetzt. Zahlreiche Bundisten wurden verhaftet. Unter anderem deshalb verlagerte der Bund seine Aktivitäten teilweise ins Ausland. Die Bundisten arbeiteten zunächst vorsichtig und konspirativ. Doch nach der Revolution in Russland 1905 setzte sich unter ihnen die Meinung durch, man müsse aus der Illegalität heraustreten, um erfolgreich sein zu können. Der Bund verstärkte seine Bildungsarbeit und Propaganda. Nicht zuletzt wurde das Jiddische als wichtiger Bestandteil der Identität zusehends gepflegt. Es war schließlich – anders als bei vielen russischsprachigen jüdischen Intellektuellen – die Muttersprache eines Großteils des jüdischen Proletariats in Osteuropa. Und gerade dieses sollte für die Ideen des Bundes gewonnen werden. Einer der Vordenker, Vladimir Medem, drückte es so aus: „In di gasn, tsu di masn“.4 Doikayt – das Handeln im Hier und Jetzt – und yidishkayt gehörten zusammen.5 [<<44]

1898 schlossen sich in Minsk verschiedene Gruppen zur „Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ (nach der russischen Bezeichnung abgekürzt RSDRP) zusammen. Da die meisten Mitglieder sogleich von der Polizei verhaftet wurden, konnte die Parteigründung nur ein – allerdings wichtiges – Signal sein. Ohnehin endeten damit keineswegs die Auseinandersetzungen über Theorie und Praxis der Bewegung, über inhaltliche und organisatorische Probleme. Verschärft wurden diese Meinungsverschiedenheiten noch durch die Trennung in in- und ausländische Organisationen, da zahlreiche Sozialdemokraten, auch Lenin und Martov, nach Verhaftung und Verbannung emigrieren mussten. Gestritten wurde vor allem darüber, ob man eine dezentralisierte, demokratisch aufgebaute Massenpartei anstrebe – dafür trat etwa Martov ein – oder ob unter den Bedingungen der Illegalität im Zarenreich eine zentralistisch- [<<45] hierarchische Organisation von Berufsrevolutionären notwendig sei, wie sie Lenin forderte. Am zweiten Parteitag der RSDRP in London 1903 spaltete sich die Partei in zwei Fraktionen. Nach einem zufälligen Abstimmungserfolg prägte Lenin für seine Anhänger den Begriff „Bolschewiki“ („Mehrheitler“), die Unterlegenen bezeichnete er als „Menschewiki“ („Minderheitler“).

Nach der Niederschlagung der Revolution von 1905 forderte die Basis der russischen Sozialdemokratie, dass sich die beiden Flügel wieder vereinigen sollten. Am Stockholmer Parteitag von 1906 wurde diese Einigung vollzogen. Doch schon bald verschärften sich wieder die Unstimmigkeiten; im Jahre 1912 war die endgültige Trennung nicht mehr zu verhindern. Einigkeit bestand darin, dass der Zarismus nur durch einen bewaffneten Aufstand gestürzt werden könne. Einen bedeutenden Streitpunkt bildete die Frage des Klassenbündnisses. Die Menschewiki gingen in ihrer Auslegung marxistischer Theorien von einem Stufenmodell der revolutionären Entwicklung aus: Erst nach einer bürgerlichen Demokratie mit kapitalistischer Ordnung könne eine sozialistische Revolution herbeigeführt werden. Deshalb erklärten sie sich bereit, mit den Liberalen des Bürgertums und sogar des Adels sowie mit der radikalen intelligencija zusammenzuarbeiten. Die Bolschewiki waren hingegen der Ansicht, dass die bürgerliche Phase der gesellschaftlichen Entwicklung in Russland durchaus übersprungen werden könne. Sie verstanden die Bauern als die Hauptverbündeten des Proletariats; das russische Bürgertum sei zu eng mit dem Zarismus verbunden. Unschlüssig war man sich noch, welche Stellung die Sozialdemokraten zu den Sowjets einnehmen sollten. 1905 hatten sie als neue Organisationsform der Arbeiterschaft, anknüpfend an Vorläufer in der Pariser Commune, eine wichtige Rolle gespielt. Lenin war damals gegen die Mehrheit seiner Fraktion für eine breite Öffnung dieser Räte und für deren Unabhängigkeit von der Partei eingetreten.

Eine unabhängige Position bezog Lev D. Trockij, der aus einer jüdischen Bauernfamilie stammte. Seine Theorie der „permanenten Revolution“ zielte auf einen revolutionären Prozess, der durch das Proletariat immer weiter vorangetrieben werden solle, damit er nicht erstarre. Da auf wissenschaftlicher Grundlage die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus und die Faktoren der kapitalistischen Entwicklung in Westeuropa erkannt werden könnten, sei es in Russland möglich, im nachholenden Prozess einzelne Phasen zu überspringen. Auf diese Weise eröffne sich der Weg, Altes und Neues in der strukturellen Vielschichtigkeit des Landes zu verbinden und rasch den Sozialismus zu erreichen. Bürgertum und Bauernschaft vernachlässigte er in seiner Konzeption. Dafür betonte Trockij stärker als die Bolschewiki die Bedeutung spontaner Massenaktionen.

Innerhalb der Bolschewiki gab es verwirrende Richtungskämpfe. Radikale Gruppierungen forderten die Abberufung der sozialdemokratischen Deputierten aus der [<<46] Duma oder ein imperatives Mandat für die Abgeordneten. Andere wollten die religiöse Sinnsuche in Teilen der Bevölkerung mit dem Sozialismus verbinden und dabei weitergehen als jene „Gottsucher“ (bogoiskateli), die in mystisch-messianischer Hoffnung die Revolution erwarteten, damit eine Ordnung auf christlicher Grundlage errichtet werden könne. Die „Gotterbauer“ (bogostroiteli) wollten Gott durch das Proletariat oder die vereinte fortschrittliche Menschheit ersetzen. Anhänger dieses Denkens waren der Schriftsteller Maksim Gor’kij sowie Anatolij V. Lunačarskij, der später sowjetischer Volkskommissar für Bildungs- und Kulturpolitik werden sollte. Auch der Soziologe, Philosoph und Arzt Aleksandr A. Bogdanov gehörte zu ihnen, der nach 1917 maßgeblich die Bewegung „Proletarische Kultur“ („Proletkul’t“) beeinflusste. Zeitweise sah es so aus, als werde er die Führung der Bolschewiki übernehmen, doch konnte sich Lenin letztlich durchsetzen.

Während des Ersten Weltkriegs vertiefte sich die Spaltung zwischen den beiden Flügeln der Sozialdemokratie. Zwar protestierten ihre Anhänger zunächst geschlossen gegen den Krieg. Ein Großteil der Menschewiki rief dann aber doch zur Landesverteidigung auf, während die Bolschewiki unter dem Einfluss Lenins nach einigem Zögern bei ihrer Ablehnung blieben. Lenin vertrat die These, Russland sei das „schwächste Glied“ in der Kette des Imperialismus. Wenn hier die Revolution ausbreche, werde die Kette reißen und die Weltrevolution ausgelöst. Eine militärische Niederlage Russlands erhöhe die Chance der Revolution, und es könne gelingen, den Weltkrieg in einen internationalen Klassenkrieg zu verwandeln. Diese kompromisslose Konzeption, die an den Konferenzen radikaler Sozialisten in Zimmerwald und Kiental in der Schweiz 1915 und 1916 vorgetragen wurde, aber keine Mehrheit erhielt, fand unter den Arbeitern in den Betrieben wie in den Landsmannschaften (zemljačestva), aber auch bei den von Martov geführten Internationalisten unter den Menschewiki und anderen linken Gruppierungen zunehmend Anklang. Die patriotischen „Landesverteidiger“, die ein breites Bündnis der Opposition befürworteten, verloren hingegen Anhänger.

In ihren konkreten politischen Vorstellungen zielten die Sozialdemokraten vor allem auf eine Verbesserung der Lage der Arbeiter, etwa durch die Einführung des Acht-Stunden-Tages, durch Arbeitsschutzgesetze und die Zulassung von Gewerkschaften. Die Menschewiki traten dabei für demokratische Massengewerkschaften ein, die allen Arbeitern offenstehen sollten. Sie waren bereit, mit solchen Organisationen zusammenzuarbeiten, ohne von ihnen die Übernahme des Parteiprogramms der RSDRP zu verlangen. Die Bolschewiki befürworteten zwar auch Massengewerkschaften, wollten deren Tätigkeit jedoch auf den wirtschaftlichen Bereich beschränken und sie in der politischen Ausrichtung der Partei unterordnen. Uneinig war man sich zudem darüber, wie die planmäßige gesamtstaatliche Wirtschaftslenkung und die Mit- oder gar [<<47] Selbstbestimmung der Arbeiterschaft in den Betrieben erreicht werden sollten. Weitere programmatische Forderungen betrafen die Errichtung einer demokratischen Republik, das gleiche, allgemeine und direkte Wahlrecht, eine freie und verpflichtende Volksschulbildung für alle, eine Volksmiliz statt des stehenden Heeres, die Trennung von Staat und Kirche, die Bewegungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie eine weitgehende lokale Selbstverwaltung.

Den Völkern des Reiches sollte das Selbstbestimmungsrecht gewährt werden. Unklar war jedoch, ob man Abspaltungen vom Staatsverband zulassen wollte und wie das Verhältnis zwischen nationalen zu sozialen Bewegungen beurteilt werden konnte. So setzte sich zum Beispiel Iosif V. Džugašvili, der sich Stalin nannte, Mitglied des Zentralkomitees der Bolschewiki und später Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), in seiner von Lenin in Auftrag gegebenen Schrift „Marxismus und nationale Frage“ von 1913 dafür ein, den verschiedenen Nationalitäten eine Gebietsautonomie und die nationale Gleichberechtigung – namentlich in den Bereichen Sprache, Schulbildung und Glaubensfreiheit – zu gewähren. Dadurch sei es möglich, die „Arbeiter aller Nationalitäten Russlands zu […] einer einheitlichen Partei“ zusammenzufassen. Dies werde den Arbeitern zeigen, dass sie „vor allem Angehörige einer einzigen Klassenfamilie, Glieder der einheitlichen Armee des Sozialismus sind“.6 Die Abspaltung vom Staatsverband lehnte Stalin hingegen entschieden ab, denn dadurch werde die Scheidung der Arbeiter nach Nationalitäten begünstigt: „Nicht das Gemeinsame unter den Arbeitern wird hervorgehoben, sondern das, was sie voneinander unterscheidet. Hier ist der Arbeiter vor allem Angehöriger seiner Nation: Jude, Pole usw.“7 Stalin und Lenin wiesen die Idee einer „national-kulturellen Autonomie“ zurück, wie sie der Jüdische Arbeiterbund entwickelt hatte. Damit würden nationale Kulturen gestärkt, anstatt die internationale Kultur des Weltproletariats zu fördern. Lenin konnte sich dennoch die Lostrennung einer Nation vom russischen Staat mit dem Ziel der Selbständigkeit vorstellen, um Konflikte zwischen nationaler und Arbeiterbewegung zu vermeiden. Er glaubte, dass es später ohnehin wieder einen freiwilligen Zusammenschluss geben werde.

In der Agrarfrage zeigten die Sozialdemokraten ebenfalls kein einheitliches Profil. Der Einheitsparteitag von 1906 hatte beschlossen, dass die Bauern ihr Land als Privateigentum erhalten, der Gutsbesitz von den Selbstverwaltungsorganen übernommen sowie das Kron- und Kirchenland verstaatlicht werden sollten. Lenin wollte statt [<<48] dessen das gesamte Land verstaatlichen, damit nicht der Agrarkapitalismus über das Privateigentum vordringen könne.

Auf diesem Feld mussten sich die Sozialdemokraten am stärksten mit der 1901 gegründeten „Sozialrevolutionären Partei“ auseinandersetzen. Diese stand in der agrarsozialistischen Tradition der Narodniki, schloss aber zunächst das Mittel des Terrors nicht aus. Trotz einer Reihe spektakulärer und oft erfolgreicher Attentate auf Regierungsangehörige lehnte die Mehrheit der Partei nach heftigen Auseinandersetzungen diese Methode ab. Wie die Sozialdemokraten hielten die Sozialrevolutionäre den bewaffneten Aufstand für geeignet, um die Zarenherrschaft zu stürzen. Nach ihrer Vorstellung könnten in Russland bürgerliche Demokratie und Kapitalismus übersprungen werden, weil es möglich sei, auf der Grundlage der obščina eine egalitäre, sozialistische Agrargesellschaft aufzubauen. Hierzu sollte das Gutsbesitzerland entschädigungslos enteignet und der gesamte Boden in Gemeineigentum mit privater Nutzung durch die Bauern überführt werden. Jeder solle nur so viel Land erhalten, wie er bearbeiten könne. Langfristig strebte man ein kollektives Wirtschaften an. Außerdem verlangten die Sozialrevolutionäre eine Dezentralisierung des Staates, Demokratisierung und lokale Selbstverwaltung. Sie waren bereit, den Nationalitäten ein vollständiges Selbstbestimmungsrecht einzuräumen.

Unter den Bauern fanden die Sozialrevolutionäre durchaus zahlreiche Anhänger. Anders als in den 1870er-Jahren waren diese jetzt zunehmend bereit, Konflikte mit den Gutsbesitzern und dem Staat auch mit Hilfe von Bündnispartnern aus der intelligencija auszutragen. Die Sozialrevolutionäre versuchten darüber hinaus, ihre Basis auf die Arbeiterschaft auszudehnen. In diesem Sinne betonte ihr Vorsitzender und ideologischer Begründer, Viktor M. Černov, der wie so viele aus dem Kleinadel stammte, dass allein das Bündnis zwischen städtischen und ländlichen Arbeitern die Macht der herrschenden Ordnung brechen und den Sieg der Ideale des Sozialismus vorbereiten könne. Allerdings blieb die Industriepolitik der Sozialrevolutionäre verschwommen. Zeitweise, so während der Revolution von 1905, konnten sie eine beträchtliche Anhängerschaft mobilisieren, aber aufgrund einer schlechten Parteiorganisation und parteiinterner Konflikte gelang es ihnen nicht, den mit ihnen sympathisierenden Massen auf dem Lande und in den Städten politisches Gewicht zu verleihen.

 

Eine ähnliche Agrarpolitik wie die Sozialrevolutionäre verfolgten die „Trudoviki“, die „Gruppe des arbeitenden Volkes“. Diese Partei bildete sich 1906 in der ersten Duma aus Angehörigen der intelligencija und der Bauernschaft. Sie verstand sich ebenfalls in der Tradition der Narodniki und verlangte – anders als die Sozialrevolutionäre – eine Verstaatlichung des gesamten Landes ab einer bestimmten Hofgröße. Die enteigneten Gutsbesitzer sollten entschädigt und die kapitalistische Wirtschaftsform vom Land [<<49] verdrängt werden. In den Dörfern erfreuten sie sich großer Beliebtheit. Mit der Zeit entwickelten sie sich zu einer radikal-undogmatischen Gruppierung, ohne eine feste Parteiorganisation auszubilden. Ihr bekanntester Politiker war der Rechtsanwalt Aleksandr F. Kerenskij, der vom Juli 1917 bis zur Oktoberrevolution als der letzte Ministerpräsident Russlands fungierte.

Eine Umwälzung der Gesellschaft, wenngleich nicht unbedingt auf revolutionärem Weg, strebten auch andere Bewegungen an. Vor allem in den zemstva waren seit der Mitte der 1890er-Jahre, nicht zuletzt ausgelöst durch die Erfahrungen der Hungersnot von 1891/92, mehr und mehr Menschen davon überzeugt, dass eine demokratische Verfassung notwendig sei, um das politische System auf eine neue Grundlage zu stellen. In diesem Rahmen seien die soziale, die nationale und die Agrarfrage zu erörtern.

Die wichtigste, noch illegale Organisation war der 1904 gegründete „Bund der Befreiung“. Nach Ausbruch der Revolution von 1905 bildeten die Anhänger der in den zemstva vertretenen Auffassungen verschiedene liberale Parteien. Am stärksten wurde die „Partei der Volksfreiheit“ oder „Konstitutionell-Demokratische Partei“, deren Mitglieder wegen der Anfangsbuchstaben des Parteinamens nur „Kadetten“ genannt wurden. Ihr Vorsitzender Pavel N. Miljukov, in Moskau als Sohn eines Architekturprofessors [<<50] geboren, lehrte seit 1886 als Historiker an der Moskauer Universität. Aufgrund seiner Beteiligung an der Studentenbewegung wurde er der Universität verwiesen und in die Verbannung nach Rjazan’ geschickt. 1897 verließ er Russland und lehrte bis 1899 Russische Geschichte in Sofia, danach in den Vereinigten Staaten.

Abb 16 Sitzung des Zentralkomitees der Konstitutionell-Demokratischen Partei, Ende April/Anfang Mai 1906. Fotograf unbekannt. [Bildnachweis]


1905 kehrte Miljukov nach Russland zurück. Neben dem Vorsitz der Kadetten übernahm er die Leitung der Parteizeitung „Reč’“ („Die Rede“). Die Kadetten setzten sich für Grundrechte, Demokratie und Parlamentarismus ein. Die Landreform solle auf Kosten der Gutsbesitzer erfolgen, denen lediglich eine geringe Entschädigung zu gewähren sei. Den Nationalitäten sei die kulturelle Autonomie zuzugestehen, Polen sogar die territoriale. Die Partei verstand sich nicht als Vertretung einer bestimmten Klasse, sondern wollte sich an den Bedürfnissen der gesamten Nation orientieren. Sie genoss vor allem in den Städten Rückhalt und bildete in der ersten Duma die stärkste Fraktion. Nach der Auflösung der beiden Dumas und dem Staatsstreich von 1907 – Premierminister Petr A. Stolypin hatte neue Wahlgesetze eingeführt, die ihm eine konservative Mehrheit einbrachten, und ging energisch gegen Regimegegner vor – dämpfte die Partei ihre politischen Forderungen, da ihr Widerstand gegen jene Aktionen erfolglos geblieben war. Sie setzte nun auf die Sicherung sowie den kontinuierlichen Ausbau der vom Zaren gewährten Rechte. Außenpolitisch kam es sogar zu einer starken Annäherung an die Regierung. Während des Ersten Weltkriegs führte dies zur Unterstützung der zarischen Kriegsziele. In der Bevölkerung verloren die Kadetten aufgrund ihres Kurswechsels erheblich an Rückhalt. Miljukov war Mitglied der dritten und vierten Duma und bekleidete nach der Februarrevolution von März bis Mai 1917 das Amt des Außenministers. Nach der Oktoberrevolution kämpfte er gegen die Bolschewiki und deren Verbündete. 1920 ging er zuerst nach London, ein Jahr später nach Paris ins Exil. Dort betätigte er sich bis zu seinem Tode 1943 publizistisch.

Ähnlich schwankend zwischen einer Forderung nach einer demokratischen Verfassung und einer Unterstützung des zarischen Systems verhielten sich die übrigen liberalen Parteien. Am weitesten gingen noch die „Progressisten“, bei denen vor allem Moskauer Unternehmer vertreten waren. Sie waren an politischen Reformen als Rahmenbedingungen für den wirtschaftlichen Fortschritt interessiert. Tastende Versuche, ein Bündnis aller Oppositionsbewegungen unter Einschluss der Linksparteien zu schaffen, schlugen fehl. Die Progressisten hatten sich Ende 1912 von der liberal-konservativen „Union des 17. Oktober“, kurz als „Oktobristen“ bezeichnet, abgespalten. Diese Partei benannte sich nach dem Datum des Zarenmanifests von 1905, wollte die Vorrechte des Zaren wahren und orientierte sich an einem russischen Nationalismus. Von ihr waren ebenso wenig Initiativen zur Umwälzung der Gesellschaft zu erwarten wie von denjenigen Parteien, die zur traditionellen Autokratie zurückkehren wollten und sich [<<51] nicht nur durch einen Nationalismus, sondern oft auch durch einen ausgeprägten Antisemitismus – bis hin zur Förderung von Pogromen – auszeichneten.

Die politischen Entwicklungen und Ereignisse seit 1905 führten nicht zuletzt innerhalb der intelligencija zu einer Krise. Der 1909 publizierte Sammelband „Vechi“ („Wegzeichen“) steht für den damaligen Gesinnungswandel und die Abkehr von marxistischen Idealen eines Teils der intelligencija. Enttäuscht über die Wirkungslosigkeit ihrer eigenen Tätigkeit auf die Politik und Gesellschaft übten die Autoren einerseits Selbstkritik, andererseits verurteilten sie die gewaltsamen Umsturzversuche des Zarenregimes und rechneten mit dem revolutionären Teil der intelligencija ab. Sie warfen ihr vor, gescheitert zu sein und mit ihrer areligiösen, destruktiven und staatsfremden Haltung Russland in eine Sackgasse zu führen. In den „Wegzeichen“ skizzierten sie kein neues Programm für eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Zarenreich, sondern riefen zur Rückbesinnung auf und versuchten, die Rolle einer staatstragenden intelligencija neu zu interpretieren. Stellvertretend für alle Autoren des Sammelbands vermerkte der Literaturhistoriker Michail O. Geršenzon im Vorwort: „[Die Ideologie der russischen Intelligencija] steht nämlich in Widerspruch zur Natur des menschlichen Geistes, ist praktisch fruchtlos und führt nicht zu dem Ziel, das die Intelligencija selbst sich gesetzt hat – zur Befreiung des Volkes. […] Unsere Warnungen sind nicht neu: dasselbe hatten schon unsere tiefsten Denker von Čaadaev bis Solov’ev und Tolstoj unermüdlich immer wieder gesagt. Man hat sie nicht gehört, die Intelligencija hat sie links liegen lassen. Vielleicht beginnt sie jetzt, durch die große Erschütterung wach geworden, schwächere Stimmen anzuhören.“8

Der Bevölkerung boten sich deutliche Alternativen, wenn sie Veränderungen wollte, die nicht zu den Zuständen vor 1905 zurückführten. Die Linksliberalen strebten nach einer demokratischen Verfassung mit Parlamentarismus, wollten dies jedoch möglichst ohne Revolution erreichen und waren zu Kompromissen mit dem Zarismus bereit. Den Sozialisten der verschiedenen Schattierungen schwebte eine Selbstverwaltung von unten nach oben vor. Sie wollten die Zarenherrschaft stürzen, und die Radikalen unter ihnen dachten an eine Überführung der Revolution in Russland in eine Weltrevolution und an einen schnellen Übergang zum Sozialismus. In der Agrarfrage sahen alle die Notwendigkeit einer Landreform. Die Lösungsvorschläge schwankten zwischen einer Verstaatlichung und einer Übergabe des Bodens in Gemeineigentum, mit [<<52] unterschiedlichen Vorstellungen zur Entschädigung der Gutsbesitzer und zur privaten Nutzung durch die Bauern. In der sozialen Frage und in der Industriepolitik gingen die Flügel der Sozialdemokratie am weitesten auseinander. Das Ziel war – von den Bolschewiki am entschiedensten vertreten – eine planmäßige Lenkung der Wirtschaft und eine weitgehende Selbstbestimmung der Arbeiter. Selbstbestimmung war auch die Losung der Sozialdemokraten in der nationalen Frage. In den Vorstellungen zur Umsetzung gab es allerdings noch viele Unterschiede.

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